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Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem

14.01.2020
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Autorenprofil
Dr. phil. Tamara Ehs
Ditzingen / Stuttgart, Reclam 2019

Um mit dem weitverbreiteten Lamento von der „Krise der Demokratie“ im Zeitalter der sogenannten „Postdemokratie“ gründlich aufzuräumen, benötigt Stephan Lessenich nur wenige Seiten. Die „Demokratiemelancholie“ (14), diese Nostalgie nach den angeblich goldenen Jahren, jenem „kurzen Sommer der Demokratie“ (13), der seit den 1980er-Jahren ein schleichendes aber sicheres Ende erfahre, bilde zwar den narrativen Mainstream, blende dabei aber einen wichtigen Teil der Geschichte aus. Richteten wir den Blick nämlich auf jene, die in den fetten Jahren eine demokratische Schattenexistenz führten – Frauen, Migranten, Nichterwerbstätige – müssten wir uns eingestehen: Wir sind nie so demokratisch gewesen; und der sehnsüchtige Blick in die verklärte Ära Brandts, Schmidts oder Kreiskys ist somit bloß Ausdruck von Unwissen oder Ignoranz. Lessenich bietet daher eine Gegenerzählung und macht eine „Bruttorechnung“ (26) der Demokratie auf. Darin sind all die vernachlässigten Kosten enthalten, jene zahlreichen Schließungen, die die schrittweise Öffnung der Teilhabe forderte. Er ordnet den Kampf um die Demokratie in vier Arenen, die nicht bloß historisch aufeinander folgen, sondern vielmehr immer schon gleichzeitig verliefen: Klassen, gesellschaftlicher Status (nach Geschlecht, Bildung, Alter), Staatsbürgerschaft sowie Natur/Umwelt.

In diesen Konflikten wird soziale Ungleichheit immer wieder aufs Neue hergestellt, indem die eben erst demokratisch Neuberechtigten versuchen, ihre Position zu wahren und sich (nach unten, gegen das andere Geschlecht, gegen Ausländer*innen etc.) abzugrenzen. Die titelgebenden „Grenzen der Demokratie“ definieren die umkämpfte Ressource Teilhabe, also die Möglichkeit, die Verhältnisse der eigenen sozialen Existenz (mit-)zubestimmen. Das Kampffeld befindet sich dabei stets innerhalb der Logik einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Deshalb „suchen Gruppen auf jeder Hierarchiestufe der Sozialstruktur, die verbleibenden Lebenschancen zu monopolisieren und gegen ein jeweils noch weiter abgehängtes Unten zu schließen“ (32). Glaubte die weiße, männliche, industrielle Arbeiterschaft der Nachkriegsgesellschaft den Kampf um die Demokratie gewonnen zu haben, funktionierte dieses „soziale Grenzregime“ (53) doch nur für ihresgleichen halbwegs gut. Es beruhte nämlich auf einem gesellschaftlichen Distinktionskonflikt, der sich in der fehlenden Gleichberechtigung der Frauen sowie im Gastarbeiterregime als neuer Unterschichtung abzeichnen sollte. Außerdem – der Autor vergisst nicht darauf hinzuweisen – geht die Demokratie auch für die Gewinner*innen stets nur so weit, wie es die besitzende Klasse zulässt: „Im Sinne einer gleichen Teilhabe an der Gestaltung der eigenen Arbeitsverhältnisse macht Demokratie immer noch vor den Werkstoren, Bürotürmen und virtuellen Arbeitswelten Halt“ (46). Das Privateigentum fungiere nämlich seit jeher als Schließungsform und scheint ebenso unentgrenzbar wie das Ein- und Ausschlusskriterium der Staatsangehörigkeit.

Jener „nationalen Berechtigungsgemeinschaft“ (60) widmet Lessenich einen Großteil seiner Überlegungen. Er sieht hier klassen- und konkurrenzgesellschaftliche Konflikte wirken, die zahlreiche als schon überwunden erzählte Ungleichheitsstrukturen wieder sichtbar machen: Im Ausschluss von Nichtstaatsbürger*innen an der demokratischen Teilhabe im Land ihres ständigen Aufenthalts offenbaren sich soziale Distinktionslinien nach Klasse, Geschlecht, Alter und Ethnie. Die nationalstaatlich eingehegte Demokratie ist angesichts der Globalisierung abermals deutlich als Klassenfrage erkennbar geworden. Und je prekärer die Statusposition der einheimischen Berechtigten, desto stärker wirkt die Konkurrenzlogik, nicht auch noch „Fremde“ am Teilhabewettbewerb zuzulassen.

Lessenich leistet mit seiner Analyse einen wichtigen Beitrag zum Verständnis aktueller Gesellschaftskonflikte, die sich nicht nur in einem Anstieg von Rassismus und Nationalismus manifestieren, sondern auch Sexismus und Frauenhass aus dem Blickwinkel „sozialer Deklassierungserfahrungen“ (93) thematisieren. Was gemeinhin als Postdemokratie bezeichnet wird, stellt nach dem Münchner Soziologen viel eher einen Bruch mit dem alten Gesellschaftsvertrag dar (89): Der wohlfahrtsstaatliche Kompromiss ist kapitalseitig aufgekündigt, der fordistische Geschlechtervertrag gebrochen, der (post-)koloniale Konsens mitsamt der weiterbestehenden Asymmetrie zwischen „Erster Welt“ und „den anderen“ brüchig geworden und zuletzt stellt die Klimakrise auch noch unsere imperiale Lebensweise infrage.

Dass Lessenich mit dem Thema Natur/Umwelt eine vierte Arena des Kampfes um die Demokratie benennt, verdeutlicht, wie sehr das Metanarrativ Klimakrise mittlerweile auch die Politikwissenschaft erreicht hat. Der Autor gibt diesem Kapitel die Überschrift „Alle gegen Eine“ (70) und spricht von einem „Krieg gegen die Natur“, einer „Praxis der Destruktion“ (72). Er erinnert, dass die bislang erkämpfte Demokratie auf kapitalistischer Logik und damit auf einem Raubbau an der Natur basiert. Es handle sich dabei um eine soziale Schließung gegenüber der natürlichen Umwelt: „Die wirtschaftliche Wertschöpfungsbasis der demokratischen Berechtigungsgesellschaft speist sich aus billiger Natur, aus der ‚unbezahlten Arbeit‘ von Äckern und Wäldern, Ölquellen und Eisenerzlagerstätten, Meeren und Fischgründen – und in der Regel schlecht bezahlter Arbeit jener, die diese ‚Rohstoffe‘ als unmittelbare Produzent*innen ‚in Wert setzen‘“ (75). Jene Sorgearbeit der Natur ist ebenso wenig in der demokratischen Meistererzählung angeführt wie die nach Geschlechtern ungleich verteilten Tätigkeiten des Pflegens und Sich-Kümmerns, auf denen unsere Gesellschaft so sehr beruht. Lessenich stellt daher die berechtigte Frage, ob diese „Grenzbeziehungen“ (80) der Demokratie etwa selbst das Problem sind. Im abschließenden Kapitel antwortet er darauf mit der Notwendigkeit sozialer und ökologischer Entgrenzung, die allein durch Solidarität erreicht werden könne. Es gehe um nicht weniger als die „Emanzipation vom Dominanzanspruch“ (100) gegenüber anderen Menschen, aber auch gegenüber der Natur. Konkret bedeute dies, durch solidarische Kämpfe die herrschende Verteilungsordnung in Frage zu stellen und Realutopien wie ein Wahlrecht für alle, die das jeweilige politische Gemeinwesen bevölkern, zu erstreiten.

 

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Rezension

Stephan Lessenich

Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis

München, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag 2016

Spätmoderne Wohlstandsdemokratien beruhen auf zwei essenziellen Grundnarrativen, die unabdingbar für das Funktionieren der kapitalistischen Lebensweise sind: 1. Wachstum ist unbegrenzt möglich und 2. ein bestimmtes Maß an sozialer Ungleichheit legitim, solange alle vom Wohlstand profitieren können. Stephan Lessenich unterzieht dieses Modell westlicher Wohlstandsgesellschaften einer scharfsinnigen Kritik, da zur Selbststabilisierung dieser Lebensweise die negativen Effekte systematisch in andere Weltregionen auslagert werden.
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