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Fethi Benslama: Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt

24.09.2018
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
Berlin, Matthes & Seitz, 2017

Der Psychoanalytiker Fethi Benslama hat viele Jahre mit radikalisierten Jugendlichen in Pariser Vororten gearbeitet und befasst sich vor dem Hintergrund seiner praktischen Erfahrungen in seinem Buch mit den individualpsychologischen Faktoren der Radikalisierung von jungen Muslimen. Er geht von folgender Annahme aus: Wenn ein Individuum das Politische auf das Religiöse reduziert, entsteht psychologisch gesehen eine Tendenz zum Übermuslim.

Soziologisch stammen die Radikalisierten aus heterogenen Gruppen, so die Beobachtung des Autors, und wegen der Diversität können ihre Profiltypen kaum entwickelt werden (32). In sozialer und historischer Hinsicht fühlen sie sich entwurzelt und manche Ultra-Islamisten sind von dem Wunsch getrieben, sich im Himmel „wieder zu verwurzeln, da es ihnen auf der Erde versagt blieb“ (35) – semiologisch lässt sich das Wort Radikalisierung, so Benslama, auf die Wurzel zurückführen.

Einige Jugendliche, die Benslama behandelt hat, waren vor ihrer Radikalisierung begeisterte religiöse Muslime. Ihm ist aufgefallen, dass etwa zwei Drittel der Radikalisierten zwischen 15 und 25 Jahre alt sind. In diesem Alter befinden sie sich in einer Umbruchsphase, im Moratorium der Adoleszenz. In dieser Phase wird das Subjekt meist mit einem Bruch konfrontiert. Dieser Bruch kann die Kontinuität der Existenz eines Menschen bedrohen. Doch nicht alle, die „in den geächteten Vierteln leben“ (38), radikalisieren sich. Aber der geopolitische Kontext, die soziale Umgebung und die psychische Konfiguration können, so zeigt der Autor auf, wie eine Komprimierung mehrerer Voraussetzungen eine Radikalisierung hervorrufen.

Benslama stellt als allgemeines Phänomen dar, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Phase der Kindheit immer weiter verkürzt und die der Adoleszenz verlängert hat – die Reife wird immer mehr hinausgezögert, was ein Charakteristikum moderner Zivilisationen ist. (39) In der nun längeren Phase der jugendlichen Entwicklung wird die Identität umgeformt und in einer Gruppe, gar mit früheren Generationen, verwurzelt. Die jungen Menschen werden dabei von Idealvorstellungen getragen, die die Umbildungen der Identität überlagern und vom Normalen bis ins Pathologische variieren können. (40) Dabei kann der Wunsch nach einem besseren Leben zur Quelle von Exzessen und unsäglichem Terror werden.

Die islamistische Radikalisierung stellt also nach Schilderung des Autors ein „Identitätsproblem“ (41) dar: In der Jugendkrise werden die Kindheitsideale zersplittert und durch neue Ideale ersetzt. Wenn das Angebot der islamistischen Ideologen in der Phase der Ent- und Neuidealisierung stattfindet, kann ein Radikalisierungsprozess eingeleitet werden. Das neue islamistische Ideal wird als eine „göttliche Mission“ (46) aufgefasst. Ein radikalisierter Islamist, ein Dschihadist, tritt dem Identitätsmythos des Islamismus bei, erhält materielle und sexuelle Vorteile und wird mit „imaginärer Macht belohnt“ (49).

Für einen Übermuslim gibt es nur eine Politik: den Islam. Benslama konstatiert: „Das ist, jenseits der Vielfalt der Islamisten, der Geist des Islamismus.“ (69) Für den Islamismus gibt es nur die Theologie, die die „Angelegenheiten der Gemeinschaft der Gläubigen organisiert und leitet“ (70).

Mit dem Begriff Übermuslim bezeichnet der Autor eine „Zwangsvorstellung“, die den Muslim drängt, noch muslimischer zu werden, als er zu sein glaubt. Es geht demnach um das Verhalten eines Subjekts, das sich selbst vorwirft, vom Glauben abzufallen. Ein solcher Mensch wird zudem durch medienwirksame Prediger beeinflusst, die ihm moralische Vergehen vorwerfen. Der Vorwurf lautet, nur „Brennmaterial für die Hölle“ (83) zu sein. Dieses Subjekt wird aufgefordert, sich mit einem vorbildlichen Muslim und dem Propheten zu identifizieren. Dem Imperativ des Übermuslims zufolge muss jeder Muslim wieder so werden wie die Ahnen.

