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Wind in den Segeln der Europäischen Union. Elmar Brok über Junckers Rede zur Lage der EU 2017

16.10.2017
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Elmar Brok

Visionär: Der Kommissionspräsident stellte am 13. September 2017 im Europäischen Parlament seine Ideen für eine Weiterentwicklung der EU vor. Foto: http://bit.ly/2wYKie0Visionär: Der Kommissionspräsident stellte am 13. September 2017 im Europäischen Parlament seine Ideen für eine Weiterentwicklung der EU vor. Foto: http://bit.ly/2wYKie0

 

Jean-Claude Junckers Rede zur Lage der Union am 13. September 2017 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg ist von vielen Seiten kritisiert worden. Insbesondere seine Vorschläge zur Erweiterung der Währungsunion und des Schengen-Raumes stießen auf – teils völlig überzogenen – Widerstand. „Junckers Märchen vom einigenden Euro“, titelte etwa SPIEGEL ONLINE und warf Juncker in einem Kommentar eine „überspannte Vision“ vor, die „eine Steilvorlage für Populisten“1 sei. Diese meldeten sich denn auch gleich zu Wort: So sprach etwa Alice Weidel (AfD) von einem „völligen Realitätsverlust“2. Juncker scheine „von allen guten Geistern verlassen“3, äußerte sich Sahra Wagenknecht (Die Linke). Interessant ist, dass sich Linke und Rechtspopulisten hier einig sind. Doch selbst Parteifreunde Junckers kritisierten seine Vorschläge; so mahnte etwa Markus Söder (CSU) zur Ausweitung der Eurozone an, dies sei „der falsche Vorschlag zur falschen Zeit“4.

Solcherlei Kritik stimme ich in keiner Weise zu. Manche der Äußerungen von Politikern und Reaktionen in den Medien haben mich sogar erschreckt – und dies nicht nur aufgrund des unverhohlenen Populismus, der hoffentlich nur dem Bundestagswahlkampf geschuldet war. Nein, insbesondere hat mich schon sehr verwundert, von welcher grundlegenden Unkenntnis etwa der rechtlichen Stellung des Euros viele der Kommentare zeugen. Mein Eindruck ist, dass ein beachtlicher Teil der Kommentatoren das Grundprinzip der Wirtschafts- und Währungsunion wie auch des Schengener Abkommens gar nicht richtig verstanden hat. Zudem ist hervorzuheben, dass Juncker seine Rede unter das Motto „Gleichberechtigung“ gestellt hat und das Ziel einer Union der Gleichberechtigten dem Fairnessempfinden vieler Europäer entspricht. Es kann und darf in einer Europäischen Union keine Mitgliedstaaten zweiter Klasse geben!

Ich möchte bereits an dieser Stelle klar festhalten: Jean-Claude Juncker will beim Euro und beim Schengener Abkommen die rechtlichen und praktischen Vertragsregelungen erfüllen. Dies hat er in seiner Rede auch so dargestellt. Seine Überlegung zur Zusammenlegung der Ämter des Kommissions- und des Ratspräsidenten zu einem „EU-Präsidenten“ basiert ebenfalls auf dem bestehenden EU-Recht; nach dem Vertrag ist dies möglich. Ob man das will oder nicht, das muss politisch entschieden werden. Von „Realitätsverlust“ oder einem „Märchen“ zu sprechen, ist jedoch völlig überzogen und geradezu absurd. Seit wann ist es Realitätsverlust, auf rechtliche Möglichkeiten hinzuweisen und auch darüber nachzudenken? Da gibt es einige in Politik und Medien, die nur noch reflexhaft für das deutsche Publikum reagieren.

Im Folgenden möchte ich daher darlegen, warum Junckers Vorschläge richtig und wichtig sind und weswegen sie zu einem guten und sinnvollen Zeitpunkt kommen.

Der Euro ist die Währung der gesamten EU

Lassen Sie mich hinsichtlich der Fortentwicklung und Ausweitung unserer Währungsunion zunächst ganz unmissverständlich eine Tatsache benennen, die zum Verständnis der Diskussion allen bewusst sein muss: Der Euro ist die Gemeinschaftswährung der gesamten Europäischen Union – und nicht etwa nur die der Mitgliedsländer der Eurozone! Dies ist so in Artikel 3, Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union explizit festgehalten: „Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.“ Ebenso gilt: Das Europäische Parlament ist das Parlament der EU. Juncker betonte dies, indem er sagte, dass er der Idee eines gesonderten Euro-Parlaments wenig abgewinnen könne. Ich sehe dies genauso.

Zugegeben: Das Missverständnis vieler Kommentatoren und Bürger mit Blick auf den Euro ist durchaus nachvollziehbar. Derzeit gehören der Eurozone 19 EU-Länder an, acht (der bald noch 27) EU-Mitgliedstaaten hingegen noch nicht. Zwar hat sich Dänemark – wie auch das Vereinigte Königreich – im Jahr 1992 im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft garantieren lassen, dass der Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (das heißt Einführung des Euros) selbst bei Erfüllung aller Kriterien nicht automatisch erfolgt, sondern es zunächst eine Volksabstimmung in Dänemark darüber geben muss. Von dieser Ausnahme abgesehen sind jedoch alle EU-Mitgliedstaaten vertraglich dazu verpflichtet, sich auf die Mitgliedschaft in der Währungsunion vorzubereiten und die Bedingungen zu erfüllen. Dies gilt für alle neueren EU-Mitgliedstaaten, die ab 2004 der EU beigetreten sind. Dies gilt aber – was viele nicht wissen – ebenso auch für Schweden, das bereits im Jahr 1995 Mitglied der EU wurde und den Euro bislang nicht eingeführt hat. Zwar hat sich Schweden vertraglich verpflichtet, den Euro einzuführen. Da sich jedoch im Jahr 2003 in einer Volksbefragung eine Mehrheit der Schweden negativ entschied, wurde das Thema als Konsequenz der Finanzkrise von 2008 vorerst auf Eis gelegt.

Nicht weniger verwirrend wird die Situation dadurch, dass aufgrund bilateraler Abkommen mit der EU und einem Mitgliedstaat der Eurozone auch einige Nicht-EU-Länder den Euro als offizielle Währung haben – so etwa der Vatikan, Monaco, San Marino oder seit 2012 auch Andorra. Wenngleich diese Abkommen das Recht auf Münzprägung beinhalten, nehmen diese Staaten nicht am Eurosystem oder der Euro-Gruppe teil; ihre wirtschaftliche Lage wird zudem nicht formell von der Europäischen Zentralbank (EZB) bei der Festlegung ihrer Geldpolitik berücksichtigt. Hinzu kommt der Umstand, dass es mit Montenegro und dem Kosovo zwei weitere Staaten gibt, die den Euro als Zahlungsmittel verwenden, ohne jedoch irgendeine Form von Abkommen zu haben.

Insgesamt mag durch diese recht komplexen Verhältnisse fälschlicherweise der Eindruck erweckt werden, die Eurozone und die EU seien zwei separate Gemeinschaften. Das ist aber keinesfalls zutreffend. Vielmehr handelt es sich bei der Eurozone um ein von der EU errichtetes Konstrukt, das ein fester Bestandteil der gesamten Europäischen Union ist. Ein EU-Mitgliedstaat außerhalb der Eurozone, der alle Kriterien erfüllt, muss in die Währungsunion aufgenommen werden – wenngleich auch nur dann. Dies ist quasi ein Automatismus; weder kann die EU eine solche Aufnahme verhindern noch darf sich das betreffende Land weigern. Ein wirtschaftliches Interesse hieran kann es aber beiderseits auch nicht geben, zu groß sind die Vorteile der Währungsunion. Fünf der neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten haben bereits den Euro als Währung eingeführt und erfüllen die Bedingungen zum großen Teil besser als Deutschland; insbesondere die baltischen Staaten sind hierbei als beispielhafte Mitglieder der Eurozone zu nennen.

Ich halte es in diesem Zusammenhang übrigens für falsch und populistisch, immer wieder Griechenland als abschreckendes Beispiel zu nutzen. Im Vorfeld der Aufnahme Griechenlands in die Eurozone im Jahr 2001 sind Fehler gemacht worden, keine Frage. Doch die EU ist heute eine ganz andere als um die Jahrtausendwende; sie ist mittlerweile deutlich besser aufgestellt als zum Zeitpunkt des Beitritts Griechenlands zur Währungsunion. Dies sieht man alleine schon an der Tatsache, dass die Überprüfung der Konvergenzbedingungen seit einigen Jahren nicht mehr den nationalen Statistikbüros obliegt, sondern Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union. Es war übrigens auch Eurostat, das die Tricks der Griechen überhaupt erst aufgedeckt hat. Wir haben also einen zusätzlichen EU-weiten Mechanismus zur Gewährleistung eines stärkeren und stabilen Euros gefunden.

Was Jean-Claude Juncker nun in seiner Rede zur Lage der Union vorgeschlagen hat, sind Maßnahmen zur Erfüllung des EU-Vertrags und steht in vollem Einklang mit diesem. Juncker hat gesagt, dass künftigen Euro-Ländern geholfen werden soll, fit für die Währungsunion zu werden, und dass nicht neue teure institutionelle und administrative Mauern errichtet werden. Für bedeutend halte ich überdies die Aussage Junckers zur symbolischen Macht des Euros. Der Euro darf unseren Kontinent nicht spalten, sondern muss dazu beitragen ihn zu einen. Allein aus diesem Grund muss er – so Juncker – „mehr sein als die Währung einer ausgewählten Ländergruppe“. Damit hat Juncker ein deutliches und notwendiges proeuropäisches Signal gesendet.

Schengen ist eine historische Errungenschaft

Nicht nur im Hinblick auf den Euro setzt Jean-Claude Juncker auf Inklusion, auch mit Bezug auf das Schengener Abkommen hat er sich für eine Erweiterung des Raumes ausgesprochen. In seiner Rede forderte der Kommissionspräsident, Rumänien und Bulgarien sowie – bei Erfüllung aller Kriterien – auch Kroatien die Schengen-Mitgliedschaft zu ermöglichen. Ich halte diesen Schritt für grundsätzlich richtig und sinnvoll, insbesondere mit Bezug auf den Schutz unserer Außengrenzen. Dieser ist im Interesse Deutschlands und aller anderen EU-Mitgliedsländer, gerade auch mit Blick auf die Bekämpfung von Terrorismus und illegaler Migration.

Wir müssen uns alle im Kampf gegen den Terrorismus darauf einstellen, dass wir die Außengrenzen der Europäischen Union besser schützen müssen, wenn wir die Öffnung der Innengrenzen beibehalten wollen. Hierzu müssen an den Außengrenzen des Schengen-Raumes zuverlässig Kontrollen durchgeführt werden. Kontrollen außen, offen im Inneren – das muss der Grundsatz sein. Bestimmte Länder wie eben Rumänien oder Bulgarien sind bislang kein Mitglied des Schengener Abkommens, weil sie einige Bedingungen noch nicht erfüllen können. Dort muss aber nachgerüstet werden, und es ist unsere Verantwortung, diesen Ländern dabei zu helfen.

Der Wegfall unserer Binnengrenzen ist eine historische Errungenschaft. Wenn ich innerhalb der EU reise, besteht Reisefreiheit – doch dies kann nur funktionieren, indem die Außengrenzen ausreichend geschützt werden. Dies müssen wir gewährleisten, und dies setzt mittelfristig auch die Aufnahme aller EU-Mitgliedstaaten in das Schengener Abkommen voraus. Der Schengen-Raum ist ein zentraler Bestandteil unserer Europäischen Union, der unbedingt bewahrt und erweitert werden muss.

Zusammenlegung der Ämter des Kommissions- und des Ratspräsidenten

Juncker hat in seiner Rede auch institutionelle Veränderungen in der EU angesprochen. Besprechen möchte ich an dieser Stelle den ebenfalls kritisch aufgenommenen Vorschlag, das Amt des EU-Kommissionspräsidenten mit dem des Präsidenten des Europäischen Rates – das erst im Jahr 2009 mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages geschaffen wurde – zu verschmelzen. „Europa wäre leichter zu verstehen, wenn ein einziger Kapitän am Steuer wäre“, so Juncker. Dieser eine EU-Präsident solle nach einem europaweiten demokratischen Wahlkampf gewählt werden, wobei das Prinzip des Spitzenkandidaten beizubehalten sei.

Dieser Vorschlag ist keinesfalls neu, vielmehr wird er schon länger diskutiert. Ich selbst habe mich hiermit im Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlamentes (AFCO) intensiv befasst und im Jahr 2016 gemeinsam mit meiner Kollegin Mercedes Bresso einen Bericht vorgelegt. Nach Einschätzung der meisten Experten wäre die Zusammenlegung der beiden Ämter rechtlich möglich; der Vertrag von Lissabon bietet den entsprechenden Rahmen. Der Europäische Rat müsste sich hierzu auf der Grundlage einer interinstitutionellen Vereinbarung zwischen den betroffenen Organen politisch verpflichten, den Kommissionspräsidenten, der auf Vorschlag des Europäischen Rates auf der Grundlage der Ergebnisse der Europawahl vom Europäischen Parlament gewählt wird (wie 2014 bereits geschehen), als seinen Präsidenten zu benennen.

Dieser Vorschlag Junckers – der angekündigt hat, selbst nicht mehr anzutreten – mag aus Sicht vieler vielleicht nicht zu den wichtigsten Prioritäten dieser Tage gehören. Jedoch würde diese Maßnahme zu einer deutlich größeren demokratischen Legitimation für den EU-Präsidenten führen, der sich dann direkt auf seine Wahl durch die Vertretung der EU-Bürger berufen kann. Es müsste dabei jedoch auch sichergestellt sein, dass das Europäische Parlament nicht sein Recht verliert, den Kommissionspräsidenten zu wählen. Ich bin der Ansicht, dass die Zusammenlegung dieser beiden Ämter eine ernsthafte Überlegung und – gerne auch öffentliche – Diskussion wert ist. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich mir jedoch nur schwer vorstellen, dass die nationalen Staats- und Regierungschefs es akzeptierten, wenn wir Europaabgeordneten mitentscheiden, wer ihre Treffen im Rahmen des Europäischen Rates koordiniert.

Klug und vorausschauend

Ich halte Jean-Claude Junckers Rede und die darin dargestellten Vorschläge für klug und vorausschauend. Dies ist Politik, wie wir sie in Zeiten des Umbruchs und großer Herausforderungen dringend benötigen. Vor allem beweist der Kommissionspräsident Führungsqualität. Wie oft wird denn beklagt, dass es uns an politischen Visionen fehlt? Nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland mit proeuropäischem Ausgang haben wir zudem nun die Möglichkeit, mit Angela Merkel und Emmanuel Macron den deutsch-französischen Motor wieder zum Antreiber des europäischen Integrationsprozesses zu machen, wie es etwa bei Helmut Kohl und François Mitterand der Fall war. Hier tun sich enorme Chancen auf, doch müssen wir in Deutschland unbedingt darauf achten, Präsident Macron die notwendige Unterstützung zu gewähren.

Juncker hat den Zustand Europas trefflich auf den Punkt gebracht, als er sagte, dass die EU nun wieder Wind in ihren Segeln habe und dieser genutzt werden müsse, um voranzukommen. Die Geschichte hat uns doch gezeigt, dass die EU immer dann einen bedeutenden Integrationsschritt getan hat, wenn zuvor eine Krisenphase überwunden wurde. Nehmen wir als Beispiel die sogenannte Eurosklerose der 1970er- und frühen 1980er-Jahre; auf diese folgte unter der Kommission Jacques Delors die Einheitliche Europäische Akte, die ganz entscheidend zur Wiederbelebung des Integrationsprozesses beitrug und den Binnenmarkt auf der Grundlage der Gemeinschaftsmethode möglich machte.

Es muss jedoch viel getan werden, um eine ähnliche positive Entwicklung auch in den nächsten Jahren wieder erleben zu können. Leicht wird es dabei nicht werden. Dass es uns Europäern in der Vergangenheit immer wieder gelungen ist, den Druck von Krisen sowie Rückschläge bei Referenden letztlich in die konstruktive Weiterentwicklung unserer Union zu lenken, ist jedoch eine gute Nachricht und lässt hoffen. Zudem sind wir inzwischen an einem Punkt, an dem wir als EU aus der Tiefphase der letzten Krisenjahre heraus sind – auch dank unserer engen Zusammenarbeit in vielen Bereichen. Dass es gemeinsam besser funktioniert, wenn wir Europäer an einem Strang ziehen, haben wir am Beispiel der Flüchtlingskrise gesehen. So haben wir durch den Deal mit der Türkei einen drastischen Rückgang um rund 650.000 Flüchtlinge erzielen können, zugleich wurde den Schleusern das Handwerk gelegt. Auch im Umgang mit den Wirtschafts- und Finanzkrisen oder bei der Bekämpfung von Terror haben wir erfolgreich gezeigt, dass die EU viele Probleme deutlich besser lösen kann, als wenn diese jedes Land im Alleingang probiert. Bei der Gestaltung des digitalen Binnenmarktes haben wir ebenfalls einen guten Weg eingeschlagen, der Europa nach vorn bringen wird.

Es liegt an uns Europäern selbst, unsere gemeinsamen Stärken auszuspielen – so hat die EU etwa einen höheren Anteil am Welthandel als die USA, als weltweit größter Entwicklungshilfegeber besitzen wir weitere Einflussmöglichkeiten. Vor allem aber muss die EU effizienter, unbürokratischer und bürgernäher werden; im Europäischen Parlament arbeiten wir genau darauf hin. Wir brauchen dabei nicht pauschal „mehr Europa“, sondern die EU sollte genau dort mehr Kompetenzen erhalten, wo sie Probleme besser lösen kann als ihre Mitgliedstaaten. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist der hierfür erforderliche Spielraum vorhanden, muss jedoch noch besser genutzt werden. Wir müssen die EU weiterentwickeln und sie den Herausforderungen unserer Zeit anpassen, wie es seit ihrer Gründung schon immer der Fall war. Jetzt stellen wir entscheidende Weichen, die unseren Kontinent auf Jahrzehnte prägen werden.

Der Brexit als Prüfstein

Dies gilt ganz besonders auch für unseren Umgang mit dem bevorstehenden Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU, der aller Voraussicht nach am 30. März 2019 vollzogen sein wird. Die Einigkeit und der Zusammenhalt der Union sind angesichts des Brexits und der damit verbundenen Verhandlungen besonders wichtig. Erfreulich ist daher, dass die Länder der verbleibenden EU-27 im Europäischen Rat in großer Geschlossenheit ihre Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen mit London beschlossen haben, die im Übrigen auch vom Europäischen Parlament ausdrücklich unterstützt werden. Bürgerrechte, Finanzierungsfragen und die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland sind die drei Schwerpunktthemen, in denen zunächst Konsens erreicht werden muss. Auch ein halbes Jahr nach Auslösung von Artikel 50 durch Premierministerin Theresa May ist es jedoch immer noch erschreckend, mit welcher Naivität die britische Regierung die nach wie vor sehr schleppend laufenden Verhandlungen angeht.

Das Europäische Parlament hat in seiner Entschließung vom 3. Oktober 2017 nochmals bekräftigt, dass die nächste Verhandlungsphase erst dann beginnen darf, wenn bei den drei Schwerpunktthemen ausreichende Fortschritte erzielt worden sind. Auch das Ergebnis der fünften Verhandlungsrunde, die am 12. Oktober geendet hat, war in dieser Hinsicht ernüchternd.

Eine Selbstverständlichkeit werden wir bei den Verhandlungen stets im Hinterkopf behalten: In der EU kann ein Drittstaat niemals besser gestellt sein als unsere eigenen Mitgliedsländer. Dies widerspräche völlig dem Sinn und Zweck unserer Union und wäre wohl deren Ende. Daher ist eine britische Rosinenpickerei keinesfalls akzeptabel, etwa bei der Frage des Zugangs zum Binnenmarkt. Hier ist eine selektive Beteiligung definitiv ausgeschlossen, denn die Freiheiten des Binnenmarktes – freier Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr – sind absolut unteilbar. Diese Erkenntnis scheint sich inzwischen auch in London durchzusetzen. Wir müssen jedoch in unserem eigenen Interesse darauf hinarbeiten, künftig gute Nachbarn und Partner zu sein. Wir können auch nach März 2019 eine gute und enge Kooperation haben, mit deren Hilfe sich die Schäden des Brexits dann zumindest teilweise wieder aufheben lassen – wenn man denn in Großbritannien wieder zum Nachdenken kommt. Das CETA-Abkommen mit Kanada könnte hier als Vorbild dienen.

Im Zusammenhang mit dem Brexit ist jedoch erfreulich, welche neuen Kräfte und welch starkes Zusammengehörigkeitsgefühl bei den EU-27 freigesetzt wurden. Es liegt an uns, nun vor allem auch die positiven Aspekte des Brexits zu erkennen und hervorzuheben. So wird es nun wahrscheinlicher, ohne britische Blockaden in der EU ein höheres Maß an Integration zu erreichen. Wir sehen die ersten Fortschritte schon im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Bratislava-Roadmap. Hier werden wir im Rahmen des Vertrages von Lissabon wesentliche Fortschritte erzielen, die vor dem Brexit wegen des britischen Vetos nicht möglich waren. Bislang hat uns das Vereinigte Königreich in vielen Bereichen und bei vielen Integrationsschritten eher gebremst; diese Last fällt nun bald weg.

Vom Nachdenken zum Handeln, von der Debatte zur Entscheidung

Jean-Claude Juncker hat Recht, wenn er in seiner Rede zur Lage der Union sagt: „Jetzt ist es an der Zeit, die ersten Schlussfolgerungen aus der Debatte [zur Zukunft Europas] zu ziehen. Es ist an der Zeit, den nächsten Schritt zu machen: vom Nachdenken zum Handeln, von der Debatte zur Entscheidung.“ In diesem Sinne müssen wir den Rückenwind nutzen, den uns die positiven Entwicklungen der vergangenen Monate bieten. Und auch in der Bevölkerung macht sich längst wieder eine optimistische Stimmung in Bezug auf die EU breit: Immer mehr Menschen merken wieder, was sie der EU zu verdanken haben. Sie realisieren, dass Freiheit, Frieden, Demokratie und Wohlstand keine Selbstverständlichkeit sind, sondern täglich aufs Neue erarbeitet werden müssen. Sie erkennen, dass ein europäisches Miteinander bessere Lösungen für die Gestaltung unserer Zukunft bietet als nationaler Egoismus. Trotz des besorgniserregenden Abschneidens der AfD bei der Bundestagswahl im September lässt sich festhalten, dass mit einem dezidiert pro-europäischen Kurs Wahlen zu gewinnen sind. Dies haben wir zuletzt bei der französischen Präsidentschaftswahl gesehen, und auch in Deutschland haben 87 Prozent der Wähler eine der pro-europäischen Parteien gewählt. Diese breite Unterstützung der Bevölkerung sollten wir nutzen, um die Europäische Union auf einem guten Weg in die Zukunft zu führen.

Ich schließe mit einem weiteren Zitat Jean-Claude Junckers. Er beendete seine Rede zur Lage der Union am 13. September 2017 mit folgender schönen Metapher:

„Wir haben damit begonnen, das europäische Dach zu reparieren. Heute und morgen müssen wir jedoch auch geduldig neue Etagen im europäischen Haus ausbauen – eine Etage nach der anderen, einen Moment nach dem anderen, eine Inspiration nach der anderen. Wir müssen das europäische Haus jetzt fertigstellen, da die Sonne scheint – und solange sie scheint. Denn wenn die nächsten Wolken am Horizont auftauchen, und sie werden eines Tages auftauchen, wird es zu spät sein.“

 


1David Böcking: Ruf nach Ausweitung. Junckers Märchen vom einigenden Euro. SPIEGEL ONLINE, 13.09.2017, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kommentar-jean-claude-junckers-maerchen-vom-einigenden-euro-a-1167507.html

2Alice Weidel: Junckers Realitätsverlust. https://www.afd.de/alice-weidel-junckers-realitaetsverlust/

3Juncker-Forderung: Euro für alle EU-Länder. Wagenknecht: „Juncker scheint von allen guten Geistern verlassen“. Merkur.de, 13.09.2017 https://www.merkur.de/politik/juncker-haelt-jaehrliche-rede-zur-lage-eu-zr-8678706.html

4Junckers Euro-Idee. „Das ist der falsche Vorschlag zur falschen Zeit“. welt.de, 13.09.2017, https://www.welt.de/politik/ausland/article168610421/Das-ist-der-falsche-Vorschlag-zur-falschen-Zeit.html

 

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Quelle

Jean-Claude Juncker
Rede zur Lage der Union 2017
Brüssel, 13. September 2017


Ausgewählte Pressestimmen zur Rede

1. ... aus Deutschland:

Leila Al-Serori
"Europa ist keine Festung und darf nie eine werden"
Süddeutsche Zeitung, 13. September 2017

Markus Becker
Junckers Vision für die EU. Macht Europa das mit?
SPIEGEL ONLINE, 13. September 2017

Ruth Berschens
Junckers Vermächtnis
Handelsblatt, 13. September 2017

Steffen Dobbert
Die EU kann mehr
ZEIT ONLINE ,13. September 2017

Bettina Klein
Ein ziemlich guter Wurf
Deutschlandfunk, 13. September 2017


2. ... aus dem europäischen Ausland
 


Reaktion/Analyse

Jean-Claude Juncker forderte in seiner Rede, dass der Euro die Währung der gesamten Europäischen Union werden müsse. Philipp Engler und Malte Rieth vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) haben in einer Studie untersucht, ob die sieben Euro-Beitrittskandidaten die Voraussetzungen überhaupt erfüllen können. Ihre Antwort lautet zwar ja, „doch manche Konvergenzkriterien wie die Preisstabilität und der Schuldenstand müssten überarbeitet oder erweitert werden, um noch aussagekräftig zu sein“. Allerdings sei es unwahrscheinlich, dass es kurzfristig zu weiteren Beitritten kommen werde, da auch von Seiten der Beitrittskandidaten derzeit wenig auf ein solches Bestreben hindeute. Hierfür müsste der Euroraum „wohl weiter an seiner Krisenfestigkeit arbeiten und der eingeschlagene Kurs zu Reformen seiner Institutionen fortgeführt werden“.


Fünf Szenarien zur Zukunft Europas. Das Weißbuch der Kommission

Otto Schmuck widmet sich in seinem Beitrag für das Portal für Politikwissenschaft mit dem von Jean-Claude Juncker im März 2017 vorgelegten Weißbuch zur Zukunft Europas. Darin hat der Kommissionspräsident fünf Szenarien zur Zukunft Europas aufgezeigt, die der Autor analysiert. Juncker bezeichnet das in seiner Rede im Europäischen Parlament am 13. September 2017 vorgestellte Konzept als sein „persönliches ‚sechstes Szenario‘“.


Aus der Annotierten Bibliografie

Peter Behrens / Markus Kotzur / Konrad Lammers (Hrsg.)

Sechs Dekaden europäischer Integration – eine Standortbestimmung. Symposium anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015 (Schriftenreihe des Europa-Kollegs Hamburg zur Integrationsforschung 73); 146 S.; brosch., 36,- €; ISBN 978-3-8487-2050-7
„‚Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch‘“ (28) – mit diesen Worten Friedrich Hölderlins unterstreichen die Herausgeber ihr optimistisch stimmendes Resümee einer Tagung, die am Europa‑Kolleg Hamburg im Jahre 2013 anlässlich des 60. Geburtstags dieser Institution stattfand und aus der der Sammelband hervorgegangen ist. Zum Zeitpunkt der Veranstaltung befand sich die Europäische Union bereits einige Zeit in einer ihrer schwersten Krisen. Vor dem Hintergrund der ...weiterlesen

 

Stefan Kadelbach / Klaus Günther (Hrsg.)

Europa: Krise, Umbruch und neue Ordnung

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2014 (Schriften zur Europäischen Integration und Internationalen Wirtschaftsordnung 33); 199 S.; brosch., 52,- €; ISBN 978-3-8487-1385-1
Der Band versammelt die Beiträge des zwölften Frankfurter Walter‑Hallstein‑Kolloquiums, das im März 2013 stattgefunden hat und der Frage nachgegangen ist, „welche Lehren aus der andauernden Staatsschuldenkrise zu ziehen sind“ (5). Bewusst wollen die Herausgeber vor allem Fragen der politischen Kultur der EU in den Mittelpunkt der Einzelbeiträge gestellt sehen, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen entstammen. Stefan Kadelbach macht in seinem...weiterlesen


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