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Oliver Rathkolb

Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005

Wien: Paul Zsolnay Verlag 2005; 461 S.; geb., 25,90 €; ISBN 3-552-04967-3
Die Feststellung, dass in Österreich „eine Verschweizerung in den Grundmentalitäten eingetreten“ (46) sei, ist kein Kompliment. Auch das Selbstverständnis als geschlossene Kulturnation scheint nicht gerechtfertigt. Gerade aber die Widersprüchlichkeiten zwischen tatsächlicher und gefühlter Entwicklung interessieren Rathkolb, Professor in Wien und Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für europäische Geschichte und Öffentlichkeit. In zehn Längsstudien analysiert er die politische Kultur und die Demokratieentwicklung und zeigt damit die Leistungen und Irrwege der zweiten Republik. Dazu zählen eine als „Solipsismus“ (24) bezeichnete permanente Ichbezogenheit und ein extrem ausgeprägter Nationalstolz, der mit „einem negativ konnotierten Patriotismus“ (26) verbunden sei – sichtbar in starken Abgrenzungen gegenüber Immigranten und den negativen Einstellungen zu den slawischen Nachbarn. „Die diversen Wurzeln der heutigen Staatsgesellschaft im Vielvölkerstaat und in den Migrations- und Assimilationsprozessen der Jahrhundertwende bleiben meist akademischen Diskussionen vorbehalten“ (45), kritisiert Rathkolb. Auch hinsichtlich der Wirtschaftspolitik trennt er Mythos von Realität und verweist auf die Versäumnisse. Dazu zählt er den bewussten, antisemitisch motivierten Verzicht auf die Erfahrungen der Emigranten, deren Rückkehr unerwünscht gewesen sei; außerdem seien die Frauen auf dem Arbeitsmarkt systematisch benachteiligt worden. Weitere Themen sind die Kanzler in ihrer Bedeutung für die politische Kultur, die enge Medienlandschaft, in der Journalisten nur schwer ihrer demokratiepolitischen Aufgabe nachkommen könnten, sowie die lange vom Opfer-Mythos geprägte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Angesichts dieser überzeugenden Analyse verwundert es nicht, dass das politische System und die Verfassung nicht zu „den sicheren Orten auf der mentalen Identitätskarte“ (25) zählen. Als am wichtigsten für den Zusammenhalt ihres Landes nennen die Österreicher vielmehr „die soziale Grundversorgung“ (428).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.4 | 2.21 | 2.22 | 2.23 | 2.262 | 4.22 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Wien: 2005, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/24688-die-paradoxe-republik_28527, veröffentlicht am 25.06.2007. Buch-Nr.: 28527 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken