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Alle Fristen gerissen. Verlässt Großbritannien die Europäische Union ohne Deal?

14.12.2020
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Dipl.-Jur. Tanja Thomsen, M.A.

Brext Johnson Flickr 48953917552 c83d2abf79 cStreetart in London. Foto: Duncan C. (via flickr, Lizenz: CC BY-NC 2.0)

 

Zwar ist das Vereinigte Königreich zum 31. Januar 2020 formell aus der EU ausgetreten, aber es befindet sich bis zum Ende des Jahres noch in einer Übergangsphase. Wird bis dahin keine Einigung über die zukünftigen Beziehungen ausgehandelt, droht der No-Deal-Brexit – ein Ausstieg ohne Handelsabkommen. Umstritten sind dabei neben Fischereirechten noch immer Fragen zur Aufrechterhaltung des fairen Wettbewerbs sowie die künftige Regulierung der Beziehungen zwischen Union und Königreich an sich.

Nachdem auch ein Telefonat zwischen Ursula von der Leyen und Boris Johnson ohne „entscheidenden Fortschritt“ endete, mache sich in der Schlussphase der Verhandlungen Pessimismus breit: London sei am entscheidenden Zug. Doch weder der Besuch des britischen Premiers am 7. Dezember in Brüssel noch weitere Telefonate haben zu einer Einigung geführt.

Wie die in diesem Digirama betrachteten Analysen und Kommentare zeigen, hängt das politische Schicksal von Premierminister Johnson am Brexit. Allerdings an einem harten, denn die Briten würden dem Regierungschef nach Meinung einiger Kommentatoren kein Einknicken gegenüber Brüssel im Konflikt „Regeln hier, Souveränität da“ nachsehen. Daran ändere auch der Abgang des Politikberaters Dominic Cummings nichts, denn dieser habe als Kopf der Brexit-Kampagne mit dem vorgelegten aggressiven Politikstil Johnson das Führungsamt und den Sieg im inneren Brexitkonflikt beschert.

Aber was kommt nach dem No-Deal? Ein Aspekt liegt für die britischen Hardliner im Ausbau der Handelsbeziehungen Großbritanniens mit den USA – auch wenn Großbritannien bis zum Ende der Übergangsfrist kein neues Handelsabkommen mit einem anderen Staat außerhalb der EU abschließen darf. Britische Experten warnten indes vor einer Carte blanche für US-Konzerne, um die verbliebenen Reste des öffentlichen Sektors auf den britischen Inseln zu privatisieren: Den nationalen Gesundheitsdienst NHS hätten US-Investoren schon ins Auge gefasst, um daraus ein privatkapitalistisch organisiertes Gesundheitswesen nach eigenem Vorbild zu machen. Auch hoffe man, das britische Handelsimperium wiederbeleben zu können und den Handel mit der EU durch Abkommen mit den Commonwealth-Ländern zu ersetzen – was Indien etwa schon vehement abgelehnt hat. An Industrie- und Agrarprodukten habe das Königreich wenig zu bieten, was die EU-Länder nicht besser und billiger anbieten könnten. Und Dienstleistungen, von denen die britische Wirtschaft zu 80 Prozent lebt, könnten vielleicht in Australien und Kanada Absatz finden, die übrigen Commonwealth-Länder benötigten diese eher nicht.

Für Großbritannien war und ist die EU hingegen der wichtigste Handelspartner: Etwa die Hälfte der britischen Im- und Exporte fließen hierher, allein gut 40 Prozent nach Deutschland, in die Niederlande, nach Frankreich, Irland, Belgien, Spanien und Italien. Nur 15 Prozent ihres Außenhandels wickeln die Briten mit den USA ab, nur sechs Prozent mit China und weniger als zehn Prozent mit allen Commonwealth-Ländern zusammen. Für ausländische Konzerne bildete das Land stets in erster Linie das Tor zu Europa. Schließt sich dieses Tor, drohten diese abzuwandern. Auch der britische Anteil an der europäischen Flugzeugindustrie, insbesondere am Airbus-Konsortium, steht mit dem Brexit vollständig infrage. Dass die entsprechenden Produktions- und Wertschöpfungsketten so weiterlaufen wie bisher, wird immer unwahrscheinlicher. Auch sind britische Landwirte entgegen ihrer großen Erwartungen an den Brexit nunmehr von einer Gesetzgebung enttäuscht, die sie mit ihren bisherigen Standards in Konkurrenz zu ausländischen Anbietern schlechterzustellen droht.

Trotz allem steht Boris Johnson innenpolitisch mit dem starken Mandat da, „Get Brexit done“ durchzuziehen. Die Richtung und Ausgestaltung dessen ist weitgehend offen, klar ist nur, es soll ein Weg in Freiheit und Unabhängigkeit sein. Kanada sei ein Sehnsuchtsort der Brexit-Hardliner, denn das Freihandelsabkommen Kanadas mit der EU (CETA) erscheine ihnen als Blaupause für ihr eigenes Verhältnis mit Brüssel. Inwiefern dies realistisch und passend ist, spiele angesichts der zunehmend populistisch agierenden Regierung, die im Inneren zum Beispiel die Medien als Institution attackiert, nicht die Hauptrolle. Einige Kommentatoren sehen in der kalkulierten Eskalation mit Brüssel den Beleg dafür, dass es Bestrebungen in London gibt, zu einem Singapur an der Themse zu werden: Mit niedrigem Regulierungsniveau, attraktiven Steuermodellen und der Möglichkeit, deutlich unterhalb der EU-Standards zu agieren. Großbritannien könnte sich als „Royal Europe“ eine buchstäblich goldene Brücke aus der Union bauen: Ein Land, das nicht mehr EU-Mitglied ist, aber Europa mit benefits – attraktiv für Vermögende und Investoren, in dem man sich das Leben leisten können müsse. All dies erfolgt im Auftrag der britischen Bevölkerung, die unter der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 300 Jahren und der Corona-Pandemie leidet. Was bleibt, ist vielleicht das Fazit: Demokratische Prinzipien können überall disruptiert werden, auch in bisher politisch und wirtschaftlich als stabil geltenden Ländern.

In diesem Zusammenhang stellen wir ausgewählte wissenschaftliche Beiträge vor, die sich im Schwerpunkt mit den Zielen, Hoffnungen und Perspektiven des Vereinigten Königreichs in der aktuellen Weltlage und im Verhältnis zum Handelspartner Europäische Union nach dem Brexit beschäftigen.

Die Beiträge sind in absteigender chronologischer Reihenfolge sortiert.

Paul Mason
Mit Volldampf Richtung Abgrund
IPG-Journal, 27. November 2020
 
Pau Mason fragt in seiner Kurzanalyse nach der Verhandlungsstrategie der britischen Regierung in der Endphase der Brexit-Verhandlungen. Da der Ausgang der Verhandlungen nicht vorrangiges Ziel zu sein schein, stellt der Autor unter anderem dar, wie der derzeitige Premierminister Krisen als „etwas Ergötzliches“ bereits in seiner Vergangenheit zu nutzen wusste. Sommerliche Parlamentszwangspause, die Ankündigung vorzeitiger Neuwahlen im Dezember und die chaotische Strategie zur Pandemiebekämpfung: Optionen, darunter eben auch die No-Deal-Option beim Brexit würden strategisch bis zum Schluss offengehalten. Mason warnt indes, dass das Vereinigte Königreich so in der neuen geopolitischen Realität einer sich re-nationalisierenden Welt zu stranden drohe.

 

Azeem Ibrahim
The U.K. Is Taking an Unexpectedly Moral Foreign-Policy Stance Post-Brexit
Foreign Policy, Voice, 16. November 2020

Für Azeem Ibrahim ist die britische Außenpolitik vor dem Brexit durch zwei Hauptcharakteristika gekennzeichnet: US-Positionen zu wiederholen und zu unterstützen und aus den damit verbundenen diplomatischen Anstrengungen maximalen Nutzen zu ziehen. Doch im moralischen Vakuum des Trumpismus habe die neue britische Regierung eine eigene Stimme gefunden: Obwohl der angelsächsische Raum traditionell als pragmatisch und moralisch flexibel gilt, habe sich die CANZUK-Gruppe – Kanada, Australien, Neuseeland und Großbritannien –konsequent für die Aufrechterhaltung einer regelbasierten und an universalen Menschenrechten orientierten Internationalen Ordnung eingesetzt. Ibrahim sieht britische Konservative wie Tom Tugendhat und Iain Duncan Smith in ihrem Misstrauen gegenüber China und Russland bestätigt – wie die Neo-Cons in den USA. Für den Autor ist die Wiederauferstehung der neuen Angriffslust der britischen Konservativen mit dem Brexit verbunden, es gehe dabei um eine Art „Global Britain“. Zwar könne es sein, dass man sich mit dem Brexit irre, jedoch nicht in Bezug auf die Bedrohung durch Peking und Moskau. Die USA müssten mithilfe von Großbritannien nach dem Prestigeverlust der Trump-Jahre nun international Wiederaufbau betreiben. Hierzu muss für den Autor das Bretton Woods-System neuerfunden werden und dies könne nur durch die Verbindung des Vereinigten Königreichs mit den USA als dem Rückgrat dieser new global order geschehen.

 

Christos Katsioulis
Für Familie und Vaterland
IPG-Journal, 7. Oktober 2020

Für Christos Katsioulis schlägt auch der neue Labour-Chef Keir Starmer patriotische Töne an, um so verlorene Stimmen zurückzugewinnen: Gründe hierfür lägen in der Wahlniederlage 2019 und der darin aufgezeigten Defizite Labours, die der Autor kurz vorstellt. Abgesehen davon seien indes jahrelang Abwanderungsbewegungen weg von Labour, hin zu den Tories in vielen der Kernwahlkreise der Partei im Norden und der Mitte Englands, der so genannten Red Wall, zu beobachten gewesen. So war Labour zwar in urbanen Zentren und bei der gut gebildeten Mittelschicht erfolgreich, verlor aber die Stimmen der Arbeiterklasse in kleinen Städten und auf dem Land. Starmer habe diesen Vertrauensverlust offen eingestanden und fahre damit in Umfragen erste Erfolge ein: So hänge der neue Labour-Chef Boris Johnson schon länger bei der Frage ab, wer der bessere Premierminister wäre.

 

Christos Katsioulis
Kulturkrieger Boris
IPG-Journal, 22. September 2020

Christos Katsioulis benennt die Wahl in Schottland im Mai 2021 als Herausforderung für den amtierenden britischen Premierminister und dessen populistischen Kommunikationsstil. Mit dem Aufwind der Schottischen Nationalpartei flamme nämlich die Frage der schottischen Unabhängigkeit neu auf, die 2014 in einem Referendum bereits erledigt schien. Aber die Entscheidung, die EU zu verlassen, werde dort als durch England oktroyiert wahrgenommen, wo die Schotten mit über 60 Prozent für den Verbleib votierten. Man fürchte zudem, dass Selbstverwaltungsrechte der Regionen wieder in London durch die Tories zentralisiert werden könnten.

 

Nicolai von Ondarza
Bekanntes Brexit-Theater, neue Rahmenbedingungen
Stiftung Wissenschaft und Politik, Kurz gesagt, 22. September 2020

Nicolai von Ondarza legt dar, wie sich die Rahmenbedingungen im Brexit-Geschehen seit dem Herbst 2019 grundlegend geändert haben. Boris Johnson machte seinerzeit große Zugeständnisse in Bezug auf einen Sonderstatus für Nordirland, um einen möglichst großen Freiraum für den Rest Großbritanniens zu ermöglichen. Diese als diplomatischer Erfolg heimgetragene Einigung habe Johnson genutzt, um unter dem Motto Get Brexit done die britischen Parlamentswahlen zu gewinnen. Nachdem Boris Johnson aber die Grenze Nordirlands parallel zu den erneut stockenden Verhandlungen – mit seiner Gesetzesvorlage zum britischen Binnenmarkt – wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat, soll dieses Vorgehen der britischen Regierung ermöglichen, notfalls ihre Verpflichtungen aus dem Austrittsabkommen mit der EU zu brechen, indem der vereinbarte Sonderstatus für Nordirland ausgehebelt wird. Die aktuellen parlamentarischen Machtkämpfe in London sowie die schweren Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich erinnern an das Brexit-Drama von 2019. Die politischen Rahmenbedingungen der aktuellen Brexit-Verhandlungen sind jedoch anders als in der ersten Runde, wie von Ondarza ausführlich darlegt. Beispielsweise fehle die rechtliche Flexibilität der Austrittsverhandlungen gemäß Artikel 50 EU-Vertrag. Die britische Regierung habe Fristen im nunmehr geltenden Regime bewusst verstreichen lassen, um den Druck auf die aktuellen Verhandlungen zu erhöhen – obwohl ein No-Deal-Brexit die durch die Corona-Pandemie massiv geschwächte britische Wirtschaft treffen würde. Die EU sollte rote Linien ziehen, aber auch Geduld zeigen, rät Nicolai von Ondarza in seiner ausführlichen Analyse.

