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Berthold Löffler: Der Riss durch Europa. Kollision zweier Wertesysteme

09.09.2021
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Stuttgart, Kohlhammer 2020

Laut Rezensent Rainer Lisowski geht es Berthold Löffler in „Der Riss durch Europa“ darum, die unterschiedlichen Weltsichten in West- und Osteuropa aufzuzeigen, wie zum Beispiel in der Frage der Migration. Kosmopolitisch-multikulturelle und kommunitaristisch-demokratische stünden einander gegenüber. Während sich erstere etwa in den Wertvorstellungen der Grünen finden, seien letztere primär in Osteuropa vorhanden, die sich durch eine Wertschätzung des Nationalstaates auszeichnen. Löffler teile eher die Positionen der Kommunitaristen. Das Buch sei zugleich Analyse und Abrechnung – etwa mit Angela Merkels Politik. (ste)

Eine Rezension von Rainer Lisowski

Auf jede Packungsbeilage eines Medikamentes gehört der Hinweis, welche Gruppen dieses besser nicht einnehmen sollten. Im Politischen hält man von solchen Gegenhinweisen derzeit besser Abstand, verstärken sie doch die aktuell grassierende Neigung zu Echokammern und Filterblasen. Dennoch sei denjenigen, die pro Migration und für ein föderales Europa streiten, sicherheitshalber geraten, vor der Lektüre von „Der Riss durch Europa“ von Berthold Löffler ein blutdrucksenkendes Mittel bereitzulegen. Allein schon Wortwahl, These und Quellen von Löfflers Analyse könnten bei manchem zu arterieller Hypertonie führen.


Dabei klingt der Titel „Der Riss durch Europa. Kollision zweier Wertesysteme“ zunächst einmal recht nüchtern und sachlich-analytisch. Auch lässt der Titel inhaltlich ein wenig mehr vermuten als eine reine Betrachtung des Migrationskonfliktes in Europa. Der Großteil des Textes beschränkt sich aber auf diesen. Und der sachlich-analytische Pfad wird zwar nicht wirklich verlassen, aber es findet sich doch die eine oder andere arg markante Formulierung in dem Buch.


Der aus der Praxis kommende Ravensburger Politikwissenschaftler Löffler hat selbst mehrere Jahre in Osteuropa gelebt und spricht osteuropäische Sprachen. Er versucht in dem Buch zunächst den derzeitigen Ost-West-Konflikt, der sich so sehr an der Frage der Migration entzündet hat, besser einzuordnen. Am Anfang ist das Buch zurückhaltender, analytischer geschrieben als in den späteren Abschnitten; insbesondere wenn der Autor die Kernbegriffe seiner Darlegungen bestimmt (15-30). Denn für Löffler steht hinter den Auseinandersetzungen um die richtige Zuwanderungspolitik ein viel weitergehenderer, grundsätzlicher Konflikt, der sich auch nur in Teilen mit einer Rechts-Links-Auseinandersetzung überlappt (30).


Für Löffler ringen vielmehr eine kosmopolitisch-multikulturelle Weltsicht und eine kommunitaristisch-demokratische um die Deutungshoheit in Europa. Während die erstgenannte mittlerweile Mainstream in Westeuropa geworden sei und in nahezu allen politischen, medialen, kulturellen und wirtschaftlichen Eliten vorherrsche, finde sich letztere primär in Osteuropa. Hier wird sie sowohl von den osteuropäischen Eliten als auch von der breiten Masse der Bevölkerung vertreten. Dies belegt Löffler durch Demoskopie (115) und Originalstimmen, die er direkt übersetzt und die eine große Stärke seines Buches ausmachen1.


Die kommunitaristisch-demokratische Sicht zeichnet sich nach Löffler durch ihren positiven Blick auf den Nationalstaat aus. Dieser werde als Ankerpunkt für die eigene Demokratie gesehen. Nach Meinung der Kommunitaristen organisiere er eine (sozialstaatliche) Solidarität zwischen den Menschen und zügele den ungebremsten Individualismus. Für den Bestand des Nationalstaats wiederum bedürfe es in der kommunitaristischen Weltsicht eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das langsam wachsen müsse und sich nicht beliebig schaffen ließe (25 ff.). Als typisch für dieses Wertesystem sieht Löffler die alte de Gaulle’sche Idee eines Europas der Vaterländer („l’Europe des patries“). Der Vorwurf in Richtung der osteuropäischen Länder, sie seien „gegen Europa“, ist Löffler daher zu billig. In Osteneuropa sei man für Europa und für den Nationalstaat. Aber eben nicht für eine europäische Gemeinschaft, die als Überwindung des Nationalstaates verstanden wird. Dazu seien die Vorbehalte, die beispielsweise auch Ivan Krastev aufzählt https://www.pw-portal.de/die-krise-der-europaeischen-union/41039-europadaemmerung, zu hoch, hierzugehören insbesondere schlechte Erfahrungen mit multikulturellen Erlebnissen in der eigenen Geschichte; auch wolle man nicht die gerade wiedererlangte Souveränität verlieren, die man erst mit dem Ende der Fremdherrschaft durch Moskau zurückgewonnen habe. Außerdem wäre der Stolz auf das eigene Land zu nennen. In der – leider nicht mit Zahlen belegten – guten Kenntnis der Osteuropäer ihrer eigenen Geschichte erkennt Löffler einen Grund für ein resilientes Grundvertrauen in das eigene Land (120).
Die kosmopolitisch-multikulturelle Sicht zeigt sich für Löffler am besten in den Wertvorstellungen der Grünen, die seiner Meinung nach heute die politische Agenda in Deutschland bestimmen (23 f.). Dabei greift der Autor die Formulierung „linksliberale Ökobourgeoisie“ (28) auf, um die politische Ausrichtung dieses Milieus auf den Punkt zu bringen. Dieser „Ökobourgeoisie“ sei es gelungen, in der Migrationsfrage einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der deutschen Bevölkerung herbeizuführen. Während bis in die 1990er-Jahre eine Forderung nach Anpassung und Assimilation an eine (später) sogenannte „Leitkultur“ Konsens in der Gesellschaft gewesen sei (31), relativierte sich diese Sicht im weiteren Zeitverlauf – und zwar im gleichen Maße, in dem sich ein kultureller Relativismus verbreitete, dem alle Kulturen gleichwertig erscheinen. Heute stehen wir daher nach Sicht Löfflers vor einer „postmigrantischen Aushandlungsgesellschaft“, in der nicht mehr die Mehrheitsgesellschaft den Takt vorgebe und von eingewanderten Menschen Anpassung verlange, sondern in der plötzlich auch die ehemals Einheimischen als Integrationsfall gelten (47-55). Der Autor verweist dabei auf einige der in den sozialen Medien geschlagenen Schlachten, in denen beide Seiten durchaus zu heftigen Keilereien neigten.


Beide Seiten, Kommunitaristen und Multikulturalisten, begegnen Löffler zufolge der jeweils anderen mit Vorwürfen. Die Vorwürfe an die Kommunitaristen, deren Positionen Löffler weitgehend teilt, werden gut in den Bemerkungen vieler westeuropäischer Spitzenpolitiker deutlich, die aus der medialen Diskussion noch gut in Erinnerung sein sollten. Martin Schulz etwa sprach von unsolidarischem Verhalten und „Rosinenpickerei“ von Seiten einiger osteuropäischer EU-Mitglieder https://www.deutschlandfunk.de/spd-kanzlerkandidat-martin-schulz-der-bildungspolitische.868.de.html?dram:article_id=391760; Jean Asselborn erkannte in den Grenzabschottungen Ungarns eine Verletzung von EU-Grundrechten.


Den Kosmopoliten wiederum lässt sich nach Löffler vorhalten, dass sie durch ihren Kulturrelativismus zu viel gesellschaftlichen Kitt zerstörten, dazu neigten, die eigenen kulturellen Wurzeln zu negieren und letztlich die Grundlagen des Zusammenlebens gefährdeten: Einerseits übersehen sie, wie leicht sich Konflikte zwischen der Ursprungsgesellschaft und Eingewanderten entzünden können. Andererseits fällt die Basis auf Grundlage derer die Kosmopoliten gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugen wollen, dünn aus und beschränkt sich auf einen reinen Verfassungspatriotismus Habermas’scher Prägung. Löffler versucht zudem nachzuweisen, dass der humanitäre Wertekern von Verfassung und deutschem Rechtssystem eben sehr wohl (christlich) kulturell geprägt sei und daher für Kulturrelativismus kein Grund bestehe (105). Zudem unterstreicht er, dass eine rein technische Fokussierung auf die Rechtsordnung als Spielregel des Zusammenlebens ungenügend sei, da die Befolgungsbereitschaft einer Rechtsordnung mit einer gewissen Einheitlichkeit der Wertvorstellungen in der Bevölkerung korreliere (57). Das alles macht für Löffler Zuwanderung keinesfalls unmöglich. Es setzt ihr aber Grenzen.


