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Philip Gorski: Am Scheideweg. Amerikas Christen und die Demokratie vor und nach Trump

18.02.2021
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Freiburg, Herder Verlag 2020

Rund 80 Prozent der evangelikalen Christen haben bei den Präsidentschaftswahlen für Donald Trump gestimmt. Philip Gorski fragt nach den Gründen und versucht zugleich das Verhältnis von Demokratie und (christlicher) Religion zu vermessen. Der Autor sieht eine enge Verbindung zwischen evangelikalem Protestantismus und dem sozialpsychologischen Konstrukt „WCN“ (White Christian Nationalism). WCN sei ein Komplex von Einstellungen, die miteinander korrelieren, etwa mit Rassenvorurteilen oder einer Unterstützung des Militärs, und der Trumpismus eine säkularisierte Version des WCN. Viele weiße Evangelikale seien zugleich weiße christliche Nationalisten.

Eine Rezension von Rainer Lisowski

Für diejenigen, die Modernität automatisch mit Säkularismus gleichsetzen, ist die hohe religiöse Vitalität der USA ein Rätsel. Gleichsam rätselhaft ist jemanden mit einer europäischen Betrachtungsperspektive die hohe Akzeptanz des mehrfach geschiedenen, oftmals lügenden ehemaligen Präsidenten der USA unter evangelikalen Christen: Etwa 80 Prozent von ihnen haben sich bei den Präsidentschaftswahlen 2020 für Donald Trump entschieden. Der an der Universität Yale lehrende Religionssoziologe Philip Gorski fragt, warum das so ist und versucht zugleich in einem größeren Rahmen das Verhältnis von Demokratie und (christlicher) Religion zu vermessen.


Das Buch folgt einem logischen Aufbau: von den grundsätzlichen zu den speziellen Fragen. Doch springen wir in der Besprechung zunächst in die Mitte des Buches, wo die aktuell drängende Frage behandelt wird: Wie wurden die Evangelikalen erzkonservativ und wieso wählen sie Trump?


Wie so oft werden geschichtliche Wandlungsprozesse erst à la longue sichtbar. In den 1920er-Jahren waren Evangelikale zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht oft progressive Demokraten (und viele liberale Protestanten oft konservative Republikaner), die zum Beispiel den Ideen des New Deals durchaus offen gegenüberstanden. Auch aus gutem Grund, denn ursprünglich gehörten die evangelikalen Kirchen in der Regel zur gesellschaftlichen Unterschicht. So wie diese Unterschichten nach dem Zweiten Weltkrieg mobil wurden und aufstiegen, stieg auch der evangelikale Protestantismus mit ihnen auf, womit sich dessen gesellschaftliche Akzeptanz erhöhte. Ein typischer Effekt von sozialem Aufstieg wurde aber ebenso sichtbar: Je stärker man sich etablierte und von der bestehenden Ordnung profitierte, desto mehr verlor man das Interesse an einer Veränderung dieser Verhältnisse.


Wirtschaftspolitisch progressive Positionen verschwanden in der Glaubens- und Denkwelt der Evangelikalen. Zumal gleichzeitig einflussreiche Autoren der christlichen Rechten das Jesusbild neu erfanden. Gorski betitelt dies mit der Überschrift „Vom sozialen Evangelium zum CEO Jesus“ (132). An dieser wie an vielen anderen Stellen erinnert der Autor insbesondere europäische Leserinnen und Leser daran, dass die Bibel nicht nur „römisch-rot“, nicht nur sozialkatholisch lesbar ist: „Die Politik der Bibel ist kompliziert und widersprüchlich.“ (55) Manche Aspekte der Bibel, wie etwa das paulinische Gebot, nicht vom Schweiße eines anderen Leben zu sollen („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“), werden in nicht-konservativen Kreisen gerne übersehen oder uminterpretiert (132-138).


Über Jahrzehnte entfremdeten sich viele Evangelikale von den Demokraten und so wurde eine zuvor oftmals durchbrochene, politische Lagerbildung möglich. Gesellschaftlich kam es zur Entwicklung der „Moral Majority“: Durch die Kulturkämpfe infolge der 1960er- und 1970er-Jahre wurden insbesondere konservative Katholiken und Juden empfänglich für die Idee der Evangelikalen, gemeinsam politisch aktiv zu werden. So entstand die religiöse Rechte in den USA (98 f.). Wesentlich zu der politischen Lagerbildung beigetragen haben aus Gorskis Sicht dann die Republikaner, die hellsichtig erkannten, über zwei Keile zu verfügen, mit denen sie die Evangelikalen des Südens und die Katholiken des Nordens von der Demokratischen Partei abspalten konnten: die Abtreibungsfrage und den Rassismus (144).

 

Das Konstrukt des White Christian Nationalism
Aus Sicht von Gorski besaß seit Ronald Reagan die republikanische Wählerkoalition aus Neokonservativen, Neoliberalen und religiösen Traditionalisten immer schon über eine nur dürftig kaschierte weitere Stütze: den weißen Rassismus (124). Der Autor sieht eine enge Verbindung zwischen evangelikalem Protestantismus und dem sozialpsychologischen Konstrukt „WCN“ (White Christian Nationalism). WCN ist ein Komplex von Einstellungen, die miteinander korrelieren. WCN korreliert sehr stark mit Rassenvorurteilen, zugleich aber auch stark mit einer Unterstützung des Militärs und einer Betonung des Rechtes, Waffen zu tragen. Das WCN-Kernnarrativ lautet: Weiße Christen haben (mit Glauben und Gewehren) die USA aufgebaut. Diese Tiefengeschichte strukturiert die gesamte Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (160 f.). Und hier sind wir schnell bei Trump, denn aus Gorskis Sicht ist der Trumpismus eine säkularisierte Version dieses WCN. Viele weiße Evangelikale sind mittlerweile zugleich weiße christliche Nationalisten.


Schlussendlich lassen sich auf evangelikaler Seite die Wahlabsichten pro-Trump in etwa folgendermaßen differenzieren:

 

  • Für den Block der rein sozialkonservativen Anhänger evangelikaler Konfessionen war der Trumpismus ein reines Tauschgeschäft: Stimme für Trump bedeutet konservative Richter.

  • Bei etlichen Evangelikalen gab es 2016 zudem eine negative Polarisierung: Sie hassten Hillary Clinton aus ganzem Herzen und hätten jede beliebige andere Person gewählt, ganz egal wen.

  • Auch gab es Trump-Wähler die über ihn einfach schlecht informiert waren und auch keine Notwendigkeit sahen, sich besser über ihn zu informieren, da sie Politik per se wenig Bedeutung zumessen.

  • Dann aber gab es eben auch einen düsteren Erklärungsansatz für das Wahlverhalten vieler Evangelikaler: purer (WCN-)Rassismus. Trumps Vokabular erinnert sie mit zentralen Schlagworten an Themen, die ihnen wichtig sind: Er bemüht einen rhetorisch verdeckten Rassismus, hat die altmodische Blutrhetorik durch modernere Euphemismen ersetzt und betont die Opferrolle, in der sich viele christliche Konservative heute im Ernst sehen, die sich als die am stärksten verfolgte Gruppe in den USA betrachten. Zudem wurde der von WCN-Anhängern gepflegte Messianismus und Anti-Elitismus hervorragend durch Trump bedient (156 ff., 167 f.). Kennzeichnend für viele Evangelikale ist ihre pessimistische Grundüberzeugung, den Kulturkampf mit der liberalen Linken verloren zu haben. Trump wirkte in dieser Sichtweise wie ein Beschützer (6, 14).

Ganze Teile der USA haben starke Bedrohungsgefühle entwickelt. Die eifrigsten evangelikalen Unterstützer Trumps sind mittlerweile mehr nationalistisch als christlich (14 f.). Viele wähnen sich in einer Endzeit, die bereits begonnen hat und die die Wiederkehr des Messias auf die Erde vorbereitet. Aus dieser Idee ergibt sich politischer Sprengstoff: Denn während Politik in einer Demokratie darauf abzielt, auch die politischen Gegner als grundsätzlich gutwillig anzusehen, führt diese chiliastische Perspektive zu der Sichtweise, die eigenen Überzeugungen als Teil göttlicher Inspiration zu sehen und die Überzeugungen des Gegenspielers als die des Teufels (100 f., 106). Kompromiss ist weitgehend ausgeschlossen.

