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Paul Collier: Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft

07.06.2019
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
München, Siedler Verlag 2019

Der Untertitel trifft es. Das Buch ist ein Manifest, eine politische Streitschrift. Wer Paul Collier kennt, etwa durch sein 2016 veröffentlichtes Werk „Exodus“, der begegnet hier einem durchaus neuen Collier: einem, der zahlreiche konkrete Vorschläge machen will, wie der Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Niedergang der Sozialdemokratie oder der Aufstieg des Populismus aufgehalten werden können.

Als Volkswirt bekräftigt Collier zunächst grundsätzlich sein Vertrauen in den dezentralen, marktgestützten Wettbewerb als den Kern marktwirtschaftlicher Systeme. Diese sind aus seiner Sicht der einzige Weg, um Wohlstand zu schaffen. Er befürchtet jedoch, dass der moderne Kapitalismus zunehmend eine „Rottweiler-Gesellschaft“ (73) erzeugt und plädiert für einen stärker moralisch fundierten Kapitalismus. Moral und Kapitalismus seien mitnichten ein Widerspruch in sich. Hier nimmt er sich Adam Smith als Kronzeugen, der im Menschen eben nicht einen homo oeconomicus sah. Vielmehr verfüge der Mensch über Empathie und aus den Gefühlen – nicht dem Verstand – entspringende Sittlichkeit. Aus Sicht von Collier sind die von ihm beschriebenen Probleme marktwirtschaftlicher Systeme keine wesensinhärenten Merkmale des Kapitalismus, sondern Ergebnisse politischer Fehlsteuerung – und genau die will er angehen.

Doch zunächst wird analysiert. Medizinisch bedeutet das Wort manifest, dass etwas im Laufe der Zeit erkennbar wird. Was das ist, arbeitet Collier in der seinen Vorschlägen vorangestellten Analyse heraus (43-174). An drei Stellen setzt er an: Das ethische Verhältnis zum Staat habe sich zum Schlechten geändert (und müsse wieder erneuert werden); Gleiches gelte für das ethische Verhältnis zu Unternehmen und zu Familien. Um es gleich vorwegzunehmen: Seine Antwort ist interessanterweise mehr konservativ denn dem liberalen oder dem aktuell sozialdemokratischen Mainstream zuzuordnen. Das Verhältnis zum Staat müsse wieder weniger nutzenbasiert (Transferleistungen) und mehr auf reziproke Verpflichtungen der Menschen untereinander ausgerichtet werden. Familienverpflichtungen etwa müssten entgegen dem Zeitgeist des Individualismus wieder gestärkt werden.

Der Kern seiner Analyse ist dem folgenden Ausschnitt am Ende des Buches zu entnehmen: „Gut funktionierte der Kapitalismus zuletzt zwischen 1945 und 1970. In dieser Zeit bestimmte eine kommunitaristische Form von Sozialdemokratie, die die großen politischen Volksparteien durchdrang, die Politik maßgeblich. Aber die ethischen Grundlagen der Sozialdemokratie zerfielen. Ihren Ursprung hatte sie in den Genossenschaftsbewegungen des 19. Jahrhunderts gehabt, die entstanden waren, um den drängendsten sozialen Missständen der Zeit abzuhelfen. Ihre Narrative der Solidarität wurden zur Grundlage eines immer dichter geknüpften Netzes wechselseitiger Verpflichtungen, die sich der aus diesen Verhältnissen erwachsenen Ängsten annahmen. Aber die Führung der sozialdemokratischen Parteien ging von der Genossenschaftsbewegung auf utilitaristische Technokraten und rawlsianische Juristen über. Ihre Ethik spricht die meisten Menschen nicht an, und Wähler kehrten sich allmählich von ihnen ab.“ (275)