Wie konnten kosmopolitische Ideale im Westen Europas Mainstream werden? Sicher hat Löffler Recht mit seiner Einschätzung, Alcide De Gasperi, Robert Schuman oder Konrad Adenauer hätten sich keine EU nach heutigem Zuschnitt vorstellen können, sondern wären Jarosław Kaczyński oder Viktor Orbán heute näher als Angela Merkel und Emmanuel Macron. Damals waren aber auch mehr Menschen sonntags in Kirchen zu finden, Mitglied einer Gewerkschaft oder trauerten den verlorenen Gebieten im Osten nach. Soziale Medien, das Internet und Globalisierung existierten nicht oder spielten im Bewusstsein der meisten eine untergeordnete Rolle. Kurzum: Es war ein anderes Land mit anderen Werten. Und an dieser Stelle macht es sich der Text von Löffler vielleicht etwas zu einfach, hat man beim Lesen doch zumeist den Eindruck, ausschließlich die Grünen (beziehungsweise die 68er) hätten durch das Erringen der polit-medialen Lufthoheit diese Umformung herbeigeführt. Ja, die Avantgarde boxt und drängelt und kann befremdlich undemokratisch werden, um ihre Anliegen durchzusetzen. Aber der Wandel von Wertvorstellungen ist soziologisch ausgesprochen komplex; hier spielen gesellschaftliche Großereignisse, technologische Innovationen oder veränderte Freizeit- und Konsummuster ebenso eine Rolle wie politisches Personal oder Leitartikel in Zeitungen. Politischen Eliten gelingt es nicht einfach so, die Meinung der Bevölkerung umzudrehen. Gerade beim Thema Migration kann man feststellen, dass jüngere Kohorten ganz anders in Bezug auf das Thema sozialisiert sind als die Menschen vor ihnen. Und ob bei voranschreitender Modernisierung eines Landes dieses auch ohne Migration so homogen wie in der Vergangenheit bleibt, darf durchaus bezweifelt werden. Die Sinus-Milieumodelle zeichnen beispielsweise ein Bild davon, wie sich moderne Gesellschaften über lange Jahre immer weiter ausdifferenzieren.


Dennoch: So provokant Löffler an etlichen Stellen auch schreibt, seine Analyse ist nicht unzutreffend. Insbesondere dann nicht, wenn er den politisch, medial und kulturell Verantwortlichen vorhält, eine breit angelegte, demokratische und ergebnisoffene Diskussion über das Thema Zuwanderung zu scheuen. In der Tat wäre kaum mit einer solchen Diskussion zu rechnen, an deren Ende beispielsweise eine Einschränkung des Asylrechts, vereinfachte Rückführungen oder ein anderer Umgang mit Armutsflüchtlingen stünde. Anstelle von Deliberation würden, so Löffler, permanent auf „kaltem Wege“ Fakten geschaffen. Man behaupte anderes, aber die eingeschlagene Politik gehe einfach weiter (74). Das stimmt – ist aber kein Alleinstellungsmerkmal der Migrationspolitik.


Am Ende ist „Der Riss durch Europa“ eine Mischung aus einer Analyse und einer Abrechnung. Die Analyse ist interessant zu lesen, gerade weil sie nicht dem westeuropäischen Mainstream entspricht und weil sie viele osteuropäische Stimmen in den Diskurs mit einbringt. Auch wenn sie gedanklich nicht viel weiter als beispielsweise die von Ivan Krastev geht, ist sie theoretisch stärker fundiert als jene und ebenso leidenschaftlich vorgetragen. Die Abrechnung ist vermutlich politisch notwendig, phasenweise aber etwas überzogen, etwa, wenn (gewollt oder ungewollt) der Verdacht nahegelegt wird, wir würden peu à peu unterwandert. Auch die Abrechnung mit Angela Merkels Politik fällt zu heftig aus.


Vor allem aber wird eine Alternative nicht so richtig deutlich. Der Journalist Deniz Yücel (er wird übrigens auf Seite 50 kritisiert) schrieb kürzlich in der „Welt“ über Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen sinngemäß, dieser sei der letzte Vertreter des verloren gegangenen Lebensgefühls der 1980er-Jahre2. Analog könnte dieser Satz auch auf das Buch von Löffler angewandt werden. Aber: Es gibt sehr gute Gründe, diese Lebenswelt fortleben lassen zu wollen. Die früher deutlich höhere Bedeutung von wirklicher Bildung oder auch von altmodischer Höflichkeit, die eine Gesellschaft zivilisierter macht, wären solche.


Anmerkungen

1 So zerstritten man etwa in Polen auch ist – die Migrationspolitik Westeuropas wird in allen politischen Lagern abgelehnt (vgl. auch 80). Die kritischen Kommentare dazu aus dem Westen werden in allen Bevölkerungsschichten als moralische Überheblichkeit und Arroganz verstanden (90). Merkels Unwille, die Schulden Griechenlands zu vergemeinschaften, bei der Migrationskrise aber von allen anderen eine solche Vergemeinschaftung zu verlangen, wurde in Warschau, Prag oder Budapest als pure Heuchelei wahrgenommen (131).

2 https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus232309933/Union-Hans-Georg-Maassen-das-letzte-Ein-Mann-Aufgebot.html

 

 

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