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Kein Patentrezept. Ansätze der De-Radikalisierungsforschung

24.02.2017
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Michael Rohschürmann

Während über die Radikalisierung und Rekrutierung von islamistischen Extremisten insbesondere seit einem Jahrzehnt intensiv geforscht wird, hat es bis vor Kurzem relativ wenig Literatur zum Thema De-Radikalisierung gegeben. Der Prozess der De-Radikalisierung ist nicht nur als Radikalisierungsprozess in umgekehrter Richtung zu verstehen. Vielmehr zeigen neuere Forschungen, dass die De-Radikalisierung ihre eigenen charakteristischen Merkmale zu haben scheint, die sich teilweise von den Faktoren unterscheiden, die mit der anfänglichen Radikalisierung verbunden sind. Mit dieser Fragestellung befassen sich unter anderem zwei Studien, die im Folgenden näher vorgestellt werden. Für die US-amerikanische Denkfabrik RAND-Corporation haben Angel Rabasa et al. eine Studie vorgelegt, die eher theoretisch angelegt und als Versuch zu verstehen ist, generalisierbare Kriterien für den Erfolg von De-Radikalisierungsmaßnahmen auszumachen. Hamed El-Said, Professor für Internationale Wirtschaft und Politische Ökonomie an der Manchester Metropolitan University, setzt sich mit verschiedenen De-Radikalisierungskonzepten anhand von Länderbeispielen – von Australien bis zum Sudan – auseinander. Zusammen sind beide Studien als Einstiegs- und Überblickslektüre sehr zu empfehlen, zumal sie sich in wesentlichen Teilen bestätigen oder ergänzen.

kinder am zaunFlüchtlingslager im Irak. Foto: Michael RohschürmannHamed El-Said erklärt grundsätzlich den „kinetischen Ansatz“ (4) des Krieges gegen den Terrorismus als gescheitert. Er plädiert dafür, den „conventional wisdom“ in der Ansicht, wie es zu Radikalisierung kommt, zu hinterfragen und sieht eine Vielzahl von Faktoren, die sich nicht auf Entfremdung, Ideologie und „das Internet“ (74) eingrenzen lassen. Häufig ist einer der Gründe eines individuellen Radikalisierungsprozesses auch in den (empfundenen) inneren Widersprüchen eines Staates zu sehen. Rabasa et. al. stellen fest, dass die De-Radikalisierung zumeist Teil der Counter-Insurgency-Strategien (COIN) nicht-westlicher Länder ist und unterscheiden systematisch zwischen Disengagement (radikale Islamisten schwören der Gewalt ab, behalten aber ihre radikale Ideologie) und De-Radikalisierung (bei der auch die Ideologie geändert wird). El-Said macht diese Unterscheidung nicht und spricht grundsätzlich von Counter-De-Rad-Maßnahmen. Beide Studien geben indes an, dass europäische Länder zumeist auf Prävention mittels Integrationsmaßnahmen für ihre muslimischen Minderheiten setzen. Hier wird ein großer Unterschied zwischen westlichen und nicht-westlichen Staaten gesehen, der vor allem in den unterschiedlichen Optionen begründet liegt, die mehrheitlich islamische Staaten und mehrheitlich nicht-islamische Staaten haben. Generell sind De-Radikalisierungsprogramme nicht zwischen Ländern austauschbar, da sie immer Kultur, Normen und Gesetze des jeweiligen Landes als Grundlage haben müssen (Rabasa et al., xxii und El-Said, 13).

Ein Teil der Forschungsgemeinde lehnt allerdings grundsätzlich das Konzept der De-Radikalisierung ab, da sie es für unwahrscheinlich halten, dass sich in Ideologie und Religion begründete Denkmuster ändern lassen. Rabasa et. al. fokussieren in der Folge mehr auf den Disengagement-Ansatz, der allerdings das Problem birgt, dass ein Extremist jederzeit zum bewaffneten Kampf zurückkehren kann, wenn sich seine Sicht der Lage und/oder die Rahmenbedingungen ändern. Demgegenüber steht, dass bei genügender Anzahl von Mitgliedern (vor allem von prominenten Führern) einer radikalen Gruppe, die dem Kampf abschwören, der gewaltsame Weg als solcher diskreditiert werden kann.

Da individuelles Disengagement zumeist nach einem Trigger-Ereignis (einer persönlichen Krise, einem Fehlschlag oder der Verhaftung) zum Tragen kommt, setzen viele entsprechende Rehabilitierungsprogramme in islamischen Ländern im Gefängnis an. Gerade in diesem Setting ist der Islamist/Gefangene am ehesten an einer Kooperation mit den staatlichen Behörden interessiert, um seine Situation zu verbessern oder gar um freigelassen zu werden. Vor diesem Hintergrund betonen Rabasa et al., dass Repression alleine nicht ausreicht, um einen entsprechenden Kooperationswillen zu erzeugen. El-Said führt aus, dass viele Counter-De-Rad-Programme in islamischen Staaten in Wirklichkeit nichts weiter sind als Maßnahmen zu Verbesserung der Haftbedingungen.

Die persönliche Hingabe des Einzelnen an die Ideologie beziehungsweise für das Ziel der Gruppe messen Rabasa et al. entlang der Faktoren Affective Commitment (emotionale Sympathie mit den Zielen der Gruppe), Pragmativ Commitment (praktischer Nutzen für den Einzelnen oder sein Umfeld/seine Familie) und Ideological Bonds (ideologische Bindungen). Letztere stellen das wichtigste Motiv dar, um auch unter schlechten Bedingungen wie Niederlagen, Misserfolgen und Verfolgung durch die internationale Gemeinschaft und nationale Behörden durchzuhalten. Zudem bieten sie eine Rechtfertigungsgrundlage, mit der kognitive Dissonanzen überwunden werden können. Sollen Änderungen der Denkmuster erfolgreich sein, müssen alle Faktoren gleichzeitig adressiert werden.

Damit kommen wir zum Aspekt der unterschiedlichen Optionen für islamische und nicht-islamische Staaten. Rabasa et. al. kommentieren richtig: „Culture Matters!“ (xxii). In mehrheitlich islamischen Staaten ist vor allem das Konzept des theologischen Disputes zwischen Islamisten und moderaten Meinungsführern/islamischen Gelehrten verbreitet, als dessen Musterbeispiel ein solches Projekt im Jemen genannt werden kann. Während dieser Weg vor allem den affektiven und den ideologischen Faktor adressiert, birgt er jedoch auch ein großes Risiko: Häufig wird nicht Gewalt als solche negativ konnotiert, sondern lediglich Gewalt gegen den – in diesem Fall als islamisch gesetzten – Staat. Damit bleibt es den Extremisten immer noch unbenommen, in anderen Ländern für ihre Sache zu kämpfen. Während auf diese Weise das Problem einer Thematisierung bestimmter gewalttätiger Koranstellen und Prophetenüberlieferungen umgangen wird, ist es ein probates Mittel für die betreffenden Länder im Kampf gegen nationalen Terrorismus. Gleichzeitig ist es international – auf diese Weise durchgeführt – kaum hilfreich. Ebenso mangelt es auch an entsprechenden Langzeitdaten zur Effektivität dieser Programme. Fest steht jedoch, dass eine Nachsorge auch nach einer Entlassung aus dem Gefängnis unabdingbar ist und die bisher vorliegenden Daten zeigen, dass eine Einbindung der Familie der Islamisten in die Programme die Erfolgschancen nochmals erhöht. Hierzu bietet El-Said mit einem Programm aus Mauretanien ein Praxisbeispiel an, in dem 60 Gefangene in einer speziellen Einrichtung sowohl Bildungsmaßnahmen als auch theologische Schulungen durchliefen, bei denen auch die Familien eingebunden wurden. Offiziellen Angaben zufolge konnten 37 von ihnen entlassen werden, wobei beide Studien betonen, dass solche Erfolgsmeldungen seitens staatlicher Programme mit Vorsicht zu lesen sind.

Auch kollektive De-Radikalisierung ist möglich, wenn, Rabasa et al. zufolge, die meisten Führer einer Gruppe getötet oder festgesetzt wurden. Wichtig dabei ist, dass entsprechende Bekenntnisse zu einem Ende der Gewalt öffentlich gemacht werden und die einflussreichen Wortführer der Gruppe die Gründe ihres Gesinnungswandels öffentlich darlegen müssen, um eine Rückkehr zur Gewalt unter dem Argument, der Gewaltverzicht sei nur unter Druck zustande gekommen, zu erschweren.

El-Said und Rabasa et al. sind sich einig, dass sowohl COIN als auch De-Radikalisierung nur im internationalen Verbund funktionieren können. Da gerade in westlichen Ländern viele Radikalisierungsprozesse im Gefängnis ablaufen, sollten sich europäische Staaten auch überlegen, neben den prophylaktischen Maßnahmen Aussteigerprogramme in Gefängnissen aufzulegen. Gerade bei den europäischen Präventionsprogrammen muss sorgsam auf die Auswahl der Partner geachtet werden. Auch sollte der Umstand, dass moderate Wortführer durch die Kooperation mit dem Staat diskreditiert werden können, immer in Betracht gezogen werden.

El-Said betont, dass es kein „silver bullet“ (43) für entsprechende Programme gibt und beispielsweise auch das Konzept des religiösen Disputes in westlichen Gesellschaften möglich sei ebenso wie die Einbindung kommunaler Wortführer und Autoritäten, was am Beispiel Australien deutlich gemacht wird. Dort zeigte ein entsprechendes Programm erste Erfolge, blieb allerdings lediglich auf wenige Städte beschränkt. Ein weiteres Fallbeispiel ist Singapur, wo vermieden wurde, eine bestimme Gruppe (Muslime) als Adressaten entsprechender Maßnahmen zu betonen. Vielmehr wurde Terrorismus als nationales Problem aller Ethnien und Religionen verstanden, dessen Bekämpfung gleichfalls in der Verantwortung aller liege. Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass der Sudan als Beispiel für einen Staat mit erfolgreichen De-Radikalisierungsmaßnahmen genannt wird. Dort wurde die geforderte Einbeziehung der Gelehrten und Ältesten erfolgreich praktiziert (174 ff.). Allerdings sind durch die Rahmenbedingungen der ethnischen Konflikte und des Bürgerkrieges die positiven Ansätze inzwischen zum Scheitern verurteilt. Zudem hebt El-Said die Türkei als ein Land hervor, das wichtige Lehren aus seinem Terrorismusproblem gezogen habe, deren bedeutsamste darin liege zu erkennen, dass Terror nicht militärisch bekämpft werden könne. Hier ist das Buch von 2015 leider von der Realität der Ereignisse in der Türkei eingeholt worden – was allerdings der Erkenntnis keinen Abbruch tut.

Beide Studien eignen sich, vor allem wenn sie zusammen gelesen werden, sehr gut für einen Einstieg ins Thema und motivieren hoffentlich noch viele Forscherinnen und Forscher, in diesem Feld Beiträge zu leisten.

 

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Bibliografische Angaben

Hamed El-Said

New Approaches to Countering Terrorism. Designing and Evaluating Counter Radicalization and De-Radicalization Programs

Basingstoke, Hampshire, England, Palgrave 2015 (New Security Challenges)

 

Angel Rabasa / Stacie L. Pettyjohn / Jeremy J. Ghez / Christopher Boucek

Deradicalizing Islamist Extremists

Santa Monica CA u. a., National Security Research Division, RAND Corporation 2010, Quelle: http://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/monographs/2010/RAND_MG1053.pdf


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