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Stefan Schmalz: Machtverschiebungen im Weltsystem. Der Aufstieg Chinas und die große Krise

10.09.2019
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Josie-Marie Perkuhn
Frankfurt/M., Campus 2018

Chinas Aufstieg stellt die internationale Ordnung vor neue Herausforderungen. Eine der bedeutendsten Veränderung in der Weltpolitik ist die wachsende Interdependenz. Sie besteht in den vielfältigen Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten, die sich insbesondere in der zunehmenden wirtschaftlichen Integration zeigen. Als die wichtigste aufstrebende Wirtschaftsmacht ist Chinas ökonomische Entwicklung nicht nur Motor, sondern auch zum Gradmesser für die Weltwirtschaft geworden. Mit diesem Buch veröffentlicht Stefan Schmalz seine Habilitationsschrift und präsentiert darin eine soziologische Perspektive auf Chinas Aufstieg vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise 2008/2009.

Schmalz fragt allgemein danach, wie Macht im kapitalistischen Weltsystem ausgeübt wird, und speziell, wie weit die Machtverschiebung nach China bereits fortgeschritten ist und welche globalen Strukturen davon betroffen sind (14). Einleitend hält Schmalz fest, dass China auf eine Netzwerk-Governance hinsichtlich „Handel, Finanzen und Investitionen setze, um eine Reform der globalen Machtstrukturen anzustoßen“ (36). Allerdings würde China keine alternativen hegemonialen Strukturen in absehbarer Zeit aufbauen können, sodass eine „instabile Phase der Multipolarität“ (36) zu erwarten sei.

Mittels der Weltsystemtheorie verbindet Schmalz den chinesischen Aufstieg mit der Weltwirtschaftskrise. Es geht ihm darum, „einen Beitrag zur Beschreibung der heutigen Epoche zu leisten“. Er stellt dazu die These auf, „dass sich im kapitalistischen Weltsystem eine langsame Machtverschiebung zugunsten Chinas vollzieht, die sich bereits in verschiedenen Machtstrukturen, insbesondere in der Produktion, aber auch den Finanzen und dem Zugriff auf Ressourcen, äußert“ (32). Die Finanz- und Wirtschaftskrise habe als Katalysator gewirkt und so sind „die Krise des westlichen Finanzmarktkapitalismus und der Aufstieg Chinas als Werkstatt der Welt [...] letztlich zwei Seiten einer Medaille“ (32).

Allerdings bleibt bei der detailreichen Analyse dieser vielschichtigen Wechselwirkungen und Wechselbeziehungen der einschlägige Mehrwert dieses theoretischen Aufbaus zurück. So bleibt dem Autor selbst unklar, „ob die gesellschaftlichen Krisenauswirkungen und wachsenden geopolitischen Spannungen als Zentrifugalkraft wirken werden und sich so eine gefährliche Mischung aus reaktionärer Krisenbearbeitung im Norden und geopolitischem Revisionismus und neuem Nationalismus in China zusammenbraut“ (410). Wie sich also die (gesellschafts-)politischen Kräfteverhältnisse in den jeweiligen Weltsystemzonen entwickeln, fällt dem Autor schwer zu bewerten und daher bleibt eine Einschätzung gänzlich aus.

In den ersten zwei Kapiteln widmet sich Schmalz der soziologischen Fundierung seines krisenbezogenen Machtverschiebungstheorems. Dazu bemüht er den Ansatz der räumlichen Verfasstheit, auch spatial turn, mit dem theoretischen Gerüst zu globalen Krisenansätzen zu verknüpfen. Die historische Makrosoziologie bestimmt den methodischen Zugang, wobei das Weltsystem als zentrale Analyseebene gesetzt ist und Weltregionen als Zwischenebenen einbezogen werden mit konditionierenden Auswirkungen auf die einzelnen Staaten – wie hier China. Das kapitalistische Weltsystem ist Teil des Strukturmerkmals und damit unabhängige Variable. In Abhängigkeit dazu gestalten sich die globalen Machtstrukturen durch die „Rezentrierung der Kapitalakkumulation“ (83). Mittels dieses Ansatzes soll der Fokus auf die Wechselwirkung zwischen globalen Prozessen und nationaler Ebene untersucht werden. Dazu bedient sich Schmalz eines Phasenmodells, das auf dem Machtverschiebungstheorem basiert und die weitere Studie dahingehend strukturiert, dass die nachfolgenden Kapitel jeweils einer Phase zuzuordnen sind.

Beginnend mit einer Zwischenbilanz gibt Schmalz in Kapitel 3 einen Überblick über die Machtstrukturen vor der Rezentrierung im amerikanischen Jahrhundert und ordnet die Entwicklung zu einer sozialistischen Marktwirtschaft in China ein. Im Jahrzehnt vor der Krise ermittelt der Autor bereits erste Machtverschiebungen (Kapitel 4). So überstand China die Asienkrise von 1997/98 und etablierte über die wachsende wirtschaftliche Aufmerksamkeit den globalen Einfluss. Ein entscheidender Punkt liegt in der neuen Süd-Süd-Kooperation der aufstrebenden Märkte, wie die BRICS. Hiermit etablierte sich eine regional wirksame Zwischenstruktur, die weltwirtschaftlich zur Entwicklung in zwei Geschwindigkeiten führte und China dazu veranlasste, zum Beispiel die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) zu initiieren (Kapitel 5).

