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Kerstin Jürgens / Reiner Hoffmann / Christina Schildmann: Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“

09.10.2018
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Dr. Thomas Mirbach
Bielefeld, transcript 2017

Die aktuellen Debatten über Verlauf und Folgen zunehmender Digitalisierung der Gesellschaft pendeln zwischen großen Erwartungen und düsteren Risikoszenarien. Optimisten verknüpfen mit dem Label Arbeit 4.0 Chancen einer mobilen, flexiblen und kooperativen Arbeitsorganisation, die bisher ungekannte Spielräume hocheffizienter und kreativer Vernetzungen eröffnet. Skeptiker befürchten dagegen massive Arbeitsplatzverluste gerade in den Tätigkeitsfeldern einfacher und mittlerer Qualifikationen und eine verstärkte Polarisierung zwischen wenigen Digitalisierungsgewinnern und vielen -verlierern. Der sich durchsetzende digitale Kapitalismus wird jedenfalls Produktionsbedingungen, Wertschöpfungsketten und Arbeitsbeziehungen in einer Weise verändern, die das bestehende Beschäftigungsmodell in Deutschland institutionell und kulturell herausfordert. Vor diesem Hintergrund hat die Hans-Böckler-Stiftung 2015 die Kommission „Arbeit der Zukunft“ in der Absicht eingesetzt, einen auf zwei Jahre angelegten Diskussionsraum bereitzustellen, in dem zentrale Fragen künftiger Arbeitspolitik verhandelt und beurteilt werden. Die 32 Mitglieder der Kommission stammten je hälftig aus Wissenschaft und Praxis (13 f.), ihre Auseinandersetzungen mit dem Rahmenthema wurden durch Anhörungen beziehungsweise schriftliche Expertisen externer Sachverständiger unterstützt (255 ff.).

Der Bericht der Kommission zeichnet sich in zweifacher Hinsicht aus: Zum einen bildet er eine ergebnisoffene Debatte ab. Die gemeinsame Sicht der Kommission drückt sich in analytischen Einschätzungen und daraus abgeleiteten „Denkanstößen“ aus, daneben bleibt ausreichend Raum für kontroverse Stellungnahmen – gerade im Hinblick auf praktische Vorschläge. Zum anderen wird Digitalisierung als zentraler Treiber des gesellschaftlichen Wandels im Kontext von Problemfeldern erörtert, bei denen gerade in Deutschland unbestritten Handlungsbedarf besteht; dazu zählen „vor allem der demografische Wandel, die veränderten Lebensentwürfe von Frauen und Männern, die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Sorgearbeit und nicht zuletzt die Zuwanderung“ (10). Insgesamt geht es um sieben Themenbereiche, von denen fünf arbeitspolitische Fragen im engeren Sinn (Erwerbstätigkeit, Einkommen, Qualifizierung, Arbeitszeit, Arbeitsorganisation) und mit Migration und Gesellschaft eher zwei Querschnittsthemen betreffen. Sichtet man die dabei diskutierten Herausforderungen, dann zeigt sich die über das Bildungs- und Beschäftigungssystem vermittelte soziale Ungleichheit als das übergreifende Bezugsproblem einer Transformation von Arbeit.

Bezogen auf Erwerbstätigkeit wird vor allem die steigende Unsicherheit im Beschäftigungsstatus als Folge atypischer Beschäftigungsformen, Befristungen, Leiharbeit und Solo-Selbstständigkeit hervorgehoben. In erster Linie sind Frauen, Jüngere und Geringqualifizierte von diesem Trend prekärer Einbindung in den Arbeitsmarkt betroffen, die kaum eigenständige Existenzsicherung erlaubt. Diese Erosionsformen des Normalarbeitsverhältnisses werden absehbar durch digitale Geschäftsmodelle wie der Plattformökonomie verstärkt, die gleichermaßen den Arbeitnehmer- wie den Betriebsbegriff aushöhlen. Mit dem Crowdworking tritt an die Stelle eines Arbeitsvertrags die Arbeit per Auftrag und netzförmige Produktionsmodelle ersetzen die räumlich-organisatorische Einheit von Betrieben. Damit sind zentrale institutionelle Regelungen bedroht, die bisher der Ausübung der Erwerbsrolle eine gewisse Sicherheit verliehen haben (16 ff.).

In verteilungspolitischen Fragen stellt die sich öffnende Einkommensschere ein Politikum dar; zu den wesentlichen Ursachen dieser Ungleichheit gehören der Niedriglohnsektor – im europäischen Vergleich einer der größten –, die Ausweitung des Dienstleistungssektors bei abnehmender Tarifbindung und die Einkommensdiskriminierung von Frauen. Hier wird die zu erwartende weitere Ausdehnung des Dienstleistungssektors – und dabei vor allem der große Bereich der Sorgearbeiten – bei der Bekämpfung prekärer Beschäftigung eine Herausforderung sein (48 ff.). Das Bildungssystem wirkt – trotz seiner Leistungsfähigkeit gerade auch in der dualen Ausbildung – sozial selektiv zu Lasten von Schicht- und Herkunftsmerkmalen. Die Digitalisierung wird voraussichtlich in etlichen Berufsfeldern zu einer Entwertung bestehender Qualifikationen führen; unverzichtbar sind deshalb erhebliche Anstrengungen im Bereich der beruflichen Weiterbildung auf betrieblicher Ebene wie für Arbeitslose, die das berufliche Wissen erweitern und ausreichend Flexibilität für unterschiedliche Tätigkeiten vermitteln (78 ff.).