Immer wieder kehrt Collier zur Sozialdemokratie zurück, in die er seine Hoffnung für eine Erneuerung des Kapitalismus legt. Zugleich fordert er, dass sich die Sozialdemokratie ändern müsse – womit er keineswegs einzelne Parteien, sondern mehr eine Geisteshaltung meint. Teilweise scheint es, als wolle Collier gar eine kleine Revolution gegen eine intellektuell träge gewordene Sozialdemokratie anzetteln. Er glaubt, die Sozialdemokratie müsse sich von der Grundlinie des Utilitarismus befreien. Die politische Linke fordere vor allen Dingen Gerechtigkeit und sehe diese in erster Linie durch Transfers verwirklicht. Die politisch konservative Seite fordere dagegen in erster Linie Moral und ihre Ethik sei viel stärker eine der Loyalitäten. Diese stärkere Notwendigkeit sozialer Verpflichtungen tritt bei Collier deutlich hervor, wenn er etwa beklagt, dass ständig neue Rechte geschaffen werden, ohne weitere Verpflichtungen gegenüber Staat und Gesellschaft damit zu verbinden. Der derzeitige politische Diskurs reduziere moralischen Normen immer nur auf einklagbare, individuelle Rechte und Ansprüche, während Verpflichtungen auf den Staat abgewälzt werden. Collier provoziert dabei gerne – staubtrocken und nüchtern im Ton, aber mit Sprengkraft in der Aussage: beispielsweise wenn er von der Rolle eines Nationalgefühls schreibt: Der wirtschaftliche Strukturwandel produziere eine ständig wachsende Anzahl von Verlierern. Während Besserverdienende Identität aus ihrer Arbeit ziehen, klammern sich Menschen mit niedrigerer Qualifikation vor allen Dingen an ihre Nationalität. Hochqualifizierte neigten hingegen dazu, das eigene Land aktiv herabzuwürdigen, um sich selbst aufzuwerten. Genau das erzeuge Konflikte mit geringer Qualifizierten (78-82).

Was er zur Familienpolitik schreibt, dürfte seinen linksliberalen Lesern ebenfalls seltsam anmuten: Nach der Erschütterung traditioneller Familien durch die Antibabypille habe sich ein intellektueller Individualismus breitgemacht: Verpflichtungen gegenüber der Familie hätten nachgelassen zugunsten einer „Verpflichtung zur Selbstverwirklichung“ (142), vor allem durch Leistung. Die Expansion der Universitäten habe die Partnersuche verändert. Früher hätten akademisch gebildete Männer auch weniger gebildete Partnerinnen geheiratet. Heute treffe man viel häufiger „assortative Paarung“ (143) mit „Treibhausförderung ihrer Kinder“ (145). An die Stelle einer den Mitgliedern gegenseitig ethisch verpflichteten Großfamilie trat das, was Collier dynastische Kernfamilie nennt. Am unteren Ende der sozialen Leiter kam es derweil zu einer dramatischen Zunahme von Teenager-Schwangerschaften bei Menschen mit geringem Bildungsniveau. Der paternalistische Staat kümmerte sich und unterstützte im Sinne der Rechte von Kindern, was wiederum zu mehr Kinderreichtum an dieser Stelle führte. Die Zahlen seien mittlerweile beunruhigend: In den USA haben zwei Drittel aller Kinder von Ein-Eltern-Familien einen niedrigen Bildungshintergrund. Die Verantwortung für deren Kindererziehung habe sich zunehmend auf den Staat verlagert; Familien seien zu leeren Hüllen geworden.

In der Steuerpolitik – vor allem gegenüber Unternehmen – schlägt Collier Innovationen vor. Um Renteneinkommen zu erwartender Quasi-Monopole eines Plattform-Kapitalismus (Nick Srnicek) besser abschöpfen zu können, plädiert er für mehr Versteigerungen von Rechten und veränderte Steuerverfahren – bei Unternehmen wie auch bei Reichen: Körperschaftsteuersätze sollten nach Betriebsgrößen differenziert werden, Einkommenssteuern neben der Höhe einen Aufschlag für Metropolen erhalten.

Gerade die geografische Spaltung macht ihm Sorgen. Um das Jahr 1980 setzte eine wachsende Kluft der Einkommensunterschiede zwischen den Regionen ein. Skaleneffekte und zunehmende Spezialisierung katapultierten manche Städte nach vorne. Die Explosion des Wissens und die zunehmende Globalisierung schufen neue Möglichkeiten für den Aufstieg von Metropolen. Der Staat müsse zwischen Provinzstädten im Niedergang und boomenden Metropolen ausgleichen. In der Überwindung der geografischen Spaltung schlägt er zwei Strategieelemente vor: die Besteuerung der Metropolen und die Nutzung der freiwerdenden Mittel zur Erneuerung peripherer Räume. Insbesondere die Renten von Grundstückseigentümern in Metropolen sollten besser abgeschöpft werden.

Fazit: Paul Collier hat wieder ein lesenswertes Buch geschrieben. Seine Analyse ist klar, präzise und bei einem hohen Abstraktionsniveau auf das Wesentliche reduziert. Seine Vorschläge für Veränderungen sind bedenkenswert. Manchmal jedoch sind einige Passagen des Manifestes zu lang und zu sperrig zu lesen – etwa, wenn die den Volkswirten eigene Neigung zur ‚Modellitis‘ überhandnimmt und die Leser*innen erst einige Schleifen drehen müssen, bevor der Autor zum Kern seiner Argumentation zurückkehrt.

 

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