Der Übermuslim ist nach Benslama eine Diagnose des psychischen Lebens der Muslime, die vom Islamismus durchdrungen sind und von Schuldgefühlen geplagt werden. Diese Schuldgefühle verlangen von dem Gläubigen Buße und Reue ab. Der Übermuslim muss sich reinigen und ein Leben ganz in Übereinstimmung mit dem Koran führen. Die Grenzen zwischen dem tendenziellen und dem vollendeten Übermuslim sind in der Realität fließend, auch wenn das „Vorstadium häufiger ist als die tatsächliche Inkarnation des Übermuslims“ (84). Der Übermuslim will der Welt den Stolz seines Glaubens zeigen und bringt diesen durch öffentliches Kundtun zum Ausdruck, wenn er beispielsweise auf der Straße betet.

Benslama analysiert den Diskurs radikaler Islamisten, versucht diese zu verstehen, ohne sie zu legitimieren, und arbeitet das Motiv der „Kränkung des islamischen Ideals“ (10) heraus, von dem ein Ruf nach Wiedergutmachung und nach Rache ausgeht. Die Betrachtung einer solchen Überschneidung von Klinischem und Sozialem trägt seiner Ansicht nach zur Klärung der Gestalt des Übermuslims bei.

Dabei definiert derselbe Übermuslim, wer der wahre Muslim ist und wie der Aufbau einer ultrareligiösen Macht ausgerichtet sein muss. Die Öffnung der Gesellschaft stellt für den Muslim eine „Angst machende Gefahr“ (18) dar. Der Übermuslim kommt mit dem von ihm als chaotisch wahrgenommenen Zustand der globalisierten Welt nicht zurecht und glaubt, aus Liebe zu Gott zu töten.

Während Mörder ihre Verbrechen leugnen, macht der Islamist sein Massaker sichtbar, sogar mithilfe einer Körperkamera, wie in Toulouse. Welche Bedeutung die Nutzung der Medien für Dschihadisten hat, wird mit dem Slogan des islamistischen Ideologen al-Sawahiris deutlich: „Der mediatisierte Dschihad ist schon der halbe Kampf.“ (19)

Benslama erinnert daran, dass es falsch ist, davon auszugehen, dass Radikalisierung nur von den Unterschichten in den Banlieues ausgeht. Vielmehr hat sie längst die Mittelschicht erfasst. Der IS konnte für Syrien „Nicht-Gläubige und Jugendliche ohne Migrationshintergrund“ (32) rekrutieren. Männer und Frauen zogen in den Krieg und gründeten gleichzeitig eine Familie.

Der Übermuslim fürchtet die moderne Frau, so erläutert der Autor weiter, die aus dem Eingeschlossenen heraustritt. Die Islamisten empfinden die Freiheit der Frauen als eine schwere Bedrohung, weil ihr Dasein im öffentlichen Raum eine Unterwanderung der islamischen Theologie darstellt. Die soziale Sichtbarkeit des weiblichen Körpers ist im Islamismus wie die Existenz eines politischen Körpers ohne Religion. Darin liegt nach Benslama eine der Hauptursachen für die Erfindung des Islamismus als eine „antipolitische Utopie.“ (75)

Der Autor dieses lehrreichen Werkes spricht zudem von einem „Fatwa-Wahn“ (100) und geht auf das Todesurteil von Ayatollah Khomeini gegen den Schriftsteller Salman Rushdi, auf eine sexualisierte Fatwa gegen Micky Maus und auf die Fatwa des Stillens von erwachsenen Männern ein, die „Reaktionen zwischen Lachen und Bestürzung“ (104) hervorriefen. Letztere Fatwa ist, so die Interpretation des Autors, der Versuch, die Frau „mit einer wuchtigen Waffe des Inzestverbots zu entsexualisieren“ (105) – haftet dem Akt des An-der-Brust-Saugens doch eine Mutter-Kind-Beziehung an. Damit wird eine sogenannte Milchverwandtschaft begründet, die aufgrund des Inzestverbots eine sexuelle Beziehung ausschließt. So soll aus einer Frau eine Mutter gemacht werden, damit die Frau in der Öffentlichkeit, beispielsweise von Kollegen bei der Arbeit, nicht belästigt wird. Eine kritische Frage sei an dieser Stelle schon erlaubt: Wieso wird aus dem so kindisch-aggressiven Mann nicht endlich ein Erwachsener, der über Selbstkontrolle verfügt?

