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Schutz vor Massendemonstrationen. Die eigentliche Aufgabe der Nationalgarde

15.12.2017
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Prof. Dr. Hannes Adomeit


National Guard of Russia 2017 03 27 03Zum Tag der der Nationalgarde Russlands wurde am 27. März 2017 ein Gala-Abend veranstaltet. Foto: The Russian Presidential Press and Information Office (via Wikimedia Commons)

 

Margarete Klein
Russlands neue Nationalgarde. Eine Rückversicherung für Putin gegen Massenunruhen und illoyale Eliten
Stiftung Wissenschaft und Politik SWP-Aktuell 55, August 2016

Mark Galeotti
National Guard. The Watchdog that Could Break the Leash
Raam op Rusland, 14. August 2017

Igor Torbakov
The Praetorian Guard of Putin Must Quell Internal Unrest
Raam op Rusland, 21. September 2017

Im April 2016 ordnete Präsident Putin per Dekret die Gründung einer Nationalgarde an. Das entsprechende Gesetz wurde von der Staatsduma und dem Föderationsrat im Juni verabschiedet und trat im Juli in Kraft. Nach derzeitigen Schätzungen beträgt ihre Anzahl zwischen 360 000 und 380 000 Personen. Das Rückgrat der „Rosgwardija“ bilden die vorher dem Innenministerium untererstellten „Inneren Truppen“ – eine paramilitärische Einheit mit einer Stärke von 170 000 bis 180 000 Mann. Hinzu kommen die ebenfalls mit Waffen ausgestatteten Sondereinheiten der Polizei, darunter die für die Auflösung von Massenprotesten zuständigen OMON-Kräfte (ca. 30.000 Personen) und die für die Terrorismusbekämpfung ausgebildeten OMSN/SOBR-Einheiten (4.000 bis 5.000 Personen). Ebenfalls der Nationalgarde angegliedert werden Verwaltungs- und Schulungseinrichtungen sowie das föderale Staatsunternehmen „Ochrana“, das Wach- und Schutzdienste für Privatpersonen und Unternehmen anbietet. Chef der Nationalgarde ist Viktor Solotow, einer der engsten Vertrauten Putins. Beide stammen aus dem KGB; sie kennen sich seit Anfang der 1990er Jahre. Als Putin 1999 Ministerpräsident wurde, machte er Solotow zum Leiter des Sicherheitsdienstes, praktisch seinem obersten Leibwächter − eine Aufgabe, die dieser 13 Jahre lang mit großer Hingabe erfüllte. Im Jahre 2013 ernannte Putin ihn zum Oberkommandierenden der inneren Streitkräfte, die er nun als Kernstück in die Nationalgarde einbringt.

Putin zufolge ist die Schaffung der neuen Sicherheitsorganisation notwendig, um den Terrorismus wirksamer bekämpfen zu können. Wie Margarete Klein, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, schreibt, gehört Russland tatsächlich zu den Ländern, die mit am stärksten von terroristischen Anschlägen betroffen sind. Seit den Tschetschenien-Kriegen der 1990er und 2000er Jahren hätte sich vor allem der Nordkaukasus zu einem Unruhegebiet entwickelt, in dem und aus dem heraus zahlreiche Terrorakte verübt würden. In den letzten Jahren seien jedoch Tausende von islamistischen Kämpfern nach Syrien gezogen, die nach den militärischen Rückschlägen des IS wieder in den Nordkaukasus zurückkehren könnten. Wenn auch die Bekämpfung des Terrorismus eine zentrale Herausforderung für Russland darstelle, so Klein weiter, ergebe sich daraus keine hinreichende Begründung, um eine Nationalgarde zu schaffen. Zu diesem Zweck hätten genauso gut unter dem Dach des Innenministeriums die „Inneren Truppen“ und die Sondereinheiten der Polizei aufgestockt werden können. Vor allem bedürfe es zur Terrorismusbekämpfung eigener Aufklärungs- und Ermittlungsbefugnisse, über die die Nationalgarde – anders als Polizei und Inlandsgeheimdienst FSB – nicht verfügten.