In den weiteren Kapiteln behandelt Schmalz der Logik des Phasenmodells folgend die transatlantische Finanzkrise, die Eurokrise sowie das Schwanken zwischen Krisenherd und Wachstumstreiber bezüglich des globalen Südens. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise tritt ein Wendepunkt ein und die Auswirkungen auf das globale Machtgefüge werden sichtbar. Die in den USA begonnene Immobilienblase breitet sich zunächst über die transatlantische Verflechtung aus und wird förmlich zum Flächenbrand. China sei gerade wegen der Produktionsstruktur als großer Gewinner aus der Finanzkrise hervorgegangen, behauptet Schmalz.

In der Folge der Eurokrise und der ausgerufenen go global-Kampagne setzte China die eingeleiteten Krisenreaktionen fort und avancierte mit einem neuen Wirtschaftsmodell zum globalen Akteur. In dieser Entwicklung sieht Schmalz eine Machtverschiebung in der Konsolidierung. Im folgenden Krisenjahrzehnt trafen mehrere Veränderungsfaktoren aufeinander, die sich auf die Machtverschiebung auswirkten. So änderte sich die globale Wachstumsdynamik, zum Beispiel bezüglich der Handelsströme, und der wachsende, US-amerikanische Protektionismus unter Donald Trump zog seine Kreise. Machtverschiebungen manifestierten sich auch in der Stärke chinesischer Unternehmen, sodass China in den globalen Produktionsnetzwerken wichtiger wurde.

Diese Zusammenhänge untersucht Schmalz mit Blick auf den globalen Süden im dazugehörigen Kapitel näher. Die Rohstoff- und Schwellenländerkrise sei zwar ein Dämpfer gewesen, dennoch habe sich der „Wachstumstreiber“ bewährt und so habe China die Krise verhältnismäßig gut meistern können. In Bezug auf den hegemonialen Kontrahenten im Weltmachtgefüge hält Schmalz zusammenfassend fest, China habe auf allen Ebenen deutlich an Macht gewinnen können und die USA (sogar) aktiv herausgefordert.

Abschließend skizziert Schmalz auf ca. 20 Seiten die „Grundzüge einer neuen Weltordnung“, in der China im Zentrum eines kapitalistischen Welt(wirtschafts)systems steht. Obgleich die US-amerikanisch dominierten Machtstrukturen „recht stabil geblieben“ (383) seien, würden sie langsam aufgrund des chinesischen Machtzuwachses erodieren. In Bezug auf ein globales Wirtschaftsregieren (global economic governance) schätzt Schmalz ein: „Die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Verbündeten in der Handelspolitik sowie OBOR, das chinesische Investitions- und Infrastrukturprojekt einer Seidenstraße, zeigen jedoch, dass solche Governance-Strukturen ins Wanken geraten können. Allerdings wird es noch lange dauern, bis China eine ähnliche strukturelle Macht wie die traditionellen Zentrumsstaaten entwickelt hat“ (384). Die bloße Machtverschiebung gleicht einem Strukturwandel, daran lässt Schmalz keinen Zweifel, aber, inwieweit diese neue wirtschaftliche Expansion Chinas zur staatlichen Emanzipation führt oder neue Abhängigkeiten heraufbeschwört, wird nur randständig diskutiert.

Der übergeordnete Fokus dieser Forschungsarbeit ist auf den Wirtschafts- und Finanzsektor gerichtet. Mit einem ökonomisch geprägten Krisenverständnis ist das nicht verwunderlich. Allerdings scheinen neben der Produktions- und Finanzstruktur die Untersuchungskriterien Wirtschafts- und Technologiestruktur, militärische Struktur sowie Ressourcenstruktur nur komplementär betrachtet zu werden. Die Bedeutung der theoretisch modellierten regionalen Zwischenebenen erschließt sich in der Analyse nur beiläufig, zumal der stärkere analytische Fokus auf die Wechselbeziehung zwischen China und den USA fällt.

So führt Schmalz in den jeweiligen Unterkapiteln zum Beispiel das Chimerica-Syndrom an oder schildert die Reaktion der USA als Gegenstrategie zu Chinas Aufstieg als globaler Akteur und betrachtet kritisch Trumps Make-America-Great-Again-Kampagne. Die USA treten zwar als Initiator und Garant für ein kapitalistisches Weltwirtschaftssystem auf, aber ohne die europäischen Partner der Nachkriegszeit und vor allem ihre grundlegenden Theoretiker wäre das gegenwärtig dominierende Weltsystem nicht zu denken. Die Bedeutung der westlichen Wertestruktur für die Ausgestaltung des Machtgefüges über Zeit und in seiner Tragkraft für die Zukunft hat der/die Leser*in selbst zu erahnen.

Obgleich es wohl eben dieser Einfluss ist, der vermutlich hinter der analysierten Tragfähigkeit des Machtgefüges steht und eine weitere Verschiebung nach China für die kommenden Jahrzehnte erschwert. Insgesamt liefert die Analyse keine großen Überraschungen und so schließt Schmalz für die Zukunft: „Die Geschichte der Machtverschiebung nach China wird erst noch geschrieben werden“ (410), sie ist also noch nicht weit fortgeschritten.

 

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Es müsse sich erst noch herausstellen, welcher Art die Belt and Road Initiative, die ein zentrales Element der Außenpolitik des chinesischen Präsidenten Xi Jinping bilde, sein werde, so Rezensent Rainer Lisowski. Einige sehen wirtschaftliche Chancen in ihr, andere den Versuch, eine chinesisch geprägte Einflusssphäre zu schaffen. Oftmals werde übersehen, wie die USA mit dem Pivot to Asia versuchten, dagegenzuhalten. Zu eruieren, welchen Einfluss die beiden Initiativen auf die Außen- und Sicherheitspolitik der asiatischen Staaten ausüben, sei das Ziel des Sammelbandes.
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