Skip to main content
Götz Aly

Die Belasteten. "Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2013; 348 S.; geb., 22,99 €; ISBN 978-3-10-000429-1
Auch wenn Begriffe wie „Erlösung“, „Lebensunterbrechung“ oder „Gnadentod“ (9) zwischen 1939 und 1945 die Euthanasiemorde an etwa 200.000 Menschen beschönigen sollten, liegen in ihrer Wucht doch die nie verstummenden Fragen vorformuliert, wann ein Leben lebenswert ist, ob menschliches Leben einen gesellschaftlichen Nutzen haben soll oder wer anhand welcher Kriterien über Tod oder Leben entscheidet. Der Historiker Götz Aly hat seine jahrzehntelangen Forschungen zur Euthanasie im nationalsozialistischen Deutschland gebündelt und neu aufgelegt mit der Forderung, „den lange vergessenen Opfern ihre Individualität und menschliche Würde wenigstens symbolisch zurückzugeben“ (10). Die Mehrdeutigkeit seines Titels vom Belastet‑Sein oder Zur‑Last‑Fallen verknüpft die „erblich oder psychisch Belasteten“ mit ihren Angehörigen, ihren Mördern, ihren Ärzten oder der historischen Forschung als auch eine Lasttragende. Eine der Kernaussagen seiner detailreichen Schilderung verweist auf das menschliche Band zwischen den Opfern und ihren Angehörigen, konnte doch das Interesse oder der Kontakt der Verwandten zu den psychisch Kranken, Behinderten oder Dementen deren Lebenschancen erhöhen. Ernüchtert beobachtet Aly aber eine mehrheitliche Zustimmung zum Töten in den Heil‑ und Pflegeanstalten, sei dies aus Motiven des schwierigen Umgangs oder der unsicheren materiellen Versorgung bei den Verwandten, zu Forschungszwecken oder aus dem Gedanken eines Gnadentodes bei den Ärzten und Psychiatern, aus der am allgemeinen Nutzen orientierten und ideologisch begründeten „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ heraus. Bezeichnungen wie „Aktion T4“ unter dem Siegel des „Reichsamtes für Heil‑ und Pflegeanstalten“ (46 f.) oder die Weigerung, das koordinierte Handeln in Gesetzesform zu gießen, verschleiern nicht den Unrechtscharakter. Aly listet akribisch Briefe und Stellungnahmen, Listen und Aktennotizen auf und scheut nicht das moralische Urteil, um das Wissen unter dem Deckmantel des Schweigens hervorzuholen.
Ellen Thümmler (ET)
Dr., Politikwissenschaftlerin, wiss. Mitarbeiterin, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.312 Empfohlene Zitierweise: Ellen Thümmler, Rezension zu: Götz Aly: Die Belasteten. Frankfurt a. M.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/246-die-belasteten_43795, veröffentlicht am 23.05.2013. Buch-Nr.: 43795 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken