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Craig Whitlock: Die Afghanistan Papers. Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg

11.05.2022
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Autorenprofil
Dr. Arno Mohr
Berlin, Econ 2021

Craig Whitlock begibt sich investigativ auf Fehlersuche in Bezug auf den Afghanistan-Einsatz, so Rezensent Arno Mohr. Dabei verdichte der Autor anonymisierte Interviewaussagen von Generälen, Diplomat*innen, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen oder afghanischen Regierungsvertreter*innen zu einem kritischen Bild vom strategischen Verlauf und Scheitern dieses Nation-Building-Projekts. Für den Rezensenten steht nach der Lektüre außer Frage, dass „Lessons-Learned“-Interviews für amerikanische Regierungen auch nach der Beendigung dieses Engagements zu einem Dauerzustand werden können. (tt)

Eine Rezension von Arno Mohr

„Die Aufgabe eines Enthüllungsbuchs“ bestehe darin, herauszufinden, „welche Wahrheiten die Regierung verbirgt und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären.“ Diese habe ein Recht darauf, die ungeschminkte Wahrheit über den Krieg zu erfahren, insbesondere hinsichtlich der internen Kritik an Vorbereitung und Durchführung durch die Regierung. So begründet Craig Whitlock, der Reporter der Washington Post, seine Beweggründe, einem Krieg auf die Spur zu kommen, der 2021 in einem völligen Desaster der US-amerikanischen beziehungsweise NATO-Strategie einmündete und zu einem unrühmlichen Ende gelangte. Die Westmächte und ihre Führungsmacht standen in der Weltöffentlichkeit als Bloßgestellte da. Was war geschehen, will der Autor wissen, nachdem die USA und ihre NATO-Partner Taliban wie al-Qaida nach 9/11 innerhalb kürzester Zeit besiegen konnten, aber bis zum schmählichen Abzug im August 2021 in zwanzig Jahren nicht imstande waren, Afghanistan zu befrieden?

Whitlocks Recherchen basieren auf Daten des Office of the Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), einer, wie der Autor befindet, kaum bekannten Bundesbehörde: Interviews mit Hunderten von Kriegsteilnehmern, die im Rahmen eines Projekts, das sich Lessons Learned nannte, durchgeführt wurden, mit dem Ziel, Fehler aus dem Afghanistankrieg für künftige militärische Konflikte zu vermeiden. Allerdings fanden sich in diesen Berichten weder Kritisches über Vorbereitungen oder Kampfhandlungen noch irgendwelche Schuldzuweisungen. Whitlock fragte bei der Behörde nach, seine Anfragen wurden aber dilatorisch behandelt. Es mussten erst Bundesgerichte Urteile fällen, die Whitlock erlaubten, auf diese Informationen zuzugreifen – nach drei Jahren Rechtsstreit! Der Autor konnte somit Befragungsprotokolle von insgesamt 428 Personen auswerten, die am Krieg unmittelbar beteiligt waren, und zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen: Generäle, Diplomat*innen, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen oder afghanische Regierungsvertreter*innen. Zwar anonymisierte SIGAR die Berichte, Whitlock verfügte aber auch so über anderes Material, um seine imposante und auch deprimierende Geschichte des Krieges zu erzählen. Nachdem Whitlock zudem Zugang zu einigen Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern der amerikanischen Botschaft in Kabul erhalten hatte, war ihm noch klarer geworden, mit welchem Dilettantismus dieser Krieg geführt wurde. Als der Kongress so langsam aus seiner Lethargie erwachte und Untersuchungen anstellte, kam heraus, dass die Regierung gegenüber der Öffentlichkeit nicht vollumfänglich transparent war. Viele Funktionsträger*innen der Militärmaschinerie mussten dies vor den Kongressabgeordneten wohl oder übel einräumen. Genauso erdrückend waren Aussagen von mehr als 3.000 Soldaten, die „im Krieg gegen den Terror“ im Ausland kämpften, viele in Afghanistan stationiert. Diese Protokolle wurden von der Army nicht als „confidential“ deklariert, weil sie die Grundlagen für mehrere, von der Army initiierte, wissenschaftliche Untersuchungen darstellten. Ebenso konnte sich Whitlock auf vertrauliche Dokumente – als sogenannte „Schneeflocken“ bezeichnete Memos – beziehen, die Donald Rumsfeld, seinerzeit Verteidigungsminister, von seinen Subalternen erhalten hatte (11-22, 357-360).

Es wird an dieser Stelle ausführlicher auf das Zustandekommen des Buchs und auf die Quellensicherung durch den Autor eingegangen, weil es dem US-amerikanischen investigativen Journalismus bereits in der Wiege gesungen wurde, koste es was es wolle, seine Aufklärungspflichten der Öffentlichkeit gegenüber ernst zu nehmen und sich auch nicht durch administrative Hinhaltemanöver und durchsichtige Tricks an der Nase herumführen zu lassen. Es erscheint mir auch wichtig zu betonen, dass im Unterschied zu den Pentagon Papers der Schwerpunkt des Materials auf Interviews liegt. Jede qualitative Sozialforschung weiß um die Problematik von Interviews, vor allem von Interviewkontexten, in denen die Interviewten stehen, und den Eingangsfragen, denen sie ausgesetzt sind. Das individualpsychische Moment spielt hier eine maßgebliche Rolle. Und aufgrund der unterschiedlichsten psychischen Dispositionen der Befragten und einem heterogenen Wahrnehmungsverhalten können Zweifel oder Vorbehalte gegenüber bestimmten Äußerungen nicht vollständig eliminiert werden. Nun ist der Autor kein Wissenschaftler, der sich nach den Kriterien von good science richten muss. Viel wichtiger ist es, dass er ein so gutes Gefühl in sich trug und seine Zuversicht so groß war, was ihm erlaubte, die ‚dunkle‘ und ‚geheime‘ Geschichte des Afghanistankrieges aufzeichnen zu können, was vielleicht mehr Einsicht verspricht in die Mechanismen des Maschinenraums amerikanischer Kriegsführung, in die Verschleierungsmanöver der Administrationen dreier Präsidenten (Bush, Obama und Trump) und den unverfrorenen Umgang der Regierungen mit der eigenen Bevölkerung, als es eine wissenschaftliche Analyse hätte bewerkstelligen können.

Was ergibt also die Sichtung von Whitlocks Quellenmaterial?

„Fehler am Anfang bedeuten Tote am Ende“: So belehrt in einem berühmten amerikanischen Spätwestern der alte Indianerscout den jungen vom Westen unbeleckten Leutnant, der eine aus der Reservation ausgebrochene, marodierende Indianerhorde verfolgen soll. Diese Weisheit lässt sich, mit ein wenig Phantasie, auf Strafexpeditionen dominanter Großmächte in sogenannte „Schurkenstaaten“ anwenden. Die US-Amerikaner sind hierbei gebrannte Kinder, wie der Vietnamkrieg gezeigt hat. Aber auch die Sowjetunion wusste, als sie im Dezember 1979 in Afghanistan eingefallen war, um ein kommunistisches Regime ihrer Gnaden zu stützen, ein Lied davon zu singen. Man fällt in ein Land ein und gibt sich der Illusion hin, schon allein infolge seiner faktischen Übermacht an Soldat*innen und Material den Sieg davon zu tragen. Dies geschieht ohne, wenigstens, rudimentäre Beachtung der sozialen und politischen Kultur des unter Beschuss genommenen Landes. Erschwerend kommt hinzu, dass der Aggressor es unterlassen hat, nach Verbündeten innerhalb des angegriffenen Landes Ausschau zu halten, für welche die Mentalität, und Befindlichkeiten, der Bevölkerung gleichsam ihre zweite Natur darstellt. Die Widerstandskräfte eines angegriffenen Landes können sowohl hinsichtlich einer spezifischen Kriegsführung als auch hinsichtlich der Intensität des Bereitschaftswillens der einheimischen Bevölkerung, sich dem Aggressor entgegenzustellen, Ausmaße annehmen, die dieser nicht einkalkuliert hat und gewissermaßen einen „Sitzkrieg“ geradezu herausfordern, mit fatalen Folgen für sein Ansehen in der internationalen Politik. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist geradezu ein Paradebeispiel für eine derartige Konstellation.

Der Autor hat nicht ohne Grund den ersten Teil des Buchs mit „Ein trügerisches Siegesgefühl (2001-2002)“ (25-55) überschrieben. Ins Bild passen die Überschriften der ersten beiden Kapitel: „Eine konfuse Mission“ (25-40) und „‚Wer sind die Bösen?'“ (41-55) Ohne irgendeinen Hauch von einer halbwegs konsistenten Strategie zu besitzen, hätten die Amerikaner noch zwei Jahre nach ihrer Intervention in Afghanistan nicht gewusst, wer überhaupt ihr Hauptgegner war. Über Letzteres stellte Whitlock lakonisch fest: „[V]on diesem Grundfehler erholte sich die Invasionsstreitmacht nie.“ (43) Die US-Amerikaner waren nicht einmal in der Lage, zwischen al-Qaida und den Taliban zu unterscheiden. Dies wäre wichtig gewesen, denn beide Gruppierungen verfolgten unterschiedliche Ziele: Während die Terrororganisation als ein arabisches Netzwerk global agierte, war es den Taliban lediglich um die Erringung der Herrschaftsgewalt im regionalen Sinne gegangen. Sie gingen mit al-Qaida lediglich ein Zweckbündnis ein, und es fehle jeder Beweis, dass die Taliban etwas mit 9/11 zu tun gehabt hätten (45).