Die Verteilung der Arbeitszeit wird zunehmend heterogener: bei der Erwerbsarbeit von Paaren erhält das Vollzeit-Teilzeit-Modell mehr Gewicht, vielfach fallen Zeitpräferenzen und faktische Arbeitszeiten auseinander, Arbeit in Randzeiten (Schichtdienst/Wochenende) und unregelmäßige Arbeitszeiten nehmen zu. Die Koordination von Erwerbs- und Familienarbeit erfolgt überwiegend noch zu Lasten von (teilzeitbeschäftigten) Frauen. Die mit der Digitalisierung einhergehende zeitliche und räumliche Flexibilisierung wird Arbeitszeitkonflikte verstärken und vermutlich noch weiter individualisieren (110 ff.). Und die Tendenz der steigenden Arbeitsverdichtung wirft Fragen physischer und psychischer Belastung auf, die sich als Folgen spezifischer Formen der Arbeitsorganisation ergeben. Empirisch gesichert ist der steigende Anteil von psychischen Erkrankungen unter den Erwerbstätigen. Die Perspektiven digitalisierter Arbeitsorganisation sind dabei mindestens ambivalent: Für hoch Qualifizierte können neue Spielräume individueller Gestaltung entstehen, während im Bereich einfacher Tätigkeiten Überwachungstechnologien die Ausbreitung beschleunigter und verdichteter Arbeitsprozesse ermöglichen (142 ff.). Fragen der Zuwanderung diskutiert der Bericht unter der Prämisse, dass nicht politisches Asyl, sondern Arbeitsmigration in Deutschland den Schwerpunkt ausmacht. Hier stößt der vielfach belegte Befund, dass die Integration von Zuwanderern in der Hauptsache über den Arbeitsmarkt erfolgt, auf einen strukturellen Widerspruch. Immer noch gibt es bisher keinen politischen Konsens für ein Einwanderungsgesetz, das die Arbeitsmigration aus Drittstaaten gezielt steuert. Zugleich wird eine konsistente Integrationspolitik durch Verteilungskonflikte erschwert, denn der digitale Strukturwandel wird besonders den Bereich der Geringqualifizierten betreffen und die Konkurrenz um Stellen mindestens in diesem Beschäftigungssegment verschärfen (170 ff.).

Der Bericht enthält zu den einzelnen Problemfeldern zahlreiche Anregungen und Denkanstöße mit sehr unterschiedlicher Reichweite. Insgesamt sind die Vorschläge als mögliche Antworten auf die Frage gedacht, „wie Verantwortung im digitalen Kapitalismus neu organisiert werden muss“ (226). Dabei beruht die Vision einer Transformation von Arbeit auf zwei durchaus bekannten Pfaden. Zum einen dient das Programm „Humanisierung der Arbeitswelt“ (1974-1989) als historischer Referenzpunkt, das heute bundesweit als Forschungs- und Transferprogramm „Humanisierung der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter“ neu aufzulegen wäre. Auf dieser durchaus legitimen Linie einer Stärkung der Gewerkschaften liegen dann die vielfältigen Ansatzpunkte zur Ausweitung von Tarifbindung, gewerkschaftlichem Organisationsgrad und Mitbestimmung in der digitalen Arbeitswelt. Zum anderen wird die Schlüsselrolle des Staates bei einer grundlegenden Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft unterstrichen (204 ff.). Zu den zentralen Elementen dieser Schlüsselrolle zählen: Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als Leitprinzip staatlicher Aktivitäten, Verankerung der regionalen Daseinsvorsorge als Gemeinschaftsaufgabe im Grundgesetz und entschiedene Schließung der staatlichen Investitionslücke (Infrastrukturen, Wohnungsbau, soziale Dienstleistungen).

Aufs Ganze gesehen bietet der Kommissionsbericht sowohl in den Problembeschreibungen wie in den diskutierten Handlungsansätzen eine sinnvolle Agenda für eine breite Auseinandersetzung mit der digitalen Herausforderung überwiegend im Rahmen bewährter tripartistischer Verfahren. Mit dem Risiko steigender sozialer Ungleichheit ist das übergreifende Bezugsproblem der sich abzeichnenden digitalen Arbeitsgesellschaft plausibel gewählt. Allerdings müsste in künftigen Debatten auch das andere – hier nur implizit mitgeführte – Bezugsproblem explizit behandelt werden: nämlich Ressourcen, Interessen und Strategien jener Akteure, die Digitalisierung als Gelegenheit der Machtverschiebung in der Arbeitswelt zu ihren Gunsten nutzen (Schwemmle/Wedde 2018).

weitere Literatur:

Schwemmle, Michael / Wedde, Peter: Machtverschiebung in der digitalen Arbeitswelt, Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung, WISO Direkt 11/2018.

 

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