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Gudrun Ensslin / Bernward Vesper

"Notstandsgesetze von Deiner Hand" Briefe 1968/1969. Hrsg. von Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009 (edition suhrkamp 2586); 293 S.; 12,- €; ISBN 978-3-518-12586-1
Bereits die Lektüre der ersten Seiten dieser Briefsammlung zeigt eindrücklich, dass man in kaum einem anderen Dokument der Entstehungsgeschichte der RAF so nah kommt wie in den hier erstmals vollständig veröffentlichten Briefen, die Vesper und Ensslin bis zu ihrer Freilassung und Flucht Mitte 1969 wechselten. Anfang 1968 verließ Ensslin Vesper und zog mit ihrem Sohn Felix zu Andreas Baader. Bald darauf brannten in Frankfurt zwei Kaufhäuser und Baader und Ensslin wurden verhaftet. Ein im Anhang abgedruckter Brief von Ensslin an Baader vom August 1968 lässt in seiner verhängnisvollen Vermischung von sich auflösender Körperlichkeit und todessehnsüchtiger Gewalt – oder mit Sigmund Freud, den Ensslin zu jener Zeit las: von Eros und Thanatos – den späteren Weg zur „Waffe Mensch” bereits erahnen: „Wir gehen grausam mit uns selbst um […]; und ein Ergebnis wird sein, daß wir mit jedem anderen genauso grausam und kalt verfahren. Viell. hat mir genau das gefehlt“ (263). Daneben steht das Verlangen nach Baader: „Ah, ein Schwerthieb, eine gutgezielte Kugel muß weniger sein als das, was ich spüre, wenn ich an Deine Nähe denke” (272) und: „Hell YES! Andreas, Praxis, Du sagt’s!” (273). Die Geschichte des deutschen Terrorismus war eben auch die Geschichte einer wahnsinnigen Liebe. Felix Ensslin, der heute älter ist als seine beiden Eltern, die er nie kennenlernen konnte, schreibt in einer bewegenden Nachbemerkung: „Es ist auch Wut und Hilflosigkeit, die im Lesen dieser Briefe mich anfällt [...] Wie verstiegen! Wie hilflos! Wie verzweifelt und brutal gegen sich und mich und andere”. Deshalb habe er das verführerische Angebot immer ausgeschlagen, „den Verlust durch Identifikation zu überwinden, mit dem heroischen Kampf der Revolutionärin”, die doch, wie man ihm schon als Kind mitgab, nur gewollt habe, dass alle Kinder eine gerechte Welt erben und nicht nur er. Ein Weg aber, „der unmittelbar zum Allgemeinen führen soll und das Besondere vergisst” (288), laufe in seiner Absolutheit eben auf eine Perversion der eigenen Ziele hinaus.
Timo Lüth (TIL)
Student, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.313 | 2.37 Empfohlene Zitierweise: Timo Lüth, Rezension zu: Gudrun Ensslin / Bernward Vesper: "Notstandsgesetze von Deiner Hand" Frankfurt a. M.: 2009, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/31401-notstandsgesetze-von-deiner-hand_37377, veröffentlicht am 15.12.2009. Buch-Nr.: 37377 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken