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Gerhard Schweizer

Indien und China. Asiatische Wege ins globale Zeitalter

Stuttgart: Klett-Cotta 2001; 285 S.; 21,50 €; ISBN 3-608-91975-9
An die Verheißungen eines globalen Dorfes glaubt der Kulturwissenschaftler Schweizer nicht. Er will vielmehr zeigen, dass Indien und China jeweils eigene Strategien entwickeln, um die Folgen weltweiter Verwestlichung zu bewältigen. Seine These ist, dass der indische und chinesische Versuch, modern zu sein, in völlig andere Richtungen führt als in Europa oder Nordamerika. Als Grund nennt Schweizer die vom Westen sich erheblich unterscheidenden religiösen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, von denen jede weitere Entwicklung ausgeht. Die Stärke dieses Buches liegt in dem reportagehaften Stil, in dem Schweizer von seinen zahlreichen Reisen nach Indien und China berichtet. Traditionen werden als unmittelbarer Teil des Alltagslebens geschildert, oftmals lässt Schweizer die Menschen in Indien und China für sich selbst sprechen. Dabei zeigt sich, dass Wertvorstellungen nicht auf ewig gegeben sind und nicht nur von den Regierungen definiert werden (wie es die Kommunisten in China versucht haben), sondern auch von einzelnen Menschen verändert werden können - wie zum Beispiel von jener gut ausgebildeten Inderin, die selbstbewusst einen Mann aus einer niedrigeren Kaste geheiratet hat. Diese Einzelbeispiele sind eingebettet in umfangreiche Erklärungen zum anderen Verständnis der Inder und Chinesen von Religion und Staat. Interessant sind auch die Verknüpfungen, die Schweizer zwischen den (religiösen oder philosophischen) Wertvorstellungen und dem praktischen Wirtschaftsleben herstellt. So sei die Industrialisierung in Indien beträchtlich gehemmt, da die nach wie vor strikte Trennung der Menschen in Kasten auch eine strikte Trennung vieler Arbeitsbereiche bedeute (180). In China dagegen stehe die kommunistische Regierung vor dem Problem, die Verdammung des Konfuzianismus aufgeben zu müssen, um der wirtschaftlichen Entwicklung neue Dynamik verleihen zu können: Viele der maßgeblichen Partner beim Aufschwung sind Auslandschinesen. Diese haben längst die starr hierarchische, traditionalistische Gesellschaftsstruktur als Fehlentwicklung eingestuft und sich auf die fortschrittlichen Elemente der konfuzianischen Tradition besonnen. Dazu gehören fleißiges Lernen, eiserne Disziplin und der berufliche Erfolg als hoher moralischer Wert. Möglich wird diese neue ideologische Flexibilität, weil es durchaus Gemeinsamkeiten zwischen marxistischer Ideologie und konfuzianischen Werten gibt, so in den Bereichen Religion und Wissen. Und im Zweifelsfall gelten im modernen China die Worte Deng Xiaopings: "Es ist egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse." (256) China und Indien stehen damit vor einem Widerspruch. Als Länder mit traditionsreicher Hochkultur lehnen sie zwar den westlichen Führungsanspruch als "kulturellen Imperialismus" ab, importieren aber gleichzeitig westliche Technologien und westlichen Lebensstil. Schweizer erinnert aber auch daran, dass die Entwicklung der westeuropäischen Länder zu Wohlstandsgesellschaften und Demokratie Jahrhunderte gedauert hat (15). Es fragt sich nur, ob die asiatischen Länder angesichts moderner Massenmedien und globaler Herausforderungen überhaupt viel Zeit haben.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.68 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Gerhard Schweizer: Indien und China. Stuttgart: 2001, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/16691-indien-und-china_19174, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 19174 Rezension drucken