 

Wie geht es weiter?
Aus Sicht von Gorski befinden sich die Evangelikalen zurzeit in einer Art selbstgemachter babylonischer Gefangenschaft: Für den Augenblick haben sie sich auf Gedeih und Verderb der republikanischen Partei verschrieben (116.) Aber erneut sind schleichende gesellschaftliche Veränderungen beobachtbar: „Die einst stolze ‚moralische Mehrheit‘ ist heute eine alternde und zunehmend diskreditierte Minderheit.“ (170) Und es zeigen sich im Evangelikalismus in zunehmendem Maße auch mehr Risse. Der eine Riss verläuft zwischen weißen und nicht-weißen, der zweite zwischen älteren und jüngeren Evangelikalen. Während die meisten jüngeren Evangelikalen der Abtreibung weiterhin sehr ablehnend gegenüberstehen, machen sie sich weniger Sorgen über gleichgeschlechtliche Lebensformen – und dafür umso mehr über Klimawandel und Rassenungleichheit (180).


Gorskis hervorragendes Buch bietet bei weitem mehr als diese Einsichten in die Verbindungen zwischen dem amerikanischen Evangelikalismus und der US-Politik. Grundsätzlich versucht er in den ersten beiden Kapiteln („Ist Demokratie christlich?“ und „Ist das Christentum demokratisch?“) fundamentalere Fragen zu behandeln. Im Schnelldurchlauf vermisst er dabei zunächst verschiedene Phasen von Demokratisierung (republikanisch, repräsentativ, liberal und sozialdemokratisch) und zeigt deren Kompatibilität zum Christentum auf.


Passen Demokratie und Christentum also automatisch zusammen? Auf den ersten Blick ja, denn Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Solidarität sind auch evangelische Werte. Historisch betrachtet lässt sich zudem argumentieren, dass das alte Israel proto-demokratische Züge aufwies – worauf schon Ernst Meyer vor gut fünf Jahrzehnten in seiner „Einführung in die antike Staatskunde“ hinwies. Anders als etwa Pharaonen waren israelische Könige im Vergleich zu Gott gering wie alle anderen und ebenso sterblich wie der normale Mensch. Auch beinhaltet die testamentarische Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ein Misstrauen gegenüber den Wohlhabenden und Mächtigen — und Jesus lehnte fast alle Hierarchien seiner Zeit ab. Sprachlich gibt es im Alten Testament zwar kein Äquivalent zum Begriff Demokratie, im Neuen Testament taucht aber das Wort ekklesia auf (48-57). Auch die Lehren wichtiger Kirchenväter, wie etwa Augustinus, lassen sich demokratisch interpretieren, wenngleich etwas komplizierter: Aus Sicht des Augustinus besteht die Ursünde in Stolz und Selbstliebe, der mit (geistiger) Bescheidenheit begegnet werden muss. Nur wenn wir die eigenen Grenzen erkennen, sind wir bereit, die Bedeutung des Dialogs anzuerkennen und zu einem moralischen Realismus zu finden (62 f.).

 

Betrachtet man die gesamte Kirchengeschichte, gibt es Zeiten und Ereignisse, die für eine Vereinbarkeit von christlicher Religion und Demokratie sprechen. Wer die Demokratie im Christentum hervorheben möchte, bezieht sich auf das Bild eines dreifaltigen Gottes, vor dem alle Menschen gleich sind. Der betont die erkenntnistheoretische Demut des Menschen gegenüber Gott. Der erkennt einen evangelischen Auftrag, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.


Umgekehrt gibt es aber genauso einen Hang zum Autoritarismus, der sich ausdrückt durch ein absolutes Bild eines eher unitaristischen Gottes, dessen Autorität niemals angezweifelt werden darf. Durch ein deterministisches Verständnis historischer Ereignisse und durch eine buchstabengetreue Interpretation biblischer Prophezeiungen. Insofern ist es für Gorski keineswegs ausgemacht, dass die christliche Religion automatisch demokratisch oder nicht-demokratisch ist (83-85). Charismatische Religionsansätze – wie bei den Evangelikalen beliebt – sind schon von ihrer Tendenz nicht sonderlich demokratisch oder offen, denn zumeist drehen sie sich um einen charismatischen Gründer, dessen Gottesgabe nun einmal nicht demokratisierbar ist (113).


Zusammengefasst: Gorski ist ein extrem lesenswertes Buch gelungen.

 

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