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leben und arbeiten in der digitalen welt

17.05.2018
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Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin


Determinanten und Gestaltungsmöglichkeiten

Erfindungen und Eroberungen haben immer wieder das Leben der Menschen verändert – erst das einer kleinen Gruppe, dann als neuer Standard ganze Gesellschaften. Nur wenige Innovationen aber haben es vermocht, der gesamten Geschichte der Menschheit eine neue Richtung zu geben, so wie die Sesshaftwerdung als Ackerbauern, der Buchdruck oder die Dampfmaschine. Auch gegenwärtig leben wir in einer Phase, in der sich die Zukunft deutlich wie selten nicht linear aus Vergangenheit und Gegenwart ergibt: Durch die Vernetzung der Computer sind wir dabei, die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, grundlegend zu ändern. In diesem Themenschwerpunkt fragen wir nach den Bedingungen, die die Zukunft prägen werden, und nach den gesellschaftlichen und politischen Möglichkeiten, sie zu gestalten.

Viele der populär vorgetragenen Prognosen über die Automatisierung und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) gleichen einem dystrophen Science-Fiction-Film, bei dem ungesagt bleibt, wie es genau zu jenem Szenario kommen konnte. Die Aussicht auf eine solche Zukunft kann Angst erzeugen – die sich in der Gegenwart instrumentalisieren lässt. Dies geschieht bereits, so ist aus dem wissenschaftlichen Diskurs herauszuhören, nur unter verdeckten Vorzeichen: Die Rechtspopulisten und Nationalisten – von Donald Trump über die Brexit-Befürworter, den Front National, die AfD und die PiS-Partei bis hin zu Wladimir Putin – versuchen diese Angst wahlwirksam mit dem Angebot auf eine Rückkehr in die sichere Vergangenheit zu kontern. Als stereotypes Feindbild, das diesem Gedanken nach einer inneren Einheit erst durch Abgrenzung Konturen verleiht, wird dabei der Fremde, Migrant, Flüchtling aufgerufen. Dieses retrospektive Angebot kann aber, was offensichtlich ist, keine zukunftsfähige Politik anbieten – und zwar nicht nur, weil die Vergangenheit ganz anders war. Mit dem Feindbild des seit Jahrtausenden über den Globus ziehenden Menschen in seiner heutigen Gestalt als Flüchtender vor Bürgerkrieg und/oder wirtschaftlicher Misere wird schlicht die falsche Frage gestellt: Die Zukunft ist nicht unsicher, weil mein Nachbar in einem fernen Land geboren wurde, sondern weil unklar ist, ob die Maschine, die sich anschickt, meine Arbeit zu übernehmen und die für mich passenden Nachrichten ebenso wie einen passenden Partner aussucht, mein Freund oder Feind ist.

Welche Aufgaben wollen wir an Algorithmen und KI delegieren? Sollen wir den Maschinen, die so viel schneller Daten verarbeiten und uns schwere körperliche Arbeiten abnehmen können, den Vorrang bei der Organisation unserer Arbeitswelt einräumen? Sollten sie für uns auch individuelle Entscheidungen übernehmen, da sie uns nach Auswertung unseres Browserverlaufs und „Gefällt mir“-Angaben so viel besser kennen als wir uns selbst? Ist der Gang an die Wahlurne dann nicht obsolet? In welcher Gesellschaft würden wir leben?

(Arbeitender) Mensch und Gesellschaft

Diese Frage beschäftigt auch den Historiker Yuval Noah Harari, der mit „Homo Deus“ ein die Debatte prägendes Werk vorlegt hat. Nach einer gründlichen Dekonstruktion von Narrativen und Wissen, die der Mensch bei der Gestaltung seiner Gesellschaft zugrunde legt, warnt Harari davor, den intelligenten Maschinen ein Vorrang vor dem bewussten Menschen einzuräumen.