 

Christine Berry
Rettungspaket für die Upperclass
IPG-Journal, 6. Juli 2020

Christine Berry bezieht sich auf einen von ihr zusammen mit Laurie Macfarlane und Shreya Nanda verfassten Bericht für den britischen Think Tank IPPR zum britischen Coronavirus-Schutzschirm. Sie erklärt, wie die Coronavirus-Maßnahmen die Wohlstands- und Machtungleichgewichte zwischen Arbeitnehmern und Vermögenden, die ihr Einkommen in erster Linie aus Vermögen und somit aus Kapitaleinkünften erzielen, verschärft werde. Mit den Vorzeigeprogrammen pumpe die Regierung in erster Linie mehr Geld in die Wirtschaft – zum großen Teil in Form privater Schulden –, damit Beschäftigte und Unternehmen ihre Rechnungen an die Rentiers bezahlen könnten.

 

Sabine Riedel
Brexit-Verhandlungen 2.0 vorzeitig am Ende?
Forschungshorizonte Politik und Kultur, Juli 2020

Nach dem Austrittsabkommen vom 12. November 2019 gehe es nun auch um eine neue Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft mit dem Vereinigten Königreich in Nachfolge des EU- und EURATOM-Vertrags. Während Großbritannien dafür verschiedene Verträge anstrebe, ziele die Europäische Kommission darauf, mit einem einzigen Handelsabkommen alle Politikbereiche abzudecken. Riedel führt aus, wie vielfältig das Ausmaß der dabei zu klärenden Fragen ist: Gemeinsame Standards in Orientierung an EU-Normen und dem Europäischen Gerichtshof, Details des Austrittsvertrags bezüglich Nordirlands und Gibraltars oder der Streitpunkt der zukünftigen Nutzung der Kernenergie. Während einige EU-Mitglieder Interessenspolitik betrieben, sah Riedel Deutschland unter seiner EU-Ratspräsidentschaft in der Pflicht, diese Probleme für „Europa“ zu lösen – als „ehrlicher Makler“.

 

Rolf Langhammer
Fischerei darf nicht zum Stolperstein der Brexit-Verhandlungen werden
Kieler Institut für Weltwirtschaft, Kiel Focus 06/2020

Rolf Langhammer erklärt, wie die Briten eine Einigung über die gesamten künftigen Wirtschaftsbeziehungen an eine Zustimmung der EU zu ihren Vorstellungen für neue Fang- und Zugangsrechte in britischen Gewässern als Ausdruck von Souveränität binden. Während die EU gravierende Änderungen ablehne, verlangen die Briten, dass die EU die vollständige Souveränität des Vereinigten Königreichs als unabhängiger Küstenstaat über ihre ausschließliche Wirtschaftszone anerkenne. Vorbild sei die Regelung der EU mit Norwegen. Langhammer erklärt dabei, was das Zonenverfahren für die Bewirtschaftung des Fischbestands bedeutet, dessen Tücken und die Wichtigkeit der Trennung von Fangrecht und Vermarktung. Vor allem aber dürfe die Fischerei nicht zum Stolperstein der Verhandlungen werden, deren Frist am 1. Juli 2020 im Auge zu behalten sei.

 

