Skip to main content
Paolo Prodi

Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat. Aus dem Italienischen von Annette Seemann

München: C. H. Beck 2003; 488 S.; Ln., 44,90 €; ISBN 3-406-49519-2
Prodi unternimmt in dieser beeindruckenden und von stupender Gelehrsamkeit zeugenden Studie den Versuch, das Thema der Gerechtigkeit nicht oder zumindest nicht nur ideengeschichtlich anzugehen, sondern sich die vielgestaltigen und teilweise konvergierenden, aber auch konkurrierenden Foren anzuschauen, in denen Gesetz und Macht auf die alltägliche Realität des Menschen trafen. Damit führt er seine Untersuchung auf die Ebene der Institutionen und der konkreten historischen Erfahrung, die er zentral durch die „dualistische Inkarnation des abendländischen Christentums" (14) geprägt sieht. Prodi arbeitet den hierin wurzelnden und für die Entstehung des modernen Staates sowie des staatlichen Rechts zentralen Dualismus zwischen Macht- und Sakralsphäre heraus und verfolgt dessen faszinierende und mehrdimensional verlaufende Entwicklung bis zur Genese des modernen Rechtsstates, wobei der Schwerpunkt im Zeitraum vom 15. bis zum 17. Jahrhundert liegt. Äußerst dicht und spannend ist zu verfolgen, wie der Machtanspruch der Kirche vor und nach der Reformation, aber auch der Machtanspruch des heraufkommmenden souveränen Staates mit seinem positiven Recht danach trachten, die Herrschaft über die „Gewissen" zu erlangen und zu sichern. Prodi zeigt dies beispielhaft am Institut der Beichte und der komplexen Binnenbeziehung sowie Ausdifferenzierung des Verhältnisses von Sünde und Straftat und deren Zuordnung zu den infrage kommenden kirchlichen und weltlichen Autoritäten. Man lernt in diesem Buch sehr viel über die Entstehung des modernen Rechtsstaates, dessen besserem Verständnis es auch aus Sicht des Verfassers dienen soll. Dazu gehöre aber nach Prodi eine historisch gesättigte Sensibilität für die latente Dialektik von Recht und Moral bzw. deren institutionellen Trägern sowie den Pluralismus jener normativen Ebenen und Foren, die als Erbstruktur des modernen Rechtsstaates fungierten und heute nicht zuletzt deswegen verloren gegangen seien, weil den Kirchen ihre Funktion als alternativer Ort und Autorität des Urteils über menschliches Handeln verloren gegangen sei.
Roland Lhotta (RL)
Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 5.1 | 5.44 | 5.3 Empfohlene Zitierweise: Roland Lhotta, Rezension zu: Paolo Prodi: Eine Geschichte der Gerechtigkeit. München: 2003, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/18641-eine-geschichte-der-gerechtigkeit_21621, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 21621 Rezension drucken