Die eigentliche Aufgabe der Nationalgarde, so vermutet Klein, sei wohl der Schutz vor möglichen Massendemonstrationen. Diese Einschätzung teilen Galeotti und Torbakov, beide wissenschaftliche Mitarbeiter, der eine am Institut für Internationale Beziehungen in Prag, der andere in Helsinki. Seit den „Farbrevolutionen“ der 2000er Jahre und dem „Arabischen Frühling“ 2011 sowie den Massenprotesten in Moskau und Sankt Petersburg gegen Wahlmanipulationen im Herbst 2001 und Frühjahr 2012 werde der Sicherheitsdiskurs des Kremls von der Sorge dominiert, es könnte zu einem „russischen Maidan“ kommen.

Diese Interpretation wird durch Ausführungen des ehemaligen Generalstabschefs Jurij Balujewskij bestätigt, der derzeit Chefberater für Solotow ist. In einem richtungsweisenden Artikel in der Militärzeitschrift „Nesavissimoje woennoje obosrenie“ (Unabhängige Militärumschau) vom 26. Mai 2017, aus dem Torbakov zitiert, ist zu lesen, dass „das Ziel der Kriege im 21. Jahrhundert nicht die Besetzung von Territorien sein wird, sondern die Unterordnung des Staatsapparates und die Bildung eines Systems externer Kontrolle der Bevölkerung, die auf diesen Territorien lebt“. Balujewskij zufolge planten die „transatlantischen Strategen“, inländische gewaltlose Proteste in feindlichem Territorium als Teil der Kriegsführung zu entfachen. „Wenn das so ist“, fährt er fort, „ist es notwendig, uns gegen Massenaufstände in den Straßen unserer Städte zu verteidigen und derartige Verteidigung als [Teil] der Kriegführung zu betrachten. Der Staatsstreich in Kiew [im Februar 2014] war natürlich einer der Gründe für die Schaffung der Truppen der Nationalgarde in Russland […] und ist die Antwort auf die Herausforderung für unsere Gesellschaft, die aus der Bedrohung durch die Methode des sogenannten gewaltfreien Widerstandes hervorgeht, die richtiger aber Farbrevolution genannt werden sollte.“ Die jahrhundertealte Geschichte Russlands habe bewiesen, dass das Land nicht von außen besiegt werden kann, schließt Balujewskij. „Die Hauptbedrohungen für Russland kommen nicht von außen, sondern von innen. Wir müssen bereit sein, Bedrohungen von innen zu verhindern.“

Klein weist darauf hin, dass darüber hinaus Putin mittels der Nationalgarde im Falle eines Konflikts mit oder unter Teilen der Machtelite unmittelbaren Zugriff auf eine ihm loyale paramilitärische Organisation habe. Zudem stärke schon allein der Prozess der Umverteilung von Befugnissen und Ressourcen, der mit ihrem Aufbau verbunden ist, Putins Position als oberster Schiedsrichter. Sowohl Galeotti als auch Torbakov stellen allerdings fest, dass Prätorianergarden nicht unproblematisch sind. Im antiken Rom beispielsweise sollte die Garde dem Schutz des Kaisers dienen, sie mischte sich aber kräftig in die Politik ein und war sogar an einigen Morden des Imperators mitbeteiligt. Die uralte Frage stelle sich auch in Russland, wer die Kontrolleure kontrolliert. Nicht auszuschließen sei, dass sich die Nationalgarde mittel- bis langfristig zu einem, wie Galeotti schreibt, „Wachhund“ entwickelt, der „sich von der Leine reißt“.

Was bedeutet der Aufbau der Nationalgarde, ihre Weiterentwicklung und potentielle politische Rolle für deutsche und europäische Politik? Eine der Antworten hält Klein parat: Auch wenn externe Akteure nur geringe Möglichkeiten hätten, auf innere Entwicklungen im Lande einzuwirken, müssten die innenpolitischen Determinanten russischer Außenpolitik stärker als bisher berücksichtigt werden.

 

Der Text ist erschienen in SIRIUS - Zeitschrift für Strategische Analysen, Heft 4, Dezember 2017

 

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