Dennoch: Der Mensch geht vor. Für eine Umkehr in Politik und Gesellschaft
„Wie ist denn der Mensch den Politikern verloren gegangen?“ (14), fragt die CDU-Politikerin Süssmuth und entwickelt von diesem Gedanken aus ihre Reflexionen über die Gesellschaft. Voran schickt sie die Vermutung, dass es keine allgemeine Politikverdrossenheit gibt, sondern Desinteresse und Unmut nur einer bestimmten Art und Weise gelten, wie Politik gemacht wird. Ihre Überlegungen zielen deshalb auf die Grundlagen, auf denen die Gesellschaft (einschließlich der Politiker) wieder untereinander ins Gespräch gebracht werden kann mit der Intention, die schleichende Vernachlässigung der menschlichen Belange zu stoppen. Dies verbindet Süssmuth mit dem Credo, dass man die Globalisierung nicht erleiden müsse, sondern gestalten könne. Zu den wichtigen Themen, die für die weitere Entwicklung der Gesellschaft entscheidend sind, gehören nach Süssmuths Ansicht die Emanzipation der Frau, verstanden als Gradmesser für die Selbstverwirklichung des Menschen, außerdem die Anerkennung der Realität einer multikulturellen Gesellschaft sowie vor allem eine Bildungspolitik, die allen Menschen eine Chance eröffnet – und nicht wie bisher 25 Prozent der Jugendlichen ohne Hoffnung zurücklässt. Süssmuths Forderung, nicht in Systemen, sondern vom einzelnen Kind her zu denken, sollte selbstverständlich sein. Eine Bildungsoffensive sollte ihrer Ansicht nach zum Ziel haben, den Menschen zum Umgang mit seiner Freiheit und seiner Entgrenzung zu befähigen. Mit Entgrenzung meint sie etwa die Anforderungen, die an die Mobilität eines Arbeitnehmers gestellt werden, den unbegrenzten Zugriff auf persönliche Daten oder auch die skandalisierende Darstellung von Personen in den Medien. Zu kritisieren sei der verkürzte, an ökonomischer Rationalität ausgerichtete Blick auf den Menschen. Süssmuth ergänzt ihre Überlegungen mit persönlichen Erfahrungen, auch aus ihrer Zeit als Bundesfamilienministerin in den achtziger Jahren. Sie will zeigen, dass nur eine offene, gesprächsbereite politische Kultur eine Gesellschaft ohne Ausgrenzungen entstehen lässt.