Christos Katsioulis
Fisch und Chicken
IPG-Journal, 11. Juni 2020

Christos Katsioulis beschreibt die Tendenz der britischen Regierung, sich angesichts eines drohenden No-Deal-Brexits zwischen EU-Fangquoten und Chlorhühnchen aus den USA für Letzteres zu entscheiden. Der Zeitplan der Verhandlungen sei eng, um in elf Monaten Themenfelder wie Güter, Dienstleistungen, berufliche Qualifikationen und vieles mehr zu klären. Eine einjährige Verlängerungsklausel ist zwar vorgesehen, müsste aber von der britischen Regierung bis 15. Juni beantragt werden. Premierminister Boris Johnson hat dies abgelehnt, ein entsprechendes Gesetz durchs Parlament gebracht und sich trotz Wirtschaftskrise nicht in seinem Kurs beirren lassen.
Während das Vereinigte Königreich nach eigenen Angaben als Verhandlungsziel mehr Autonomie und Souveränität verfolge, priorisiere die EU den Schutz der Integrität des Binnenmarktes. In der Praxis schieden sich die Grundhaltungen daher an den zwei konkreten Stolpersteinen des regulatorischen Rahmens und der Fischerei. Der Autor erklärt, was das Level Playing Field – der angestrebte regulatorische Rahmen – für Arbeitsstandards, Umweltgesetzgebung und Staatshilfen aus Sicht der Union bedeutet. Johnson argumentiere indes, dass Großbritannien ohnehin viel höhere eigene Standards anstrebe als die EU und daher kein Grund zur Sorge bei den kleinmütigen Europäern bestünde. Bei der Fischerei besitze ein Wirtschaftszweig, der gerade mal zwölf Tausendstel der britischen Ökonomie ausmacht, deutlichen symbolischen Wert: Durch die Gemeinsame Fischereipolitik werden seit Jahren Quoten festgelegt, die es europäischen Fischern ermöglichen, in britischen Gewässern zu fischen. Und teilweise stehen ihnen dafür höhere Quoten zu als ihren englischen Kollegen. Hinzu komme allerdings die Notwendigkeit, Zugang zum europäischen Markt zu bekommen, denn ein Großteil des in britischen Gewässern gefangenen Fisches werde nicht auf der Insel selbst konsumiert.

 

Paul Mason
Inszenierte Eskalation
IPG-Journal, 22. Mai 2020

Möglicherweise provoziere die britische Regierung einen chaotischen EU-Austritt ohne Deal, um von ihrem Versagen in der Covid-19-Krise abzulenken, schreibt Paul Mason. Großbritannien erlebe angesichts der Weigerung der Gewerkschaften, nach Boris Johnsons Plan die Schulen und öffentliche Verkehrsmittel wieder zu öffnen, einen altbekannten Kulturkrieg erneut: Gewerkschaften seien „egoistisch“, Gegner der Lockerungen „Saboteure“, die den Kollaps der Wirtschaft verantworteten. Der Zuspruch für Johnsons Umgang mit der Epidemie, der Ende März einen Höchststand von 72 Prozent erreichte, sei im Mai 2020 auf 42 Prozent gesunken. Jeder fünfte Brite, der für Johnson stimmte, sei nunmehr unzufrieden. Allerdings bleibe die demografische Spaltung analog zur Brexit-Frage erhalten: Alle Gruppen unter 50 Jahren beurteilten Johnsons Bilanz mehrheitlich negativ, ältere Bevölkerungsgruppen dagegen positiv. Diese polarisierende Kommunikationsstrategie trage die britische Regierung auch in die Brexit-Gespräche, in denen das No-Deal-Szenario reaktiviert werde: Der EU-Beauftragte Michel Barnier klammere sich an einer „ideologischen“ Position fest, wenn er fordere, dass das Vereinigte Königreich die sozialen und ökologischen Wettbewerbsbedingungen der EU einhalten müsse, wenn es als Ex-Mitglied privilegierten Zugang zum Binnenmarkt haben will. Für Mason beschwört die britische Seite so das Schreckgespenst eines No-Deal-Brexit herauf, um der EU ein günstigeres Abkommen abzuringen. Gleichzeitig betreibe Johnson die politische Polarisierung im Inneren, die ihn an die Macht brachte.

 

Paul Mason
Corona schlägt Empire
IPG-Journal, 13. April 2020

https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/corona-schlaegt-empire-4255/
Paul Mason führt Johnsons verklärte Reaktion im Februar 2020 auf das Virus auf die Rettung des Brexit-Projekts zurück: Obwohl die Downing Street bis zum 3. März keine offiziellen Aussagen zum Coronavirus gemacht hatte, habe Johnson in ihm bereits genau einen Monat vorher eine Bedrohung für den Brexit erkannt. Bedeutsamer sei die Ankündigung gewesen, dass Großbritannien die Vereinbarungen brechen werde, die es in der gemeinsamen politischen Erklärung mit der Europäischen Union im Oktober 2019 vereinbart hatte: London werde seine Zusage eines „fairen Spielfelds“ bei sozialen, ökologischen und arbeitsrechtlichen Regulierungen nicht einhalten und keinerlei gemeinsame Gesetzgebung akzeptieren. Und für den Fall, dass die EU damit nicht einverstanden sei, würden bereits im Juni die Vorbereitungen auf einen Brexit ohne Abkommen beginnen. Mit der Abkehr von den Regeln des engsten Handelspartners solle das Vereinigte Königreich nunmehr die Zerstörung sämtlicher Handelsblöcke vorantreiben und den Welthandel aggressiv neu ordnen – genau wie während seiner Seeherrschaft in der Zeit von Robert Clive und Horatio Nelson. Dieses Narrativ wurde um eine Reaktion auf das Coronavirus herum gestrickt. „Besteht die Gefahr, dass neue Seuchen wie das Coronavirus eine Panik und das Bedürfnis nach einer Marktsegregation auslösen, die über das medizinisch Sinnvolle hinausgehen und echten und unnötigen wirtschaftlichen Schaden anrichten“, sagte Johnson, „braucht die Menschheit irgendwo eine Regierung, die bereit ist, sich massiv für […] das Recht der Völker der Erde einzusetzen, miteinander Handel zu treiben“.

 

Christos Katsioulis
Corbyns Erbe
IPG-Journal, 9. April 2020

Keir Starmer habe als neuer Labour-Chef symbolträchtig unter anderem eines der ersten (digitalen) Treffen mit den Vertretern von Jewish Labour anberaumt und damit gleich zu Beginn seiner Amtszeit ein Signal des Neuaufbruchs gesetzt. Da die Opposition in der Coronakrise marginalisiert sei, nutze Labour die Zeit zur Versöhnung der Partei. Um der Politik Boris Johnsons in dieser Krise begegnen zu können, brauche Starmer eine geeinte Partei und überzeugte Fraktion. Labour hoffe dann als Opposition zu punkten, gegen einen Regierungschef, welcher nicht als präzise, gründlich oder gar gewissenhaft gelte.

 

Bettina Rudloff / Evita Schmieg
Brexit: Pragmatisches Handelsabkommen
Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell, April 2020

Bettina Rudloff und Evita Schmieg analysieren, wie eine Einigung trotz enger Fristen für das Abkommen, das die Handelsbeziehungen zwischen Union und Königreich ab dem 1. Januar 2021 regeln soll, gelingen kann. Die Verhandlungsmandate weisen erhebliche Unterschiede auf: Die EU wolle das bislang im gemeinsamen Binnenmarkt Erreichte an gemeinschaftlicher, starker Regulierung auch für die Zukunft sichern. Ziel des Vereinigten Königreichs sei indes, künftig nicht mehr an EU-Handelsregeln gebunden zu sein. Intelligente Kompromisse und Vertragskonstruktionen könnten vorsehen, konkrete Probleme nach Vertragsschluss zu lösen. Hierbei nennen die Autoren die EU-Modelle zu Zollfreiheit und Regulierungskoordinierung, die regulatorische Unabhängigkeit des Königreichs in einem lediglich begrenzten Umfang sowie die Wechselwirkungen mit Handelsverhandlungen mit Drittländern. All dies könne nur mit pragmatischen Lösungen auf beiden Seiten bis Ende 2020 gelingen.

 

Nicolai von Ondarza
Die Brexit-Revolution
Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Aktuell 2020/A 14, März 2020

Nicolai von Ondarza sieht die Dynamik der Verhandlungen durch neue politische Rahmenbedingungen verändert: Mit dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs gingen die Brexit-Verhandlungen in die nur noch zehn Monate andauernde Übergangszeit. Oberste Maxime der britischen Regierung sei konfrontativ die absolute Abgrenzung von der EU. Konfliktpunkte mit den Verhandlungszielen der Union seien daher zahlreich und die größte Veränderung im Vergleich zu den bisherigen Brexit-Verhandlungen der fast vollständige innenpolitische Triumph der Brexiteers unter Premier Johnson. Nach den verlorenen Neuwahlen von 2017, nach denen Theresa May nur noch mithilfe der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) regieren konnte, war die britische Regierung bei einer ihrer komplexesten außenpolitischen Verhandlung ohne eigene Mehrheit. Die Folgen sind bekannt, auch Boris Johnson konnte bis zu den Neuwahlen im Dezember 2019 nur prozedurale Abstimmungen gewinnen. Einig war sich die Parlamentsmehrheit nur in der Ablehnung eines No-Deal-Brexits, alle anderen Brexit-Varianten fanden ebenso wenig Unterstützung wie ein zweites Referendum. Seit dem Wahlsieg von Johnson und seiner Konservativen Partei sind die politischen Voraussetzungen jedoch umgekehrt. Mit seinem Versprechen Get Brexit Done und der Vereinigung der ProBrexit-Wähler hinter seiner Partei habe Johnson einen gleich dreifachen Erfolg in der Stärkung seiner Machtposition innerhalb des politischen Systems Großbritanniens erzielt, wie von Ondarza nachfolgend ausführlich darlegt. Somit könne die britische Regierung fast ohne innenpolitische Schranken ihre eigene Brexit-Politik verfolgen und die strategische Ausrichtung auf Konfrontation legen.

 

Aaron Burnett
Boris gegen die BBC
IPG-Journal, 21. Februar 2020

Aaron Burnett legt dar, wie Johnson dem staatlichen Rundfunk die Gebühreneinnahmen streichen will. Ziel sei die Schwächung des kritischen Journalismus. Dem BBC wurde im Umfeld der Wahl sowohl seitens der Linken als auch der Rechten politische Einseitigkeit vorgeworfen. Um für die Berichterstattung über dieselben Ereignisse von beiden Seiten des politischen Spektrums Kritik zu ernten, müssten der kritische Journalismus und die unparteiische Berichterstattung vieles richtig gemacht haben. Die Tories erhielten unter Johnson indes von der rechten Boulevardpresse viel Unterstützung, sodass Burnett im Brexit-Großbritannien die wichtige Rolle des BBC unterstreicht. Johnsons öffentlicher Kampf gegen die BBC zeige, dass die EU nun mit einer weiteren zunehmend populistischen und autoritären Regierung vor ihrer Haustür verhandele. Dabei betrauert der Autor sein Fazit, dass Angriffe auf die Medien als Institution nicht länger in nur jungen Demokratien stattfinden: Demokratische Prinzipien könnten überall disruptiert werden, auch in bisher politisch und wirtschaftlich als stabil geltenden Ländern.

 

Michael R. Krätke
Nach dem Brexit ist vor den Verhandlungen
Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2020

Die Brexit-Debatte hält Michael R. Krätke keinesfalls für entschieden: Die Briten haben im vergangenen Dezember in Massen der flotten Parole Get Brexit done! der Konservativen ihr Votum erteilt und Boris Johnson somit zu einer überwältigenden Mehrheit verholfen. Johnson glaube, weiter mit grenzenloser Chuzpe durchzukommen, während Krätke dies für unwahrscheinlich hält: Denn Johnson habe im Herbst 2019 seine neue Variante des Austrittsabkommens in Brüssel nur deshalb bekommen, weil er der EU viel weiter entgegengekommen war als seine Vorgängerin – und er dies im ganzen Land als Erfolg habe verkaufen können. Die EU werde nun unter keinen Umständen einem Abkommen zustimmen, das eine Dumpingkonkurrenz vor der eigenen Haustür schaffe. Also bleibe nur der No-Deal mit vollem Risiko, dann bliebe der Austrittsvertrag in Kraft: Die vereinbarte Zollgrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs beispielsweise bliebe bestehen. Johnson könne den No-Deal nur vermeiden, wenn er bereit wäre, der EU in allem nachzugeben: Das Vereinigte Königreich bekäme dann einen ähnlichen Status wie Norwegen, sodass sich London und Brüssel auf Freihandel unter der Voraussetzung gleicher oder doch sehr ähnlicher Regularien auf beiden Seiten einigten. Das aber wollten die Hardliner um keinen Preis. Johnson müsste nach Ansicht des Autors somit entweder die Verhandlungen mit der EU scheitern lassen, und zwar von Anfang an, oder den Konflikt mit den Brexit-Hardlinern durchstehen.

 

Christos Katsioulis
Welcome to Royal Europe
IPG-Journal, 30. Januar 2020

Für Christos Katsioulis lautet das Motto des Brexits „mit weniger mehr bekommen”: Ab dem 31. Januar habe das Vereinigte Königreich nach dem Austritt eine Übergangszeit von elf Monaten, in denen es Johnson gelingen müsse, ein möglichst vorteilhaftes Verhältnis zu Brüssel aufzubauen. Die Richtung und Ausgestaltung dessen ist weitgehend offen, klar ist nur, es soll ein Weg in Freiheit und Unabhängigkeit sein. Kanada sei ein Sehnsuchtsort der Brexiteers, denn das Freihandelsabkommen Kanadas mit der EU (CETA) erscheine ihnen als Blaupause für ihr eigenes Verhältnis mit Brüssel. Inwiefern dies realistisch und passend ist, werden die nun anstehenden Verhandlungen über die Beziehungen der EU mit dem dann ausgetretenen neuen Drittland zeigen. Denn zahlreiche Kernfragen sind bislang noch völlig unbearbeitet: Welche Standards der EU wird Großbritannien weiter akzeptieren? Gibt es Bestrebungen in London, zu einem Singapur an der Themse zu werden: mit niedrigen Regulierungshürden, attraktiven Steuermodellen und der Möglichkeit, deutlich unterhalb der EU-Standards zu agieren? Welchen Zugang zum Binnenmarkt bekommen Güter von der Insel, und was passiert mit dem deutlich größeren Bereich der Dienstleistungen? Für Katsioulis wolle Großbritannien sich als Royal Europe etablieren: Ein Land, das nicht mehr EU-Mitglied ist, aber Europa mit Goldrand, dürfte für viele Vermögende dieser Welt ein attraktiver Anlaufpunkt sein. Anhaltspunkt hierfür sieht der Autor in der Vergangenheit von Boris Johnson mit einigen Ideen, die diesbezüglich kursierten. Dessen Bilanz als Bürgermeister von London weise drei wichtige Bezugspunkte auf: Johnson habe die Stadt in ein bürger- und klimafreundliches Fahrradparadies für wohlsituierte Bürger umgestaltet, in das nur eintrete, wer es sich leisten kann.

 

Christos Katsioulis
Brexit, wir kommen!
IPG-Journal, 13. Dezember 2019

Johnson habe mit dem Slogan Get Brexit Done! viele Wähler*innen überzeugt, für die Tories zu stimmen, obwohl der Premierminister in der Frage unbestimmt geblieben sei, wie das künftige Verhältnis mit der EU gestaltet werden soll. Die Aussicht, mit dieser Wahl den Brexit vom Tisch zu bekommen und damit endlich in die gelobte Zukunft aufbrechen zu können, habe die Agenda von Beginn an dominiert. Damit habe Johnson das Trump-Playbook auf das Vereinigte Königreich erfolgreich adaptiert: Dabei seien fast alle Mittel recht gewesen, seien es manipulierte Videos, als Faktencheck getarnte Twitteraccounts, bezahlte Anti-Labour Anzeigen auf Google oder auch das am Wahltag verbreitete Gerücht, dass Wählerinnen und Wähler einen Ausweis bräuchten, um wählen zu dürfen. All dies werde Hoffnungen anderer Rechtspopulisten in Europa beflügeln.

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Bildnachweis:

Street Art in London, Foto: Duncan C. (flickr, Lizenz: CC BY-NC 2.0)

 

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Lektüre

Robin Niblett
Global Britain: Ambition Meets Reality
in: Barbara Lippert, Günther Maihold (Hrsg.) Krisenlandschaften und die Ordnung der Welt, Stiftung Wissenschaft und Politik, Research Papers, S. 51-56, 18. September 2020


Digirama

Die ambivalente Beziehung zu Europa. Großbritannien vor und nach dem Brexit

Das besondere Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu Europa hatte sich durch den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften stabilisiert. Das überraschende Austrittsvotum der britischen Bürger erfordert nun eine Neuorientierung der Beziehung Großbritanniens zur Europäischen Union. Dabei wird der Brexit nicht nur die politischen Rahmenbedingungen beeinflussen, sondern der Austritt aus der EU wird sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens in der Inselmonarchie bemerkbar machen. Analysen und Einschätzungen über die möglichen Folgen des Brexits werden in diesem Digirama vorgestellt.
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Rezension

Jan Roß

Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds

Berlin, Rowohlt 2020

Der ZEIT-Journalist Jan Roß zeichnet in seinem kurzweilig geschriebenen Porträt ein differenziertes Profil des britischen Premierministers. Zu Unrecht werde Boris Johnson an die Seite rechter Politiker gestellt. Tatsächlich sei er ein ‚Freihändler‘, ein praktizierender Umweltschützer und er betreibe eine werteorientierte Außenpolitik. Mithilfe eines Schnelldurchlaufs durch die wichtigsten biografischen Stationen gelingt es Roß, so Rezensent Vincent Wolff, die Person Johnson den Leser*innen näherzubringen; er ermöglicht einen Einblick in sein Denken und Agieren.


zum Thema
Brexit: Großbritannien zwischen Re-Nationalisierung und Globalisierung

 

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