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Sinn und Unsinn von Minderheitsregierungen. Was können wir vom Norden lernen?

15.01.2018
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apl. Prof. Dr. Sven Jochem

Det danske parlament2Für eine Mehrheit im dänischen Parlament, dem Folketinget, sind 90 Mandate erforderlich. Um seine Ein-Partei-Minderheitsregierung auf eine breitere Basis (von 34 auf 53 Sitze) zu stellen, ist Dänemarks Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen im November 2017 ein bürgerliches Bündnis mit der konservativen Volkspartei und der Liberalen Allianz eingegangen. Foto: Job & Magt /Johan Wessman (Wikimedia Commons)

 

ines ist unstrittig: Minderheitsregierungen stärken das Parlament, genauer gesagt: die Oppositionsparteien. Unstrittig ist ferner, wie es Roland Czada (2017) und Eva Krick (2017) pointiert hervorheben, dass die bundesdeutsche Politik durch ein sich zusehends ausdifferenzierendes Parteiensystem in der föderalen Politikverflechtung bereits mit vielfältigen und zahlreichen sich aus dieser Situation ergebenden Verhandlungsnotwendigkeiten konfrontiert ist; die maßgeblichen Parteien der deutschen Verhandlungsdemokratie haben also die Routinen eines stetigen Interessenausgleichs fraglos sehr gut internalisiert. Kompromisse sind über Partei- und Lagergrenzen bei politischem Willen und ohne strategische Blockadeinteressen jederzeit denkbar. Deshalb ist es ebenso unstrittig, dass sich die AfD kaum als Zünglein an der Waage zwischen zwei konkurrierenden politischen Blöcken würde generieren können (wenn die Fraktionsdisziplin bei den Parteien stark bleibt), dies zu verhindern wären die anderen Parteien aufgrund ihrer verhandlungsdemokratischen Routinen durch Kooperationen mit einer – aller Wahrscheinlichkeit nach – von der Union geführten Minderheitsregierung bereit.

Ist also deshalb eine Minderheitsregierung in Deutschland in 2018 nicht nur machbar, sondern sogar sinnvoll? Liegt hier geradezu der strategische Königsweg für die SPD, die mitbestimmen dürfte, ohne mit einem Malus des Regierens bestraft werden zu können? Und legen uns die nordischen Länder mit ihren zahlreichen Minderheitsregierungen nicht tatsächlich ein beredtes Zeugnis davon ab, dass das Regieren ohne Mehrheit nicht nur stabil sein kann, den Parlamentarismus wiederbelebt, sondern zudem auch eine wohlfahrtsmehrende Politik ermöglicht? Die Formen und Dynamiken nordischer Minderheitsregierungen dienen uns aber vielmehr als Beispiele für die anspruchsvollen institutionellen Bedingungen sowie für den strategischen Sinn und Unsinn des Regierens ohne parlamentarische Mehrheit.

Erstens haben die nordischen Demokratien Institutionen des negativen Parlamentarismus, die in Deutschland fehlen; eine Minderheitsregierung ist in Deutschland zwar nicht unmöglich, sie ist allerdings für die Regierungspartei (oder Regierungskoalition) ohne eigene Mehrheit riskant. Edgar Grande (2014) hat die institutionellen Grundlagen und Herausforderungen des Regierens ohne Mehrheit systematisch aufgezeigt. Nach seiner Differenzierung gibt es institutionelle Rahmenbedingungen, um in eine Minderheitsregierung hinein-, und auch institutionelle Rahmenbedingungen, um aus eben dieser Position wieder herauszukommen. In Deutschland kann zwar durch die Hintertür des Artikels 63,4 GG und mit der – fraglichen – Zustimmung des Bundespräsidenten eine Minderheitsregierung die Regierungsgeschäfte übernehmen. Wenn es also insofern in der deutschen Demokratie eine milde Form des negativen Parlamentarismus gibt, so ist doch die Exit-Option für eine etwaige Minderheitsregierung in Deutschland weniger reibungslos begehbar als im Norden.

Mit Ausnahme Norwegens können die Minderheitsregierungen in Dänemark und Schweden immer dann das Parlament auflösen, wenn sich die Opposition gegen die Regierung verschwört und Gefahr droht, dass die Opposition die Regierung am Nasenring durch die parlamentarische und mediale Arena zieht. Damit haben die Minderheitsregierungen in Dänemark und Schweden ein sehr mächtiges Disziplinierungsinstrument in ihren Händen, nämlich die reibungslose Parlamentsauflösung. Es verwundert nicht, dass in Norwegen, also dem Land, in dem die Regierung das Parlament nicht auflösen kann, die Verhandlungen im Vorfeld von Regierungsbildungen in jüngster Geschichte sehr intensiv geführt wurden und gegenwärtig noch werden. So wählten die Norwegerinnen und Norweger bereits am 11. September 2017 ihren Reichstag – und auch im Januar 2018 verhandeln die beiden Regierungsparteien ohne Mehrheit, die Konservative Partei sowie die radikal-nationalistische Fortschrittspartei, immer noch mit den Unterstützungsparteien der vergangenen Legislaturperiode, den Liberalen und den Christdemokraten, über die Bildung einer formalen Mehrheitskoalition. Mit anderen Worten: Minderheitsregierungen sollten nicht nur reibungslos zu bilden sein, die Minderheitsregierung sollte auch zügig und autonom das Parlament auflösen können. Just hier irren Grande (2014) und Czada (2017), wenn sie es als positive Ressource einer etwaigen Minderheitsregierung in Deutschland ansehen, dass diese schwer aus dem Amt zu wählen wäre. Genau andersherum wird aus der Perspektive der – permanent verletzlichen – Minderheitsregierung ein Schuh daraus: Weil die Regierung keine verfassungsrechtlich unproblematische Exit-Option unmittelbar in ihren Händen hat, steigt das Risiko einer möglichen Erpressung der Exekutive durch eine geeinte Opposition an.

Die nordischen Minderheitsregierungen zeigen, dass die Exekutive mitunter ein großes Maß an stoischer Gelassenheit und Demut aufbringen muss. Bereits in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren diktierte die von der Sozialdemokratie angeführte Opposition dem damaligen dänischen Ministerpräsidenten Poul Schlüter und seiner Mitte-Rechts-Minderheitskoalition weite Teile der Innen- und Europapolitik – insgesamt 108 parlamentarische Niederlagen erlitten diese Minderheitsregierungen, ohne dass Schlüter jedoch das Parlament auflösen ließ. Und 2014 durfte die neue rot-grüne Minderheitskoalition in Schweden eine herbe Niederlage einstecken, musste sie doch ihre Amtszeit mit einem Haushalt beginnen, den ihr die Opposition aufzwängte. Solche Erfahrungen tragen dazu bei, dass im Norden Minderheitsregierungen keineswegs einen guten Ruf haben. Spätestens seit den 1990er-Jahren, als nach Dänemark auch Schweden und Finnland der EU beitraten und sich die europäische Integration stetig vertiefte, werden Minderheitsregierungen kaum mehr als anzustrebende Lösung angesehen, auch nicht in Norwegen, das zwar nicht Mitglied in der EU, aber sehr eng an deren Integrationsschritte angebunden ist. Warum Minderheitsregierungen im Norden gegenwärtig nicht als Ziel angestrebt werden, ist aber nicht nur institutionell zu erklären, sondern hierfür müssen die Strategien der Parteien als Erklärung mit herangezogen werden.

So werden zweitens die Bedingungen und Formen von Minderheitsregierungen entscheidend von der Logik des Parteienwettbewerbs und den parteispezifischen Strategien der Parteien geprägt. Im Norden waren Minderheitsregierungen in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem bei den sozialdemokratischen Parteien beliebt. Sie hatten deutlich mehr als 40 Prozent der Sitze, waren also hegemonial im Parteienwettbewerb, ohne sie war Regieren im Norden kaum vorstellbar. Diese hegemonialen Parteien nahmen sich nach dem Motto „divide et impera“ die Freiheit, ihre administrative Macht nicht mit kleinen Parteien teilen zu müssen und gleichzeitig die Opposition zu spalten. Sie bildeten substanzielle Minderheitsregierungen (Strøm 1990), das heißt sie suchten sich die parlamentarische Unterstützung bei unterschiedlichen Parteien. Diese substanzielle Form der Minderheitsregierung ist aber Geschichte.

Im Norden existieren derzeit sogenannte formale Minderheitsregierungen (Strøm 1990), also Minderheitsregierungen, bei denen die unterstützende Partei feststeht; die Verhandlungsnotwendigkeiten und Vertrauensgrundlagen sind in Tolerierungsverträgen festgeschrieben, die durchaus Koalitionsverträgen ähnlich sind (und in Dänemark oft im Laufe der Legislaturperiode aktualisiert werden). In diesen Tolerierungsverträgen werden Punkte festgehalten, die in der Legislaturperiode umgesetzt werden sollen, strittige Projekte werden eventuell außerparlamentarischen Gremien zugewiesen, in denen gesellschaftliche Akteure zusammen mit den Parteien über Lösungsvorschläge beraten (diese Verhandlungsergebnisse müssen aber gleichwohl durch das parlamentarische Nadelöhr der absoluten Mehrheit gelangen, die Tolerierungspartei nimmt also weiterhin eine mächtige Vetoposition ein). Reformvorhaben werden bei unsicheren Mehrheiten mitunter vor das Volk gebracht (was eher seltener geschieht) oder in die Zukunft verschoben, was gegenwärtig in Schweden sehr deutlich zu beobachten ist.

Warum gründen die Parteien des Nordens also keine Mehrheitskoalitionen? Vor allem strategische Überlegungen in einem zusehends in zwei Lager getrennten Parteienwettbewerb sind die Ursache. In Norwegen will die Koalition aus Konservativer Partei und radikal-nationalistischer Fortschrittspartei endlich ihre Unterstützungsparteien, die Liberalen und Christdemokratien, offiziell in eine Regierungskoalition einbinden. Die Christdemokraten allerdings möchten nicht mit den Radikal-Nationalisten den Kabinettstisch teilen; gleichzeitig möchten sie und alle anderen bürgerlichen Parteien aber vor allem eines verhindern: eine weitere Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten. Dafür schlucken die Liberalen und Christdemokraten die Kröten einer zusehends radikal-nationalistischen, chauvinistischen Politik im Land.

In Dänemark ist die Mitte-Rechts-Minderheitskoalition unter der Führung der Liberalen Partei von der Unterstützung der radikal-nationalistischen Dänischen Volkspartei abhängig. Dieses Muster der Unterstützung ist seit Beginn der 2000er-Jahre bei bürgerlichen Minderheitsregierungen stark formalisiert worden und jetzt gut eingeübt. Warum verbleibt die Dänische Volkspartei offiziell in der Opposition? Sie kann so die Politik maßgeblich mitbestimmen, entzieht sich aber gleichzeitig jeglicher Kritik an der Regierung. Sie bestimmt mit und „nörgelt“ weiter herum, sie hat Macht, scheut aber demokratische Verantwortung. Kristian Thulesen Dahl, Vorsitzender der Dänischen Volkspartei, bemerkte hierzu lakonisch und demokratietheoretisch durchaus diskussionswürdig: Man solle nur nicht annehmen, dass man in der Regierung mehr Einfluss habe als in der Opposition (Jungar 2017: 81). Die Rationalität einer Minderheitsregierung für die Dänische Volkspartei liegt demnach klar auf der Hand, denn Radikal-Nationalisten in Regierungsverantwortung leiden an der Notwendigkeit zu Kompromissen und der damit notwendig einhergehenden Anerkennung politischer Realitäten (wie gerade in Finnland und in Norwegen zu beobachten ist). Aber warum machen das die dänischen Regierungsparteien mit? Sie wollen alle – wie ihre Schwesternparteien in Norwegen – nur eines verhindern: eine erneute Regierung unter der Führung der Sozialdemokratie; deshalb nehmen sie den Einfluss der Radikal-Nationalisten und ihre Macht ohne Verantwortung billigend in Kauf.

Die rot-grüne Minderheitsregierung in Schweden ist abhängig von der Opposition, die radikal-nationalistischen Schwedendemokraten sind das Zünglein an der Waage im Wettbewerb zweier bislang unversöhnlich gegenüberstehender Lager. Die Sozialdemokratie versucht die parlamentarische Sackgasse – mit wechselndem Erfolg – aufzulösen, indem sie die Mitteparteien für eine Zusammenarbeit zu gewinnen sucht. Die konservative Partei Schwedens wählte eine andere Strategie, sie probte den Tabu-Bruch einer Annäherung der Partei an die Schwedendemokraten – dieser Versuch kostete der Parteivorsitzenden Anna Kinberg Batra allerdings ihren Job. Die Schwedendemokraten werden – im Gegensatz zu den radikal-nationalistischen Parteien Dänemarks, Norwegens oder Finnlands – weiterhin von den anderen Parteien in einem cordon sanitaire eingehegt. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob diese Strategie erfolgreich sein wird – 2018 wird in Schweden der Reichstag gewählt.

Welche Lehren lassen sich für die deutsche Debatte also aus den nordischen Erfahrungen ziehen? Erstens sind die institutionellen Rahmenbedingungen in Deutschland nicht so vorteilhaft ausgebildet wie im Norden. Vor allem eine rasch umsetzbare Exit-Option für eine Minderheitsregierung fehlt im Grundgesetz. Damit wäre es für die Regierung höchst riskant, sich auf eine substanzielle oder auch formelle Minderheitsregierung einzulassen.

Das hohe Loblied substanzieller Minderheitsregierungen in der deutschen Debatte entbehrt zweitens eines empirischen Rückhalts. Seit Langem sichern sich die nordischen Minderheitsregierungen mit festen Unterstützungsparteien vor der Unsicherheit des Regierens in einem europäischen Mehrebenensystem ab. Wir sollten in Deutschland nicht die intellektuelle Promiskuität der Parteieliten überschätzen. Die Fraktionsdisziplin ist weiterhin hoch und wird auch von den Fraktionsmitgliedern eingefordert. Wer ein reines Entscheiden von Sachfragen in Deutschland befürwortet, der möge für eine direktdemokratische Entscheidungsfindung plädieren oder gleich eine Abschaffung organisierter Parteien in den Parlamenten fordern. Ein Hegemon ist im deutschen Parteienwettbewerb nicht auszumachen. Ein Hegemon im Parteienwettbewerb wäre aber vor allem in der Lage, die strategischen Entscheidungen umzusetzen und gleichzeitig die Oppositionsparteien durch strategisches Handeln zu spalten.

„Lasst doch die Minderheit regieren!“ (Hank 2017) ist demokratietheoretischer Unsinn und offenbart realpolitische Naivität. Würde denn das Parlament gestärkt? Nein, die Oppositionsparteien werden durch Minderheitsregierungen gestärkt. Wer aber meint, im Norden seien die Parlamente bei Minderheitsregierungen große Foren einer habermasianischen Verneigung vor dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (wie es Jürgen Habermas für seine deliberative Demokratietheorie so schön auf den Begriff bringt), dem sei nur dringend empfohlen, die TV-Serie „Borgen“ zur Funktionsweise der dänischen Demokratie aufmerksam zu betrachten – oder die empirischen Analysen von Flemming Juul Christiansen und Helene Helboe Pedersen (2014) zur Kenntnis zu nehmen, die am dänischen Beispiel zeigen, dass bei Minderheitsregierungen das sogenannte log-rolling dominiert, also der gegenseitige Austausch von Policy-Zielen, kaum der Kompromiss. Der gegenseitige Abgleich von Policy-Zielen findet bei Minderheitsregierungen zudem nicht im Parlament statt, sondern hinter verschlossenen Türen und mündet mitunter in ganz profane Tauschgeschäfte.

Somit lassen sich die nordischen Minderheitsregierungen der jüngsten Geschichte vorwiegend aus parteistrategischen Gesichtspunkten erklären. Es gilt für die bürgerlichen Parteien als oberstes Ziel, die Sozialdemokratie von der Regierung fernzuhalten. Für dieses Ziel sind die bürgerlichen Parteien in Dänemark und Norwegen bereit, einen radikal-nationalistischen Preis der Schließung dieser Gesellschaften zu zahlen. In diesen beiden Ländern findet die Kooperation zudem in einem politischen Lager statt, im bürgerlichen Lager, in dem die radikal-nationalistischen Parteien akzeptiert wurden. In Schweden kann im Gegensatz dazu beobachtet werden, wie hilflos der Parteienwettbewerb eine Minderheitsregierung machen kann, wenn die Radikal-Nationalisten im Parteienwettbewerb geächtet und keine über die Lager hinausgehenden Kooperationen gefunden werden können.

Just an diesem Punkt wird schließlich die Problematik der deutschen Debatte offensichtlich: Was sollte eigentlich mit einer Minderheitsregierung verhindert oder erreicht werden? Die Rationalität für die SPD als eine Unterstützerin einer wie auch immer beschränkten formellen Minderheitskoalition („KOKO“) oder als eine von mehreren Oppositionsparteien in einer substanziellen Minderheitskoalition liegen auf der Hand. Sie könnte wie die Dänische Volkspartei mitbestimmen, ohne verantwortlich gemacht zu werden. Aber was gälte es denn aus der Sicht der Partei mit Exekutivverantwortung zu verhindern? Wofür würde die Union diesen Preis einer potenziellen Verletzbarkeit zahlen? Kurz: Die These, dass „auf absehbare Zeit keine Mehrheitskoalition in Deutschland möglich“ (Stecker 2017) sei, ist empirischer Unsinn. Es gibt große programmatische Überschneidungen zwischen Union und SPD und anderen Parteien. Wer für eine Minderheitsregierung plädiert, sollte deutlich machen, welchen strategischen Mehrwert eine solche Regierungsweise nicht nur für die Oppositionsparteien, sondern vor allem für die Minderheitsregierung haben sollte. Wer sollte denn von einer Regierungsbeteiligung ausgeschlossen werden?

Gerade Politiker in Schweden bewundern immer mehr die Großen Koalitionen in Deutschland (Wolff 2017). Denn durch die Kooperation der großen Mitteparteien wird in ihrer Wahrnehmung der Einfluss von radikal-nationalistischen Parteien zumindest gemildert. Ist es verwerflich, wenn Mitte-Parteien regieren? Eine Koalition aus Union und SPD wäre nach der jetzigen Koalitionsarithmetik auch kaum mehr als „Große“ Koalition zu bezeichnen, sie würde eher einer minimal-winning-coalition ähneln. Und letztlich wird doch keiner ernsthaft glauben wollen, dass die Volkspartei SPD von ihrem Schicksal abnehmender Unterstützung dadurch errettet werden könnte, dass sie in der Opposition Einfluss auf die Politik nähme. Ein kurzer Blick ins europäische Ausland zeigt, dass die Volksparteien der Mitte, die Christdemokraten sowie die Sozialdemokraten, überall an Rückhalt bei den Wahlen verlieren, egal ob sie mit Regierungsverantwortung oder als Oppositionsparteien in den Wahlkampf ziehen.

„The word majority does not refer to numbers, and it does not refer to power. It refers to influence” (Baldwin 1961: 216). Die Worte des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin machen darauf aufmerksam, dass die reine Koalitionsarithmetik über die wahre Herausforderung demokratischer Politik hinwegtäuscht. Es kommt doch gegenwärtig darauf an, für Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit – von der Rente bis zur europäischen Integration, vom Frieden in der Welt bis hin zum Zusammenleben in heterogenen und zunehmend zentrifugalen Gesellschaften – in der Öffentlichkeit zu werben, zu überzeugen. In diesem Sinne türmen sich die Aufgaben vor der deutschen Politik auf, gilt es doch postdemokratische Tendenzen umzukehren und die zunehmende materielle Ungleichheit, das Kernproblem demokratischer Atrophie, wirksam zu mildern. Nicht nur die Kanzlerin sollte in diesen Fragen „Farbe bekennen“ (Czada 2017). Das demokratische Selbstverständnis offener Gesellschaften gilt es zu konkretisieren, zu bewahren und gegenwärtig vor allem zu verteidigen, egal welche Koalition mit welcher Mehrheit regiert.


Literatur

Baldwin, James, 1961: In Search of a Majority: An Address, in: ders. Nobody Knows my Name. More Notes of a Native Son, New York: Dial Press, S. 215-221.

Christansen, Flemming Juul / Pedersen, Helene Helboe, 2014: Minority Coalition Governance in Denmark, in: Party Politics 20 (6), S. 940-949.

Czada, Roland, 2017: Dann müsste auch die Kanzlerin Farbe bekennen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.11.2017, S. 11.

Grande, Edgar, 2014: Wie alternativlos ist die Große Koalition in Deutschland? Zur politisch-institutionellen Logik von Minderheitsregierungen, in: der moderne staat 7 (1), S. 237-248.

Hank, Rainer, 2017: Lasst doch mal die Minderheit regieren!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.12.2017 (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/lasst-doch-mal-die-minderheit-regieren-15321696.html).

Jungar, Ann-Cathrine, 2017: Populism i Norden. Från marginalen mot den politiska mittfåran, Helsiki: AGENDA (http://tankesmedjan.fi/Site/Data/2477/Files/Populism_web.pdf).

Krick, Eva, 2017: Die Demokratie beleben. Norwegen. Teuer, instabil, nichts für Deutschland? Über Mythen rund um die Minderheitsregierung – Ein Denkanstoß aus dem Norden Europas, in: der freitag v. 6.12.2017 (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-demokratie-beleben).

Stecker, Christian, 2017: Warum die Minderheitsregierung verpönt ist – und trotzdem sinnvoll ist (Interview), in: Süddeutsche Zeitung vom 23.11.2017 (http://www.sueddeutsche.de/politik/regierungskoalition-als-ausweg-bleibt-nur-die-minderheitsregierung-1.3758568).

Strøm, Kaare, 1990: Minority Government and Majority Rule, Cambridge: Cambridge UP.

Wolff, Reinhard, 2017: Regierungsbildung a la Skandinavien. Mehrheiten sind in der Minderheit, in: taz v. 21.11.2017 (http://www.taz.de/!5461418/).

 

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Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2013 (Parteien und Wahlen 4); 669 S.; 98,- €; ISBN 978-3-8329-7728-3

Auch kurz vor der Bundestagswahl 2013 ist nicht absehbar, welche Koalition Deutschland ab Herbst regieren wird – alles scheint möglich. Vor diesem Hintergrund ist es reizvoll, die Modelle, die mehr oder weniger wahrscheinlich sind, hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit zu analysieren.



Daniel Morfeld

Regieren im Vielparteiensystem. Das Minderheitskabinett Kraft 2010-2012 in Nordrhein-Westfalen

Stuttgart: ibidem-Verlag 2014 (Göttinger junge Forschung 23); 166 S.; 24,90 €; ISBN 978-3-8382-0742-1

Minderheitsregierungen sind in Deutschland bislang selten gewesen; und wenn sie gebildet wurden, waren sie fast immer ‚unecht‘, da sie mittels eines festen Duldungspartners im Parlament und koalitionsvertragsähnlichen Abmachungen doch auf eine feste Mehrheit im Parlament bauten.



Sven Thomas

Regierungspraxis von Minderheitsregierungen. Das Beispiel des "Magdeburger Modells"

Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2003 (Sozialwissenschaft); VII, 132 S.; brosch., 29,90 €; ISBN 3-8244-4539-5

Thomas untersucht die Entstehung, Arbeitsweise und Abwahl der SPD-geführten Minderheitsregierungen in Sachsen-Anhalt (1994-2002) unter der Fragestellung, „wie Minderheitsregierungen regieren" (1). Ziel ist nicht ein Beitrag zur Theorie des Regierens sondern eine empirische Analyse dieses Fallbeispiels.



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