Benslama stellt heraus, dass diese Fatwa „den Sinn eines Schutzes vor der maßlosen Überreizung durch die Objekte“ (107) darstellt. Im Islamismus stellt die Frau die Intimität der Gemeinschaft der Gläubigen, der Umma, dar. In der archaischen Vorstellung des Islamisten kann eine Frau in die Gemeinschaft eindringen, wenn sie sichtbar wird. Die Frau, die nicht berührt werden darf, ist deshalb einerseits verboten, andererseits heilig – im Arabischen steht das Wort harim für beides. Benslama schreibt: „Was die Frau unberührbar macht, ist ihre Entsexualisierung durch das Mutterwerden, anders gesagt, ihre Angleichung an die Umma.“ (108)

Sofern die Frau ihre Mutterrolle verlässt, droht nach dieser Ideologie der Kreis der Gemeinschaft auseinanderzubrechen. Benslama geht einerseits auf die historische Dimension des Zerfalls des Prinzips der Gemeinschaft der Gläubigen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und andererseits auf das Sichtbarwerden des weiblichen Körpers im sozialen Raum ein: Beide Phänomene versetzen die Islamisten in Panik.

Der Autor bezeichnet die Entfesselung der Fatwa als die „Fatwa-Folie“ (112), die ein Beispiel für die religiöse Technologisierung darstellt, die der Islamismus massiv vorantreibt, um die Neuordnung des Begehrens in der Moderne zu kontrollieren. Die Fatwa des Stillens zielt auf das Hinaustreten der Frauen in die Welt der Arbeit. Das islamistische Ziel ist es, die Frau durch die Waffe des Inzestverbots zu kontrollieren: „Geschwungen wird die Waffe vom Übermuslim, der plötzlich inmitten einer Lehrinstitution des Islam aufgetaucht ist, die doch als gemäßigt gilt.“ (112) Benslama warnt, dass alle, die an die Mäßigung des Islamismus glauben, daraus ihre Schlüsse ziehen sollten.

Der Übermuslim kann, so der Autor, überall und jederzeit auftauchen, er kann verrückt und schrecklich zugleich sein. Da der Übermuslim die Frau als ein unkontrollierbares und totales sexuelles Objekt betrachtet, verfolgt er das Ziel, die Umma vor der Frau zu schützen.

Benslama betrachtet mit seinem Buch, das in einer theoretischen Sprache verfasst ist, die subjektive Seite der Radikalisierung aus psychoanalytischer Perspektive. Dabei stellt er die Radikalisierung als Symptom einer Adoleszenzkrise heraus und zeigt zudem, welche Bedrohung der Islamismus für die Freiheit der Frauen und der offenen Gesellschaft tatsächlich darstellt.

 

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Thomas Hegghammer (Hrsg.)

Jihadi Culture: The Art and Social Practices of Militant Islamists

Cambridge, Cambridge University Press 2017

Dass es bei Militanz und Kampfgeist nicht nur um Bomben und Doktrinen geht, sondern auch um Rituale und Bräuche, um Musikfilme und das Erzählen von Geschichten, um Sport und Essen, ist allen, die sich ausführlich mit der Propaganda des Islamischen Staates befasst haben, eigentlich klar. Dennoch bleiben diese Aspekte im akademischen Diskurs weitgehend ausgeblendet. Erhellt werden sie in dem Sammelband des norwegischen Dschihadismus-Experten Thomas Hegghammer. Er und sein Autorenteam befassen sich mit der Bedeutung von Poesie, Musik, Bildsprache und Literatur in der dschihadistischen Kultur.
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Olivier Roy

„Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“. Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors

München, Siedler Verlag 2017

Olivier Roy befasst sich mit den Hintergründen und Motivationen islamistischer Terroristen. Dabei folgt er seinem aus vorangegangenen Publikationen bekannten Argumentationsstrang, der die Bedeutung der Religion oder sozio-ökonomischer Probleme als überbewertet betrachtet und stattdessen auf psychologische Faktoren fokussiert. Für ihn sind islamistische Terrorakte nicht zwangsläufig aus der islamischen Lehre hervorgegangen. Die Täter „werden nicht radikal, weil sie bestimmte Texte falsch verstanden haben oder sie manipuliert wurden: Sie sind radikal, weil sie radikal sein wollen“.
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Aus der Wissenschaft

Nils Böckler et al.
Same but Different? Developmental Pathways to Demonstrative Targeted Atacks – Qualitative Case Analyses of Adolescent and Young Adult Perpetrtors of Targeted School Attacks and Jihadi Terrorist Attacks in Germany
International Journal of Developmental Science 12 (2018) 5-24

Vorgestellt wird eine Studie von mehreren Sozialwissenschaftlern über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen djihadistisch motivierten, terroristischen Einzeltätern und sogenannten School Shootern. Dabei zeigen sich bei den Tätern beider Fallgruppen Ähnlichkeiten in den Biografien und sozialen Mechanismen.



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