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Stephanie Müssig: Politische Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Ausprägungen und Einflussfaktoren in Deutschland

16.11.2020
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Autorenprofil
Christoph Nuschko, M.A.
Wiesbaden, Springer VS 2020

Menschen mit Migrationshintergrund betätigten sich weniger politisch und zeigten eine unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung. Diese Erkenntnis motivierte Stephanie Müssig, sich mit diesem besonderen Teilgebiet des politikwissenschaftlichen Forschungszweigs der politischen Partizipation zu beschäftigen. Gründe wie ökonomische und soziale Nachteile gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund seien hinreichend bekannt, jedoch interessiert sich Müssig für die offenen, die Migration betreffenden Faktoren und ihre Auswirkungen auf die politische Betätigung von Menschen mit Migrationshintergrund. Möglich ist zudem, dass dies wiederum eine Verstärkung der genannten ökonomischen wie sozialen Nachteile zur Folge hat. Hierzu entwickelt die Autorin drei Forschungsfragen, die besonders die Wirkung migrationsbedingter Faktoren auf die politische Partizipation, die Qualität der politischen Partizipation und die Unterschiede der Partizipation zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund betreffen (2).

Zur Beantwortung der aufgestellten Forschungsfragen wertet Müssig Daten von Migranten aus über 100 Ländern aus und berücksichtigt hierbei sowohl Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit als auch Angehörige anderer Staaten. Den Begriff der politischen Partizipation fasst sie recht weit als Handlungen, „die das Ziel haben, den politischen Entscheidungsprozess zu beeinflussen“ (3), um jegliche Art der politischen Betätigung einzubeziehen (Wahlbeteiligung, Unterzeichnung einer Petition, Teilnahme an Demonstrationen, Kontakt zu Politikern sowie Mitarbeit in einer politischen Organisation). Die Daten stammen von der deutschen Teilstudie des European Social Survey (ESS).

Die überarbeitete Version ihrer Dissertation baut Müssig wie folgt auf: Im Kapitel zum theoretischen Rahmen weist sie zunächst auf den Forschungsstand hin und hebt hervor, dass eine umfangreiche Untersuchung über den Einfluss migrationsspezifischer Faktoren auf die politische Partizipation fehlt. Die beiden zentralen Begriffe der Arbeit, nämlich politische Partizipation und Migrationshintergrund, thematisiert sie im nächsten Abschnitt. Zusammenfassend stützt Müssig ihre Definition der politischen Partizipation auf Brady (1999) und unterscheidet zwischen elektoralen und nicht-elektoralen Partizipationsformen (33). Beim Begriff des Migrationshintergrundes bezieht sich die Autorin auf das Kriterium des Erhalts der deutschen Staatsangehörigkeit nach Geburt (der eigenen Person nach Jus sanguinis oder mindestens der eines Elternteils mit deutscher Staatsangehörigkeit).(34). Als letzter Bereich des theoretischen Rahmens folgt die analytische Grundlage, die auf dem Civic Voluntarism Model (CVM) von Verba et al. (1995) basiert. Danach zeichnet sich eine politische Beteiligung durch eine rationale Entscheidung aus, sodass an dieser Stelle eine Kosten-Nutzen-Abwägung stattfindet. Diese Abwägung sei stark von den zur Verfügung stehenden Gütern sowie der dafür einzusetzenden Zeit abhängig. Müssig vergleicht diese auf Ressourcen basierende Variante mit der klassischen Handlungstheorie (mit einem Fokus auf den Nutzen) und hebt den Vorteil der leichteren Messbarkeit der Ressourcenausstattung gegenüber dem subjektiven Nutzenempfinden der politischen Partizipation hervor. Im Anschluss identifiziert die Autorin Bestimmungsfaktoren der politischen Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund und weist auf die Unterscheidung zwischen der engen und der weiten Komponente des CVM hin (50). Die enge Komponente beinhalte die Partizipationsfaktoren Ressourcen, politische Involvierung und Rekrutierung, während die weite Komponente die Ursprungsfaktoren umfasse, welche die Herausbildung der Partizipationsfaktoren ein Leben lang beeinflussen, zum Beispiel Geschlecht, Bildung der Eltern oder Ethnizität.

Aus diesen theoretischen Grundlagen bildet Müssig ihr Erklärungsmodell und führt hierbei die CVM-Faktoren und migrationspezifische Faktoren zusammen (118). Dieses Modell unterteilt sie in verschiedene Schritte, sodass eine plausible Kausalitätsstruktur vorgestellt wird, auf die sie ihre Hypothesen stützt (123).

Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Unterschiede innerhalb der politischen Partizipation zwischen Personen (mit Migrationshintergrund) der ersten Generation, der Folgegeneration sowie zwischen Personen ohne Migrationshintergrund (192). Hierbei wurde zudem die Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund in eine mit und eine ohne deutschen Pass unterteilt. Es zeigte sich, dass Personen der ersten Generation in politisch weniger aktiv sind als Personen ohne Migrationshintergrund (196). Die geringen Unterschiede zwischen der ersten Generation und der Folgegeneration seien abhängig von der Staatsangehörigkeit und der Partizipationsform, wodurch sich die Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund als heterogen erwies. Zudem waren die Unterschiede davon abhängig, aus welchem Land die Person kam und welche Art der Partizipation betrachtet wurde. Unter den Partizipationsformen überwog mit Abstand die Beteiligung an der Bundestagswahl. Dies gilt erwartungsgemäß nur für Deutsche ohne Migrationshintergrund sowie für Deutsche mit Migrationshintergrund (erste und Folgegeneration). Bei Menschen mit Migrationshintergrund und ohne deutsche Staatsbürgerschaft lagen protestorientierte Aktivitäten an erster Stelle, gefolgt von den parteinahen Partizipationsformen. (256)

Ein signifikant verstärkender Faktor für eine hohe politische Partizipation zeigte sich bei der Betrachtung der politischen Sozialisation, während die ebenfalls zu verzeichnenden positiven Tendenzen bei der Bildungssozialisation nur in der deutschen Gruppe und nur bei protestorientierten Aktivitäten auftraten. (283) Hinsichtlich der Faktoren der politischen Rechte, des familialen Migrationshintergrunds und religiöser Partizipation konnte kein signifikanter Einfluss auf die politische Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund identifiziert werden (284). Dies unterstreicht die von Müssig angesprochene Heterogenität dieser gesellschaftlichen Gruppen.

Die Arbeit konnte wie von ihr richtig dargestellt einen Fokus auf einen in vier Gruppen unterteilten Teil der Gesellschaft werfen, dem bisher lediglich wenig wissenschaftliche Beachtung zuteil wurde. Sie konnte die bestehenden Unterschiede in der politischen Partizipation innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund sichtbar machen und dieses Feld mit einer umfassenden ressourcenbasierten Analyse auf essenzielle migrationsspezifische Faktoren hin untersuchen. Einige ihrer Hypothesen ließen sich dabei nicht bestätigen, doch ist es Müssig gerade dadurch gelungen, Licht ins Dunkel eines bisher wenig beachteten Forschungsbereichs zu bringen.

 

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Literatur

Daniel König
Politische Partizipation von Migranten in Europa
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Nina Hossain et al.
Partizipation – Migration – Gender. Eine Studie über politische Partizipation und Repräsentation von Migrant_innen in Deutschland
Nomos 2016

 

Martina Sauer
Politische und zivilgesellschaftliche Partizipation von Migranten
In: Brinkmann H., Sauer M. (eds) Einwanderungsgesellschaft Deutschland
Springer VS 2016


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