Doch die US-Amerikaner und ihre NATO-Partner trieben ihre Kriegsziele über den Ursprungszweck weit hinaus. Nun versuchten sie sich am Projekt Nation-Building: der Demokratisierung Afghanistans nach US-amerikanischem Vorbild (was im Grunde nichts anderes hieß als Abwesenheit von Instabilität) – ein Vorhaben, das nach Whitlock, „zusehends außer Kontrolle“ geraten sollte (58). Eine gigantische Summe von 143 Milliarden Dollar (2001-2020) wurde mehr oder weniger in den Sand gesetzt. Eine weitere Fehlperzeption bestand darin, ein demokratisches System zentralistisch aufzubauen. Ein solcher Schritt widerspräche aber den afghanischen Traditionen, die den Grundsätzen von Stammesklientelismus und Dezentralisierung folgten (65-70). Als im Laufe des Jahres 2003 Afghanistan in den Schatten des Irak-Krieges geriet und von den USA marginalisiert beziehungsweise der Krieg als beendet erklärt wurde, waren die militärischen Entscheidungsträger vor Ort mit einer komplizierteren Art der Kriegsführung konfrontiert: guerillamäßig durchgeführten Aufständen der Taliban. Die US-Amerikaner hatten dagegen kaum etwas zu bieten, zum Beispiel keine durchschlagende counter-insurgency-Strategie. Auch sei der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte durch die Bush-Regierung eher minimalistisch realisiert worden, abgesehen auch davon, dass die Afghanen mit diesen aufoktroyierten Polizeikräften nichts anzufangen gewusst hätten (103). Wie sollte die Zusammenarbeit mit den Einheimischen auch gelingen, oder wenigstens zu einigen zufriedenstellenden Ergebnissen gelangen, wenn die meisten Truppenmitglieder keine Ahnung von der afghanischen Geschichte und dem religiös-sozialen Zusammenleben aufwiesen? Vertrauensbildende Maßnahmen waren auf dieser Grundlage nicht möglich.

Ein weiteres Dilemma der zweiten Bush-Präsidentschaft bestand darin, dass sich die US-Regierung zwei Kriege ‚leistete‘. Während der Irak-Krieg weiterhin im Zentrum des Interesses der Weltöffentlichkeit stand, rückte der Krieg in Afghanistan eher an den Rand. Schließlich war man seit 2003/04 der Auffassung, dass die Taliban-Rebellen, bis auf wenige Widerstandsnester, keine Rolle mehr spielten. Das sollte sich allerdings bitter rächen. Sie waren im Gegenteil noch sehr präsent, auch weil die USA und ihre NATO-Partner immer noch einer kohärenten Planung entbehrt hätten (145 ff.). Die einzige 'Strategie', so schien es, würde darin bestehen, einfach immer mehr Truppen anzufordern, um den Taliban endlich den Todesstoß zu versetzen. Skeptische Stimmen von Kommandeuren vor Ort wurden in Washington mit arroganter Nonchalance ignoriert.

Bei Obama änderte sich kaum etwas. Dieser verfolgte die Politik seines Vorgängers weiter: Unterdrückung von Aufständen und Stützung der afghanischen Regierung (196). Fatal war auch, dass sich die USA und ihre Alliierten nicht einmal darauf einigen konnten, ob sie tatsächlich einen Krieg zu führen, eine Friedensmission zu erfüllen oder einen Ausbildungsauftrag zu erledigen hätten. Eine einheitliche Linie sei jedenfalls nicht zu erkennen gewesen (199). Die Obama-Administration habe auf Erfolgsmeldungen gedrängt, die freilich ausgeblieben seien. Fest stehe lediglich, dass die Zahl der toten Amerikaner 2010 knapp unter 500 lag. Bis zum Jahre 2019 sei die Zahl auf 3.550 (283) angestiegen.

Am 1. Mai 2011 tötete ein Spezialkommando der Navy-SEALS Osama bin Laden in seinem pakistanischen Refugium – den Mann, der 9/11 zu verantworten hatte, und weswegen die US-Amerikaner überhaupt Krieg in Afghanistan führten, um die dort vermutete Terrororganisation al-Qaida zu eliminieren. Das sei auch das Signal für Obama gewesen, die Truppenstärke in Afghanistan zu reduzieren (bis 2013 von 100.000 auf 50.000 Mann). Obama und seine Administration hätten sich der trügerischen Illusion hingegeben, mit dem Tod des Terroristenführers entfiele auch der Zweck des Krieges (259 ff.). Und die politische Führung und die dieser zuarbeitenden Militärs seien weiterhin bei ihrem „verlogene[n] Fortschrittsnarrativ“ (273) geblieben. Die Verantwortlichen verwendeten sogar ein bislang vermiedenes Wort: Sieg – was nicht allein militärisch zu definieren war, sondern besonders auch im Blick auf die Schaffung eines stabilen Landes. Davon war aber bei weitem nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die US-Soldaten wurden sogar von den von ihnen ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräften gewaltsam angegriffen und ermordet. Diese zunehmenden Vorfälle brachten den geplanten Truppenabzug der Obama-Administration in Gefahr, da sich die einheimischen Armee- und Polizeikräfte, teilweise von Talibankämpfern unterwandert, als unzuverlässig erwiesen. Es gelang den afghanischen Ordnungskräften nicht, unabhängig von den NATO-Alliierten zu operieren.

Am 28. Dezember 2014 habe Obama das offizielle Ende des Krieges erklärt – nicht in Kabul, sondern aus den Ferien auf Hawaii (291 f.). Alle Schönfärberei nützte nichts. Whitlock stellt nüchtern fest: „Tatsächlich war der Krieg weit entfernt von einer Lösung“. Er dauerte weitere sieben Jahre: „Die unverfrorenen Behauptungen des Gegenteils gehörten mit zu den ungeheuerlichsten Täuschungen und Lügen, die von Washington während der zwanzig Jahre Krieg verbreitet wurden.“ (292) Obama, der unbedingt den Rückzug seiner Truppen wollte – und dies noch vor dem Ende seiner Präsidentschaft 2016 –, sei auf eine Strategie verfallen, wie er sein Versprechen vor der Öffentlichkeit seines Landes einlösen wollte: Die Truppen würden sich aus den Kampfhandlungen heraushalten und allenfalls noch Aktivitäten untergeordneter Art übernehmen. Da das Pentagon aber dabei zahlreiche Ausnahmen machte, sei der Unterschied „in der Praxis fast bedeutungslos“ (293) geblieben, das heißt, die USA wären weiterhin „unverzichtbarer Protagonist und weiterhin im Krieg“ geblieben (294, 299). Die Probleme steigerten sich, nachdem der Islamische Staat (IS) auf der Bildfläche erschienen war und sich in Afghanistan mehr und mehr ausdehnte. Die Taliban wurden gleichsam „abgewertet“ und nicht mehr als ‚Feind‘, sondern nur noch als ‚Gegner‘ eingestuft.

Wer nun glaubte, der neue Präsident Trump würde das in die Tat umsetzen, was er zuvor Obama vorgehalten hatte, nämlich den Krieg zu beenden und die Truppen zurückzuziehen, sah sich enttäuscht. Trump habe mehr gewollt – er wollte den Krieg gewinnen (308). Die Folge war die Entsendung mehrerer Tausend Soldaten und die unbefristete Verstärkung der Truppeneinheiten. Der einzige Unterschied, und kein unwichtiger, war, dass das Kriegsgeschehen sozusagen mit einer Tarnkappe versehen wurde. Die von Trump angeordnete Geheimhaltung diente der Irritation des Feindes und zur Beruhigung der amerikanischen Bevölkerung. Es war eine durchgehende Taktik der US-Militärs, praktisch ab ca. 2010, den Kongress mit gebetsmühlenartig hinausposaunten Siegesversprechungen zu beschwichtigen, obwohl die afghanische Realität das genaue Gegenteil offenbarte. Nicht umsonst hätten die alliierten Kommandoführer vor Ort mehrwöchige massive Luftangriffe auf ein riesiges Netzwerk von Opiumlaboren gestartet, um so die Hauptfinanzierungsquelle der Taliban im Mark zu treffen und diese trockenzulegen (Aktion „Iron Tempest“, 321 f.). Um die für die US-Amerikaner und ihre NATO-Partner katastrophale Lage in einem halbwegs erträglicheren Lichte sehen zu können, setzten sie auf Verhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung. Das sei auf eine Art ‚Versöhnung‘ hinausgelaufen, nachdem Präsident Ghani 2018 bedingungslose Friedensgespräche angeboten und die Taliban als politische Partei anerkannt hatte (343). Am 29. Februar 2020 schlossen die Taliban und die Amerikaner in Doha eine Vereinbarung ab, in welcher die Beendigung des Krieges dokumentiert wurde. Sie stellte die Voraussetzung dar, dass sich die Taliban mit der afghanischen Regierung auf Gespräche einließen. Nach Weisung Trumps wurden die Truppen auf 2.500 reduziert (Januar 2021). Die US-Amerikaner traten in Afghanistan wie eine Polizeitruppe auf, die nur daran interessiert war, den Sumpf des al-Qaida-Terrorismus ein für alle Mal trockenzulegen. Donald Rumsfeld, ihr kompromissloser, mächtiger Verteidigungsminister, habe diese Ansicht einst so ausgedrückt: „Unsere Aufgabe ist es, die Bösen zu töten, und wen kümmert es, was geschieht, nachdem wir die Bösen getötet haben? Das ist ihr [der Afghanen, A. M.] Problem.“ (64) Der chaotisch verlaufene, abrupte Rückzug der US-Amerikaner und der NATO-Truppen aus dem Krieg, der im Grunde nie zu gewinnen war, verdeutlichte auf krasse Weise, dass die Eliminierung von terroristischen Nestern mit allein Waffengewalt im Ausland, dass martialische Gewaltaktionen ohne wenigstens in groben Umrissen festgelegte Kriegsziele, die über den Tag hinausreichen, sinnlos sind. Denn es scheint auf der Hand zu liegen, dass Konfliktszenarien zu erwarten sind, die nicht mehr eingehegt beziehungsweise regionalisiert werden können. Das Stümperhafte war aber, dass es den Alliierten über die ganze Kriegsepoche hinweg nicht gelang, in den zerklüfteten Stammeskulturen schwergewichtige und einigermaßen verlässliche Verbündete zu gewinnen und einen – wenigstens ansatzweisen – Rückhalt in der Bevölkerung geltend machen zu können. Man möge bedenken, dass viele Afghanen die Taliban ob ihrer brutalen Vorgehensweise verachteten. Allerdings sympathisierte vor allem aus dem Stamm der Paschtunen ein erheblicher Prozentsatz mit den Taliban im Kampf gegen die US-amerikanischen „Eindringlinge“, die nur zerstören würden, aber nichts Positives entwickeln könnten.

Und die Toten „am Ende“? Im Jahre 2014 wurden 3.701 Tote in der Zivilbevölkerung verzeichnet. Für das Jahr 2019 wurden 64.000 ums Leben gekommene, uniformierte Afghanen erfasst. Schätzungen ergaben, dass gegen Ende der Kampfhandlungen pro Tag 30 bis 40 afghanische Soldat*innen und Polizist*innen getötet wurden. Was den Einsatz der Bundeswehr anbelangt, so wurden in zwanzig Jahren Krieg 150.000 Soldat*innen entsandt, 59 fanden den Tod. Die Kosten, für die die deutschen Steuerzahler aufkommen mussten, beliefen sich auf 12,5 Milliarden Euro.

Kann man aus der Geschichte lernen? Diese uralte Frage hatten viele so zu beantworten versucht, dass für künftige Entwicklungen in einem begrenzten Rahmen und auch unter anderen Voraussetzungen aus Fehlwahrnehmungen und Fehlverhalten ein Gewinn abgerungen werden konnte, der einer Art ‚Lernerfolg‘ gleichkommen würde. Nur so würde sich das in jener Frage ausgedrückte geschichtspolitische Momentum legitimieren lassen. Die US-Amerikaner haben sich in dieser Hinsicht aber in einer Aporie verfangen, aus der sie keinen Ausweg fanden. Sie haben seit Vietnam immer Nachuntersuchungen angestellt, um herauszufinden, wie eine solche Katastrophe überhaupt passieren konnte. Nun haben sie „Lessons Learned“ durchgeführt – wieder mit dem Ziel, aus Irrtümern und Fehlschlägen entsprechende Lehren zu ziehen. Ich wette, dass „Lessons-Learned“-Interviews für amerikanische Regierungen zu einem Dauerzustand werden. Die Biden-Administration ist jetzt schon auf Fehlersuche gegangen.

 

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