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Erdem Özbek

Vom Laien zum Fundamentalisten. Radikalisierung als Identitätsfindung von Migranten

Marburg: Tectum Verlag 2011 (Sozialwissenschaften 50); 327 S.; pb., 29,90 €; ISBN 978-3-8288-2805-6
Diss. Frankfurt a. M.; Begutachtung: U. Apitzsch, L. Inowlocki. – „Ist jeder Muslim ein potenzieller Fundamentalist?“ (13) Diese Frage sei in der Forschungsliteratur bisher zumeist vor dem Erfahrungshintergrund einer diskriminierenden Gesellschaft untersucht worden, schreibt Özbek. Die Antworten sind seiner Ansicht nach aber unzureichend, biete ein Einwanderungsland wie Deutschland doch auch Chancen, die von anderen Migranten genutzt werden. Die Deutung also, dass eine Hinwendung zum religiösen Fundamentalismus erfolge, um die eigene Identität zu verorten und zu stärken und dies allein einer erfahrenen Fremdenfeindlichkeit geschuldet sei, greift also nach Özbeks Auffassung zu kurz. Darin sieht er sich bestärkt, weil in seinen Interviews die Befragten eine Diskriminierung nicht als Grund für ihre erhöhte Hinwendung zum Islam und seinen Lebensregeln nannten. Die Gesprächspartner sind Mitglieder der zweiten Generation, die mit den Eltern eingewandert oder bereits in Deutschland geboren sind, sie stehen im Mittelpunkt dieser Studie. Als wesentlichen Impuls für eine Fundamentalisierung arbeitet Özbek eine nicht ausreichend bewältigte Adoleszenzphase heraus, in der die Jugendlichen unter einem abwesenden Vater litten (der entweder mit ihnen zusammen ausgewandert war oder sie nachgeholt hatte, sich aber nicht um sie kümmerte) und dies in einem als fremdenfeindlich gefühlten Umfeld. Özbek entlastet damit nicht die deutsche Gesellschaft und ihre Versäumnisse bei der Integration zugewanderter Menschen, verwandelt jene aber (auch) in handelnde Subjekte. Die Untersuchung zeigt zudem, dass nicht jeder abwesende Vater verhindert, dass sich sein Sohn in die Gesellschaft integrieren kann. Nach Özbek ist dies vor allem dann der Fall, wenn der Sohn auch noch ein negatives Bild des Vaters gewinnt – was nicht unwahrscheinlich sei, da die Abgrenzung in der Pubertät, die in Europa als normal angesehen werde, in partriarchalen Strukturen eher zum Konflikt führe. Aus dieser ins Negative gedrehten Sozialisation folgt nicht nur die selbst vorgenommene und religiös begründete Abgrenzung aus der Gesellschaft, sondern unter Umständen auch noch, wie Özbek beispielhaft zeigt, ein negativ besetztes Frauenbild – die Heirat dient im schlechtesten Fall dem jungen Mann nur dazu, sich seiner Männlichkeit zu vergewissern. Im besseren Fall allerdings gewinnt er durch eine religiös lebende Frau und die mit ihr geteilte Zuwendung zum Islam innere Stabilität. Das religiöse Gefühl aber ist dennoch „auch die geweckte Vatersehnsucht“ (285).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.37 | 2.35 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Erdem Özbek: Vom Laien zum Fundamentalisten. Marburg: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/14517-vom-laien-zum-fundamentalisten_42390, veröffentlicht am 20.09.2012. Buch-Nr.: 42390 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken