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Andrew Glencross: Why the UK Voted for Brexit. David Cameron's Great Miscalculation

18.05.2017
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Autorenprofil
Dr. Max Lüggert
Basingstoke, Palgrave Macmillan 2016

Warum das Vereinigte Königreich für den Brexit stimmte. Die große Fehlkalkulation des David Cameron

Die Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die Europäische Union (EU) zu verlassen – besser bekannt als Brexit – ist eine der wohl gravierendsten politischen Entscheidungen, die ein Land der westlichen Hemisphäre seit Langem getroffen hat. So ist es nur folgerichtig, dass sich auch die politikwissenschaftliche Analyse diesem Thema im Nachhinein annimmt, und daher skizziert Andrew Glencross, der an der Aston University in Birmingham unterrichtet, in seinem kurzen Band ganz grundlegend, wie es zu dieser epochalen Entscheidung gekommen ist.

Eingangs schildert er, welche besondere Beziehung Großbritannien seit jeher zur EU pflegte; dabei betont er, dass die Sichtweise auf die EU-Mitgliedschaft oft ohne Pathos auskam, sondern in erster Linie von einer utilitaristischen Herangehensweise geprägt war. Zudem verweist er auf das Jahr 1975, in dem das britische Volk schon einmal zum Verbleib Großbritanniens (damals noch in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG) befragt wurde – in dem damaligen Referendum sprachen sich jedoch fast zwei Drittel gegen einen Austritt aus.

Für die Gegenwart stellt Glencross den britischen Premierminister David Cameron in den Mittelpunkt der Betrachtung. In ihm sieht er die Schlüsselfigur auf dem Weg zum Brexit und – wie im Untertitel bereits angedeutet – das Opfer einer „großen Fehleinschätzung“. Cameron befand sich vor dem Brexit in einer politisch recht günstigen Lage. In seiner ersten Amtszeit gelang es ihm, zwei Referenden in seinem Sinne zu wenden, eines über die Wahlrechtsreform, eingefordert durch den damaligen liberalen Koalitionspartner, und das über die schottische Unabhängigkeit. Mit der Aussicht auf ein Referendum über die Mitgliedschaft in der EU gelang es Cameron dann, einen überraschend hohen Wahlsieg zu erringen. Gleichzeitig lief ab diesem Zeitpunkt aber die Uhr für ihn ab: Glencross schildert, dass sich Cameron immer für einen Verbleib in der EU einsetzte, sich bei der Vorbereitung des Referendums und im Wahlkampf aber an mehreren Stellen verschätzte. Denn im Vergleich zum Referendum 1975, so schildert es Glencross, hatten sich einige Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Das Thema Immigration nahm in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte nun einen viel höheren Stellenwert ein, und außerdem war die Brexit-Position fest im öffentlichen Diskurs verankert – einerseits durch EU-skeptische Medien und andererseits durch die Etablierung der United Kingdom Independence Party (UKIP). Diese neuen Voraussetzungen nahm Cameron nur unzureichend zur Kenntnis. Zwar versuchte er, in den Verhandlungen mit der EU dem Thema der Personenfreizügigkeit größeren Raum einzuräumen und außerdem Großbritannien von der in den Verträgen symbolisch festgehaltenen Verpflichtung auf eine „immer engere Union“ auszunehmen. Diese Forderungen konnte Cameron jedoch nicht umfassend verwirklichen und als Verhandlungsergebnis stand ein langer, komplizierter Text, der kaum zur Vermittlung einer klaren positiven Botschaft taugte.

Ebenso verhängnisvoll erwies sich der Opportunismus innerhalb der eigenen Partei und innerhalb des Kabinetts. Durch abweichende Meinungen von konservativen Ministern wie Iain Duncan Smith oder Michael Gove hatte das Brexit-Lager unmittelbare prominente Fürsprecher. Im eigentlichen Wahlkampf schaffte es Cameron dann kaum, eine glaubwürdige proeuropäische Botschaft zu übermitteln, und appellierte stattdessen an eine utilitaristische Einschätzung, die so nicht mehr bestand, sondern grundlegend durch die Angst vor unkontrollierter Einwanderung überschattet wurde.

Ähnlich ausführlich befasst sich Glencross dann mit den Folgen des Brexits, der für Großbritannien einige Herausforderungen bereitstellt: Eine enge wirtschaftliche Verbindung mit der EU bleibt absehbar, weshalb die Handelsbeziehungen zu einer Schlüsselfrage der Verhandlungen werden. Doch auch innenpolitisch bestehen große Probleme, weil mit möglichen Abspaltungsbewegungen in Schottland und Nordirland auf einmal die gesamte Staatlichkeit Großbritanniens infrage gestellt würde.

Nach dieser deskriptiven Darstellung befasst sich Glencross nochmals mit einer zentralen Frage der politischen Philosophie, nämlich der Rolle und der Wirkung direkter Demokratie. Das direktdemokratische Moment des Brexits ist zeitlich nur ein Augenblick, wie er schreibt, das Volk hat nur zum Brexit ja gesagt, aber noch nicht zum Zeitpunkt oder zur Form – dies war am Tag der Stimmabgabe ja auch gar nicht möglich. Es besteht somit das Dilemma, dass ein souveränes Volk weiterhin auf eine Regierung angewiesen ist, die Souveränität im Namen des Volkes ausübt. Sollten sich jedoch negative Konsequenzen aus dem Brexit ergeben – darunter weitere Beitragszahlungen an die EU oder die Übernahme von Unionsrecht ohne Möglichkeit, dies zu beeinflussen – ist nicht ausgeschlossen, dass aus der direkten Demokratie weitere Unzufriedenheit mit der Demokratie folgt. Und zuletzt wird Glencross auch nicht müde, auf die strenge Ironie hinzuweisen, dass sich all diese Probleme dadurch ergeben haben, dass ausgerechnet das Mutterland der Parlamentssouveränität auf die direkte Demokratie ausgewichen ist.

Das Buch ist haptisch wie im übertragenen Sinne eher dünn; die Argumentation und die Schilderung der Ereignisse bleiben etwas oberflächlich. Dies ist aber damit zu entschuldigen, dass das Großereignis Referendum erst knapp ein Jahr zurückliegt und der Brexit im tatsächlichen Inhalt noch nicht einmal annähernd erfasst werden kann – unter diesen Umständen wäre der Versuch einer tiefgreifenden, umfassenden Studie noch verfrüht. Stattdessen ist das Buch ein handlicher Bericht über die Ursachen, Hintergründe und mögliche Konsequenzen des Brexits und lädt mit seinem Schlussabschnitt zum kritischen Nachdenken über Nutzen und Grenzen direkter Demokratie ein.

 

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Literaturhinweis

Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ)
Brexit
5. Dezember 2016

Das Heft bietet mit folgenden Beiträgen einen ersten Überblick: Nicolai von Ondarza: „Die verlorene Wette. Entstehung und Verlauf des britischen EU-Referendums“; Julie Smith: „Europa und das Vereinigte Königreich. Kleine Geschichte der Beziehungen seit 1945“; Roland Sturm: „Uneiniges Königreich? Großbritannien nach dem Brexit-Votum“; Sionaidh Douglas-Scott: „Am Rande der Verfassungskrise? Die rechtliche Grundlage des Brexit“; Annegret Eppler: „Doch nicht wie ein Fahrrad. Desintegrative Momente der europäischen Einigung“; Wolfgang Franzen: „Europäische Union in der Krise. Sichtweisen und Bewertungen in acht Mitgliedstaaten“.


 zum Thema

Brexit: Großbritannien zwischen Re-Nationalisierung und Globalisierung

 

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