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Tony Judt

Nachdenken über das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork

München: Carl Hanser Verlag 2013; 412 S.; geb., 24,90 €; ISBN 978-3-446-24139-8
Wenn es gut läuft, werden etwa 250.000 Menschen dieses Buch lesen, überschlägt Tony Judt, „von denen die meisten sowieso unserer Meinung sind. […] Unser Gespräch ist also irgendwie bizarr. Wir lassen uns auf eine intellektuelle Unternehmung ein, die die Welt nicht erschüttern wird, machen es aber trotzdem.“ (330) Diese Feststellung ist kein Understatement oder gar Koketterie, sondern nur die ziemlich nüchterne Einschätzung eines erfahrenen Historikers und politisch engagierten Publizisten. Und obwohl Judt diesen Gedanken kurz vor seinem Tod 2010 formuliert, klingt auch keine Resignation durch – denn das Gespräch über Politik und Gesellschaft, wie sie sind und vielleicht sein sollten, ist ein produktives, soviel ist nach der Lektüre dieses Bandes sicher. Der britische Historiker Judt, der seit 1995 die Erich‑Maria‑Remarque‑Professur für Europäische Studien in New York innehatte, plante eigentlich, über die Ideen‑ und Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu schreiben. 2008 wurde bei ihm allerdings Amyotrophe Lateralsklerose, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, diagnostiziert, womit eine schwere Erkrankung und der Tod ihre Schatten vorauswarfen. So nahm Judt den Vorschlag des US‑amerikanischen Osteuropa‑Historikers Timothy Snyder an, sich der politischen Ideengeschichte in Gesprächen und in Verknüpfung mit seiner eigenen intellektuellen Biografie zu nähern. Folgerichtig rückt in den Kapiteln, die Snyder auf der Grundlage der gemeinsamen Gespräche verfasst hat, auch das Verhältnis zwischen Intellektuellen und der Politik immer wieder in den Mittelpunkt der Reflexionen – es sind die stärksten Passagen des Bandes. Während man (vielleicht gerade aus deutscher Sicht) ein Nachdenken über die intellektuellen Qualitäten faschistischer Denker vielleicht eher befremdlich findet (es stellt sich wenig überraschend als unergiebig heraus), sind etwa die Abschnitte über das Verhältnis jüdischer Amerikaner zu Israel, erzählt als irrationale Beziehungsgeschichte, oder über das peinliche Schweigen US‑amerikanischer Intellektueller zum Irak‑Krieg überaus aufschlussreich. Judts wiederholte Konzentration auf kommunistische und sozialdemokratische Ideen und Erfahrungen scheinen vor allem seinem eigenen, lebenslangen Forschungsinteresse geschuldet, für die Erklärung, was vom zwanzigsten Jahrhundert bleibt, stehen sie nicht mehr im Vordergrund. Eine der wirklich unerwarteten Entwicklungen sei vielmehr gewesen, dass der Liberalismus – „auf sehr verändertem institutionellen Fundament“ (395) – am Ende des 20. Jahrhunderts den Sieg davon getragen habe.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.1 | 5.1 | 2.22 | 2.61 | 2.63 | 2.64 | 5.42 | 5.43 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Tony Judt: Nachdenken über das 20. Jahrhundert. München: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/173-nachdenken-ueber-das-20-jahrhundert_43578, veröffentlicht am 28.03.2013. Buch-Nr.: 43578 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken