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Reinhold Vetter: Nationalismus im Osten Europas. Was Kaczynski und Orbán mit Le Pen und Wilders verbindet

09.10.2017
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Berlin, Ch. Links Verlag 2017 (Politik/Zeitgeschichte)

Die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der Europäischen Union sind unübersehbar. In der Folge der Finanzkrise verstärken strukturelle ökonomische Ungleichgewichte die divergierenden Interessenlagen von nördlichen und südlichen Mitgliedstaaten, im Umgang mit der Flüchtlingskrise werden kaum zu überbrückende Unterschiede in den Positionen west- und osteuropäischer Gesellschaften deutlich und schließlich haben mit nationalistischen und rechtspopulistischen Strömungen EU-weit Akteure Auftrieb, die ein Ende des Projektes Europa verfolgen.

Der Publizist Reinhold Vetter, über viele Jahre Korrespondent in Budapest und Warschau, legt mit seiner Studie eine Bestandsaufnahme des Nationalismus in Mittel- und Osteuropa vor; dabei stehen nationalkonservative, populistische und rechtsradikale Parteien im Zentrum, die schon über politische Macht in Gestalt von Regierungsbeteiligung verfügen. Ausführlich geht er auf die Situation in den Visegrád-Staaten – Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakei – ein, etwas knapper werden Kroatien, Slowenien und die baltischen Staaten behandelt.

Nationalismus und identitäre Geschichtspolitik

Mit der fünften EU-Erweiterungsrunde 2004, die – abgesehen von Bulgarien, Rumänien und Kroatien – zum Beitritt der Mehrheit der mittel-osteuropäischen Staaten führte, verband sich die Überzeugung, der Prozess der europäischen Integration werde die demokratische Transformation der postkommunistischen Systeme unumkehrbar machen. Die jüngere Entwicklung hat jedoch – wie Ivan Krastev in seinem Essay Europadämmerung festhält – ein spezifisch „mitteleuropäisches Paradoxon“ offenbart: Obschon nach Meinungsumfragen besonders europafreundlich eingestellt, sind „mitteleuropäische Wähler [...] bereit, europafeindliche Parteien an die Macht zu bringen, die unabhängige Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken und die Medien ganz offen verabscheuen“ (2017, 84).

Krastev vermutet, dass sich in diesem Paradox Differenzen politisch-historischer Kontexte widerspiegeln. Es mache einen wesentlichen Unterschied, ob man den Zusammenbruch des Kommunismus am eigenen Leibe erfahren habe oder nur aus Publikationen kenne (2017, 18). Eine wesentliche Leistung der Studie Vetters besteht nun darin, diese von den jeweiligen Transformationsverläufen geprägten Erfahrungen im Medium der Parteipolitik der behandelten Länder nachzuzeichnen.

In Polen verfolgen die Nationalkonservativen mit der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) einen Kurs, der das seit 1989 geschaffene Institutionengefüge durch einen zentralisierten Staat mit autoritären Zügen ersetzen will. Wesentliche Elemente sind dabei die systematische Schwächung des Verfassungsgerichts und eine Medienpolitik, die sich mit der Einheit von Katholizismus, Nation und Staat explizit von den Standards einer demokratischen Moderne absetzt.

Auch in Ungarn spielt die rigide, gegen oppositionelle Positionen gerichtete Medienpolitik eine wichtige Rolle auf dem Weg in die „illiberale Demokratie“ des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, bei der seine Partei Fidesz eng mit der rechtsradikalen Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) zusammenarbeitet. Mindestens in der Rhetorik kommt hier einer machtpolitisch instrumentalisierten Geschichtspolitik noch größeres Gewicht zu als in Polen. Im Versprechen der Fidesz-Regierung, Ungarn wieder zu politischer und kultureller Bedeutung verhelfen zu wollen, schwingt die kollektiv als Schmach erlebte dramatische Verkleinerung des ungarischen Territoriums nach der Niederlage der habsburgischen Monarchie im Ersten Weltkrieg mit.

In der Slowakei, unabhängig seit 1993, hat die Parlamentswahl 2016 die bisher proeuropäischen Parteien erheblich geschwächt und rechte Gruppierungen von Neoliberalen, radikalen Nationalisten und Rechtsextremen nahezu gleich stark werden lassen. Allerdings ist die Slowakei über ihre Zugehörigkeit zur Eurozone stärker in die Europäische Union integriert als die anderen Visegrád-Staaten.