Die Zukunft von Gesellschaft und Politik war auch eines der beiden Schwerpunktthemen auf der Konferenz „Schafft der Mensch den Menschen ab?“, die im April 2018 in Hamburg stattgefunden hat. In dem Bericht „Auf der Suche nach einem neuen Narrativ“ werden die Diskussionen etwa darüber gespiegelt, ob sich unter den Vorzeichen einer digitalen Arbeitswelt noch soziale Bewegungen formieren können – eine gesellschaftlich existenzielle Frage, so der Hinweis von Harald Welzer, waren es doch immer sie, die Modernisierungsschübe ausgelöst und zugleich den Wohlfahrtsstaat eingefordert haben.

Unter dem Titel „(Arbeitender) Mensch und Gesellschaft in der digitalen Welt“ wird auf Bücher und Kurzrezensionen zum Thema hingewiesen. Auffällig ist, dass sich der Fokus insgesamt von den düsteren Prognosen langsam verschiebt, weg von der pauschalen Warnung vor Big Data, hin zu der Frage, wie der digitale Wandel gestaltet werden soll und kann.

Die Arbeitswelt der Zukunft

Das zweite Schwerpunktthema der oben genannten Tagung war die „Schöne neue Arbeitswelt?“ Neben den Effekten der Digitalisierung stand dabei insbesondere die Gig Ecomony auch in ihren globalen Dimensionen im Mittelpunkt. Deutlich wurde, dass mit dem Arbeitsrecht bereits ein Instrument vorhanden ist, das bei ausreichendem politischem Willen zur Regulierung eingesetzt werden könnte.

Einen Überblick darüber, was unter „Plattform-Kapitalismus“ zu verstehen ist, vermittelt Nick Srnicek in einer kompakten Analyse. Dabei stellt er die tiefe Verwurzelung der neuen Phänomene der digitalen Infrastruktur und der Datenökonomie der großen Technologie-Unternehmen im „alten“ Kapitalismus heraus. Dessen Charakteristikum der Krise wird, so zeigt sich, in die Zukunft fortgeschrieben. In diesem Kontext ist auch auf das Buch „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ von Stephan Lessenich zu lesen, der in der Gig Economy vor allem die Zuspitzung von Prozessen erkennt, die ohnehin das Verhältnis zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden prägen.

Konkret um die Folgen der Digitalisierung für den deutschen Arbeitsmarkt geht es in zwei Studien, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) herausgegeben hat: In „Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt“ wird der grundliegende Strukturwandel erkennbar, vor dem auch Deutschland steht: „Hochgerechnet ergibt sich, dass ein Viertel – also fast acht Millionen – der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Berufen arbeitet, in denen mindestens 70 Prozent der anfallenden Tätigkeiten von Computern oder computergesteuerten Maschinen erledigt werden könnten.“ Die Autorinnen Katharina Dengler und Britta Matthes fragen aber auch, was das technisch Machbare tatsächlich darüber aussagt, wie sich die Arbeitswelt entwickelt – handwerkliche Tätigkeiten könnten eine neue Wertschätzung erfahren und neue Berufe entstehen, die weniger monoton sind als diejenigen, die von Computern übernommen worden sind. In der Analyse „Regionale Branchenstruktur spielt eine wichtige Rolle“ wird den Folgen der Digitalisierung bis 2035 aufgeschlüsselt nach der regionalen Branchenstruktur nachgegangen. Dabei zeigt sich, dass dem Stellenabbau eine nicht selten ähnlich hohe Anzahl an neuen Jobs gegenübersteht – nur kann nicht jeder, der seine Arbeit an eine Maschine verloren hat, ohne Weiteres eine der neuen Tätigkeiten aufnehmen. Auf weitere Analysen, in denen aus verschiedenen Perspektiven die Frage diskutiert wird, wer in Zukunft noch was und unter welchen Bedingungen arbeitet, wird in dem Digirama „Arbeitswelt 4.0“ hingewiesen.

Was tun?

Die Digitalisierung ist als ein heterogenes Technologiebündel zu verstehen, schreibt Florian Butollo in seinem Essay „Automatisierungsdividende und gesellschaftliche Teilhabe“, das einen Strukturwandel forciert, mit dem die Ungleichheit vergrößert wird – den zuvor gesicherten und nun wegrationalisierten Arbeitsplätzen stünden vor allem neue Jobs im Bereich der einfachen Dienstleistungen mit schlecht bezahlten und prekär Beschäftigten gegenüber. Die Politik sei daher gefordert, sich den Fragen der Arbeitszeitverkürzung, der Umverteilung und der Aufwertung ganzer Berufsbereiche zu stellen. Auch Deborah Oliveira erkennt mit Blick auf vorhandene geschlechterspezifische Ungleichheiten politischen Handlungsbedarf – ein Blick zurück auf die industrielle Revolution zeigt eine Pfadabhängigkeit bei der Nutzung neuer Technologien nur im Rahmen tradierter gesellschaftlicher Vorstellungen: Die „Technik allein wird die Geschlechterfrage nicht lösen“.

Die Analysen zeigen insgesamt übereinstimmend, dass der digitale Kapitalismus das Beschäftigungsmodel (nicht nur) in Deutschland institutionell und kulturell herausfordert. Auch eine Kommission der Hans-Böckler-Stiftung hat daher nach der Arbeit der Zukunft“ gefragt. Vorgestellt werden in dem Bericht Handlungsansätze, die dem Staat bei der Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft eine Schlüsselrolle zuweisen und für die Gewerkschaften einen stärkeren Einfluss auf die digitale Arbeitswelt fordern.

Insgesamt wird deutlich, dass die Digitalisierung des Kapitalismus – so der Titel der Sammelrezension der Bücher „Das Kapitel sind wir“ und „Die smarte Diktatur“ –
einen starken Veränderungsdruck auf alle Lebensbereiche ausübt. Franklin Foer erörtert in „Welt ohne Geist“, wie durch die Monopolstellung der großen Technologiekonzerne sich Konformismus ausbreitet, unsere intelektuelle Ausdrucksfähigkeit schwindet und das freie Denken in Gefahr gerät. Diese und vergleichbare Analysen zeigen: Gefordert ist die Entwicklung eines individuellen wie gesellschaftlichen Bewusstsein darüber, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ebenso wie die persönliche Freiheit potenziell hochgradig bedroht sein könnten. In diesem Zusammenhang steht als weiterer Themenkomplex die Debatte über den Umgang mit Big Data. Eric Mülling fragt in seiner Dissertation, ob die ungebremste Sammlung von Daten zur Herausbildung eines digitalen Ungehorsams führen könnte.

 

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Belletristik

Dave Eggers
Der Circle
Köln, Kiepenheuer & Witsch 2014

Cover Circle„Huxleys Schöne neue Welt reloaded: Die 24-jährige Mae Holland ist überglücklich. Sie hat einen Job ergattert in der hippsten Firma der Welt, beim ‚Circle‘, einem freundlichen Internetkonzern mit Sitz in Kalifornien, der die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter geschluckt hat, indem er alle Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die einfach alles abgewickelt werden kann. Mit dem Wegfall der Anonymität im Netz – so ein Ziel der ‚drei Weisen‘, die den Konzern leiten – wird es keinen Schmutz mehr geben im Internet und auch keine Kriminalität. Mae stürzt sich voller Begeisterung in diese schöne neue Welt mit ihren lichtdurchfluteten Büros und High-Class-Restaurants, wo Sterneköche kostenlose Mahlzeiten für die Mitarbeiter kreieren, wo internationale Popstars Gratis-Konzerte geben und fast jeden Abend coole Partys gefeiert werden. Sie wird zur Vorzeigemitarbeiterin und treibt den Wahn, alles müsse transparent sein, auf die Spitze.“ (Verlagsinformation)

Siehe dazu die Rezension von:


Andreas Bernard
Der dritte Kreis der Hölle
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. August 2014

„Normierung war einmal Sache der Polizei, in Dave Eggers’ Roman ‚Der Circle‘ übernimmt es das Individuum selbst. Was verbindet und was trennt diese Dystopie von Orwells ‚1984‘ und Huxleys ‚Schöne neue Welt‘?“


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