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Carolin Emcke

Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2000; 360 S.; kart., 78,- DM; ISBN 3-593-36484-0
Phil. Diss. Frankfurt; Gutachter: A. Honneth. - Eine Demokratie muss sich mit Multikulturalismus und Pluralismus in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft auseinandersetzen, um ihre Grundlage des freien und gleichen Zugangs in den öffentlichen Meinungsbildungs- und politischen Entscheidungsprozeß zu gewährleisten, und zwar im Hinblick auf einzelne Individuen sowie kulturelle Vergemeinschaftungen: kollektive Identitäten. Um der einseitigen, zumeist auf die Forderung formaler Gleichstellung hinauslaufenden Anerkennungsdebatte mit der verkürzenden Berufung auf den Toleranz-Begriff zu entgehen, möchte sich die Autorin zunächst mittels einer Rekonstruktion der diesen Argumentationen zugrundeliegenden Konzepte kollektiver Identität auf die handlungstheoretischen, identitätsbildenden Voraussetzungen besinnen, um in einer systematisierenden Typologie die für die anschließende Begründung unterschiedlicher normativer Forderungen entscheidende Differenz kollektiver Identitätsbildungsprozesse herauszuarbeiten: intentionale, der Selbstbeschreibung entsprechende Ausbildung einer kollektiven Identität einerseits und nicht-intentionale, anhand der Fremdbeschreibung aufgezwungene Konstruktion kollektiver Identität andererseits. Diese genetische Perspektive soll eine (Re-)Substantialisierung von kollektive Selbstverständnisse ausbildenden Sinn- und Bedeutungshorizonten vermeiden und in der Komplementarität von Identität und Verletzung (: mittels sich in Institutionen verfestigender Fremdbeschreibung) angemessenere normative Folgerungen hervorbringen, die sich in dem Gebot der Gleichheit in Verschiedenartigkeit ausdrücken lassen. Rechtliche und soziale Anerkennung werden so an die Entstehungsbedingungen kollektiver Identitäten geknüpft und treten so als dynamischer, sich seiner historischen Voraussetzungen reflexiv immer wieder zu vergewissernder Prozeß in Erscheinung, der hegemoniale Bestrebungen nicht zuläßt. Der Kern der Argumentation liegt in der Vermeidung essentialisierender Beschreibung von kollektiven Identitäten. Das wird durch die intersubjektive Auffassung von Identitätsbildungsprozessen (individuell wie auch kollektiv) erreicht. Jedoch bleibt unter diesem Blickwinkel die für den Fortgang der Untersuchung entscheidende Differenzierung von Selbst- und Fremdbeschreibung sowie gewollter und erzwungener kollektiver Identität undurchsichtig, wenn trotz Formulierungen wie "voluntatives Selbstverständnis" (312) und "Autonomie" (269) eine Essentialisierung des ja letztlich "nicht gänzlich ausgehöhlten Identitätsbegriffs" (263) vermieden werden soll. Es muß darüber hinaus gefragt werden, innerhalb welchen Diskurses die Verständigung über die Anerkennung struktureller Verletzungen der Identität und, daran anschließend, die normativen Folgen stattfindet, d.h., aufbauend auf welchem moralischen Grundkonsens. Das Buch schöpft seine Aktualität aus der Systematisierung theoretischer Konzepte der Identitätsbildung (Rawls, Taylor, Sartre, Foucault), in teilweiser Anlehnung an Habermas, im Hinblick auf die Nutzbarmachung für ein normatives Konzept, das dynamischen kollektiven Identitäten in einer dynamischen Gesellschaft Rechnung tragen kann. Aus dem Inhalt: 1. Systematisierende Rekonstruktion der Debatte: 2. Modelle kollektiver Identitäten - eine genetische Rekonstruktion: 2.1 Modelle mit intentionaler, aktiver Reproduktion von Praktiken und Bedeutungen; 2.2 Modelle mit passiver, unreflektierter Identitätsbildung. 2. Entwurf einer Typologie kollektiver Identitäten: 4.1.3 Entstehung und Reproduktionsweise intentionaler Vergesellschaftungen: 4.1.3.1 Die individuelle Sozialisation in intentionale, selbst-identifizierte kollektive Identitäten; 4.1.3.2 Die aktive Reproduktion kultureller kollektiver Identitäten. 4.2.2 Verinnerlichung und Übernahme von ungewollten, verletzenden Zuschreibungen; 4.2.3 Die Relevanz von juridisch-politischen Klassifikationen/Beschreibungen im Prozeß der Konstruktion kollektiver Identitäten. 3. Normative Aussichten: 5.1 Verletzbarkeit als condition humaine; 5.2 Verletzungen und Konflikte im Kontext kollektiver Identitäten.
Dirk Märten (DM)
Rubrizierung: 5.42 | 2.23 Empfohlene Zitierweise: Dirk Märten, Rezension zu: Carolin Emcke: Kollektive Identitäten. Frankfurt a. M./New York: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11942-kollektive-identitaeten_14244, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 14244 Rezension drucken