In der Tschechischen Republik betreibt der (direkt gewählte) sozialdemokratische Staatspräsident Milos Zeman eine von Antiintellektualismus und Fremdenfeindlichkeit geprägte, explizit populistische Politik, die sich in Tiraden gegenüber der Europäischen Kommission gefällt und Verständnis für Russlands Annexion der Krim demonstriert. Anders aber als in Ungarn oder Polen sind in der Tschechischen Republik noch keine Tendenzen eines Abbaus demokratischer Institutionen erkennbar.

Das Gleiche gilt für die Staaten des Baltikums und Slowenien, in denen – trotz eher zersplitterter Parteiensysteme – demokratische Verfahren regelhaft funktionieren, allerdings erhebliche Probleme im Umgang mit ethnischen Minderheiten bestehen.
In seiner knappen Deutung der Anziehungskraft des Nationalismus in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas verweist Vetter – ähnlich wie Krastev – in zweierlei Hinsichten auf die Besonderheiten der historischen Räume. In sozioökonomischer Perspektive führte die von nationalen Eliten betriebene Systemtransformation mit der Einführung von Marktprinzipien bei vielfach undurchsichtigen Privatisierungen staatlicher Unternehmen und schwachen Sozialsystemen zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten und in der Folge zu Abwanderungen in durchaus dramatischem Umfang.

In kultureller Perspektive werden derartige Verwerfungen leicht als Verletzungen kollektiver Identitäten erlebt und begünstigen geschichtspolitische Beschwörungen ethnischer Homogenität als Beweis nationaler Stärke. Für Vetter ist damit nicht nur die von den osteuropäischen Mitgliedstaaten betriebene Blockade einer europäischen Flüchtlingspolitik zu erklären, sondern auch die erkennbar geringe Bereitschaft, sich im Zuge einer angemessenen Erinnerungskultur auf die jeweils eigene Geschichte – zumal während der deutschen Besetzung – zu beziehen. Der latente Antisemitismus in Polen und Ungarn sei dafür ein Beleg.

EU-weiter Aufschwung des Nationalismus?

Vergleicht man vor diesem Hintergrund Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen west- und osteuropäischen Populisten, dann zeichnet Vetter ein widersprüchliches Bild. Übereinstimmungen auf der Ebene ideologischer Versatzstücke finden sich schnell; dazu zählen Glorifizierungen von nationaler Homogenität, Traditionswerten und partikularen Leitkulturen einerseits und andererseits die Abwehr alles Fremden, sei es in Gestalt von Flüchtlingen, sei es in Gestalt eines kulturellen oder religiösen Pluralismus.

Auch die stereotype Kritik dessen, was als Brüsseler Bürokratie gilt, und der genuin populistische Habitus, die wirklichen Interessen des vermeintlichen Volkes gegenüber den politischen Eliten zu vertreten, lässt sich gleichermaßen bei einschlägigen Parteien in West- wie Osteuropa beobachten. Allerdings steht ein EU-Austritt – wie vom Front National oder der Dansk Folkeparti verlangt – nicht auf der Agenda der osteuropäischen Nationalisten. Und die Haltung gegenüber russischer Großmachtpolitik fällt in Polen und den baltischen Staaten anders aus als in Ungarn oder der Tschechischen Republik. Vetter lässt es offen, ob diese Unterschiede primär von Interessenlagen bestimmt sind oder ob sich auch darin Besonderheiten historischer Räume geltend machen – stattdessen plädiert er für eine stärker analytische Sichtweise, die den Nationalismus als gesamteuropäisches Problem begreift. Dem kann man sicher zustimmen.

Allerdings bleibt bei Vetter der Zusammenhang zwischen den „tieferen Hintergründen der Krise der EU“ (200) und dem Erstarken nationalistischer Strömungen sehr pauschal und geht über die schon bekannten Einwände gegen aktuelle Defizite der europäischen Integration nicht hinaus. Die von ihm geforderte Analyse muss an anderer Stelle und mit anderen Problembezügen noch geführt werden. Dabei wird eine Diskussion über die Krise der EU angesichts dominierender Liberalisierungsinteressen zugleich auch eine über die Krise des demokratischen Kapitalismus sein müssen (vgl. Seikel 2017).


Literatur

Ivan Krastev (2017): Europadämmerung. Ein Essay. Suhrkamp Verlag Berlin.

Daniel Seikel (2017): Verrechtlichung und Entpolitisierung marktschaffender Politik als politikfeldübergreifender Trend in der EU. In: Leviathan 45. Jg. Heft 3, S. 335-356.

 

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