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Sibylle Thelen

Die Armenierfrage in der Türkei

Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2010 (Politik bei Wagenbach); 95 S.; 9,90 €; ISBN 978-3-8031-2629-0
Wenn es auch ein neues Klima der Offenheit in der Türkei gibt, sind doch noch immer starke Mächte im Lande vorhanden, die darüber wachen, dass über den dunklen Kapiteln der Vergangenheit der Mantel des Schweigens ruht. Wer ihn zu lüften versucht, muss, wie Thelen ausführt, weiterhin mit Einschüchterungen und strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Das prominenteste Opfer dieser Strategie wurde der im Jahr 2007 ermordete Journalist Hrant Dink, den die Autorin in diesem Essay immer wieder als Vorkämpfer für eine neue politische Kultur ins Feld führt. Dink hatte sich in seiner Arbeit dem vergessenen und verdrängten Leid gewidmet und damit seine Landsleute mit einem der größten Tabuthemen der modernen Türkei konfrontiert: der Massenvertreibung und -tötung der Armenier im Ersten Weltkrieg. Allein der erbittert geführte Streit um die Opferzahlen zeigt, welche politische Sprengkraft dem Thema innewohnt, denn die staatliche Geschichtsschreibung spricht von 300.000, die armenische Diaspora von bis zu 1,5 Millionen Toten. Doch unabhängig davon hat ein Teil der Verfolgten überlebt, nicht selten im Schutz türkischer Familien und durch das beharrliche Schweigen über die eigene Herkunft. Viele haben sich erst spät aus der Isolation gewagt; mit einigen hat Dink sich noch unterhalten können, und es sind diese persönlichen Geschichten, die deutlich machen, dass die Armenier als Teil der türkischen Kultur überlebt haben. Thelen sieht das genauso und greift diese Geschichten auf. In fünf Kapiteln zeichnet sie ein sehr plastisches Bild von der zivilgesellschaftlichen Entwicklung in der heutigen Türkei, wobei sie nicht nur den neuesten Stand der Forschung zum Thema umreißt, sondern sich zugleich auch mit dem offiziellen Geschichtsbild auseinandersetzt. Sie berührt dabei zwar immer wieder die Ebene des Emotionalen, führt aber keine Polemik oder Anklage, denn wie Dink weiß auch sie, dass sich Armenier und Türken nur gemeinsam aus dem Dunkel der Vergangenheit emporarbeiten und die Diskussion versachlichen können.
Michael Vollmer (MV)
M. A., Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, TU Chemnitz.
Rubrizierung: 2.63 | 4.1 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Michael Vollmer, Rezension zu: Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei Berlin: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/31981-die-armenierfrage-in-der-tuerkei_38138, veröffentlicht am 02.06.2010. Buch-Nr.: 38138 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken