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Populismus, Radikalisierung, Autoritarismus. Herausforderungen der Demokratie

14.01.2021
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach

Foto Gert Altmann Pixabay DemokratieFoto Gert Altmann Pixabay Demokratie

Unterschiedliche Facetten der Gefährdung von Demokratie stehen im Blickpunkt von drei Sammelbänden, denen sich Thomas Mirbach widmet. Der von Ralf Mayer und Alfred Schäfer edierte Band betrachte die Debatte über den Populismus aus divergierenden Perspektiven. Um Radikalisierungsprozesse gehe es in dem von Christopher Daase et al. herausgegebenen Buch und im Band „Die Zukunft der Demokratie“ werden Belastungen für die Demokratie genannt, wie etwa die steigende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit und daraus Forderungen zur Rückgewinnung demokratischer Legitimität abgeleitet, so der Rezensent.

Eine Sammelrezension von Thomas Mirbach

Die Zukunft der Demokratie erscheint in vielen Zeitdiagnosen, aber auch in akademischen Fachdiskussionen, wenn nicht gefährdet, so doch mindestens nicht mehr selbstverständlich. Dabei zählen Autoritarismus, Populismus, Radikalisierung zu zentralen Herausforderungen der Demokratie. Einschlägige Problembeschreibungen, Analysen und Handlungsempfehlungen variieren je nachdem, in welchem institutionellen oder kommunikativen Kontext sie entwickelt werden und an welches Publikum sie sich wenden. An drei neuen Sammelbänden lässt sich ablesen, dass der jeweils gewählte Entstehungs- und Verwendungskontext unterschiedliche Facetten der Gefährdung von Demokratie hervortreten lässt.

Der von Ralf Mayer und Alfred Schäfer herausgegebene Sammelband (2019) geht von der vielfach gemachten Beobachtung aus, dass in der Auseinandersetzung mit populistischen Strömungen eine Aufklärungsperspektive, die ihre Opponenten über Sinn und Rationalität demokratischer Politik belehren möchte, zunehmend an Grenzen stößt. Dies nicht nur, weil ihr womöglich die kommunikativen Mittel fehlen, um in einer affektiv aufgeladenen Debatte Anschlussfähigkeit zu gewinnen. Auf systematische Grenzen stößt diese Aufklärungsperspektive vielmehr, weil sie im politischen Streit lediglich als eine Positionierung unter anderen wahrgenommen wird. Gerade neuere Spielarten radikaler Demokratietheorie heben einen postfundamentalistischen Ansatz hervor, der die grundsätzliche Kontingenz normativer Positionen behauptet. Für die Herausgeber zeigt sich das insbesondere am Verhältnis von Volkssouveränität und demokratischer Repräsentation. Zwar erhalte der Souverän erst in seiner Repräsentation eine einheitliche Form, aber die jeweilige Ausgestaltung der Repräsentation dürfe nicht als einzig mögliche gelten: „Die politischen Strategien und Begründungsfiguren – egal von welcher Seite – können sich daher nicht auf eine allgemein verbindliche, unbestreitbare Form oder Kontinuität – in Gestalt von Rationalität oder Gemeinsinn, Norm oder Gesetz – berufen.“ (11) Rückt man wie hier den demokratisch irreduziblen Streit als Arena des Politischen in den Vordergrund, dann ist davon zweifellos die Auseinandersetzung mit dem Populismus tangiert (12 ff.). Gehört zum Verständnis der Souveränität des Volkes – so die Herausgeber – auch das subjektive Recht, sich unvernünftig oder egoistisch und im Kontrast zum Common sense zu positionieren? Ist dann die Reaktion des politischen Systems auf populistische Herausforderungen nicht selbstdementierend, wenn der Souverän anhand der Unterscheidung vernünftig/irrational bewertet wird? In welcher Weise lässt sich die hohe transnationale Verflechtung politischer Entscheidungen überhaupt noch (national) gewählten Repräsentanten zurechnen und was bedeutet das im Gegenzug für politische Akteure, wollen sie jenseits populistischer Strategien Akzeptanz für ihre Entscheidungen finden? Mit diesen Stichworten entwerfen die Herausgeber ein Szenario, das die Debatte über den Populismus in ein Spannungsfeld von Rationalität, Affektivität, Ressentiments einerseits und strategisch-taktischem Operieren sowie institutionellen Rahmenbedingungen andererseits rückt (16).

Die Beiträge, die auf eine gleichnamige Tagung an der Martin-Luther-Universität 2017 zurückgehen, greifen das Thema aus unterschiedlichen, politikwissenschaftlichen, soziologischen, kulturwissenschaftlichen, philosophischen und bildungstheoretischen Perspektiven auf. Dabei fällt auf, dass der eingangs beschriebene Ansatz – einer vom cultural turn inspirierten Gleichsetzung des Sozialen mit dem Diskursiven – nicht von allen Autorinnen und Autoren übernommen wird. Explizit folgt Jürgen Link dieser Sicht, wenn er – ausgehend von der „Unterscheidung zwischen Normativität als quasi-juridischem Maßstab und Normalität als statistisch analysierbarem und repräsentierbarem Massenverhalten“ (139) – dem Gros der Populismustheorien vorhält, sich überwiegend im Feld moralischer Urteile zu bewegen. Analytisch ertragreicher sei es, sich vom politischen Normalitätsdispositiv – das wesentlich auf einer Kodierung des Politischen im Spektrum von rechter beziehungsweise linker Mitte beruht – zu lösen und stattdessen nach den „konkreten demands“ der Bewegungen zu fragen; dann nämlich würden die vom Mehrheitsdiskurs verdeckten Antagonismen sichtbar (155). Im Anschluss an Gramsci skizziert Kolja Möller die Idee, mit den Paradoxien popularer Politik – nämlich sich in ihrer Wirkmöglichkeit zu überschätzen oder aber in neue Herrschaftsprojekte umzuschlagen – reflexiv umzugehen. Allerdings bleibt das Bild eines hybriden Bündnisses der Machtunterworfenen, „das die eigene Verfasstheit immer wieder neu justiert“ (84) eher metaphorisch. Sehr differenziert setzt sich Alfred Schäfer mit dem schwierigen Verhältnis von Ressentiment und Sozialkritik auseinander. Zwar ist es plausibel anzunehmen, dass Ungerechtigkeitserfahrungen auch affektiv grundiert sind, aber ihre Übersetzung in eine moralbasierte Kritik arbeitet „nicht nur mit Grenzziehungen, die Zugehörigkeiten und Nichtzugehörigkeiten definieren sollen; sie vereindeutigen diese Grenzziehungen durch Essentialisierungen“ (232). Aufseiten einer identitätspolitischen Diskriminierungskritik wird gesellschaftliche Wirklichkeit dann unter dem Gesichtspunkt moralischer Schuld angesprochen, während aufseiten rechtspopulistischer Rhetorik die Konstruktion äußerer Feinde dazu dient, die moralische Unschuld des Volkes zu untermauern (233). Eine verwandte Fragestellung greift Ralf Mayer mit einer Hegels Phänomenologie des Geistes folgenden Deutung von Empörung als einem widersprüchlichen Element von Bildungsprozessen auf. Das Empörungsmotiv als Impuls für Protest oder Verweigerung bewegt sich stets „im Spannungsverhältnis zwischen einer Ambition, die […] mit universalem Anspruch auftritt und der irreduziblen Partikularität und Relationalität der Äußerung“ (264).

Die anderen Beiträge des Bandes nehmen eine eher sozialwissenschaftlich-analytische Perspektive ein. Kritisch setzt sich Astrid Seville mit Ernesto Laclau auseinander, der im Kontext seines hegemonietheoretischen Ansatzes Populismus mit dem Politischen nahezu gleichsetzt. Demgegenüber liefern empirische Analysen gute Gründe dafür, zwischen verschiedenen – mindestens rechten und linken – Spielarten des Populismus zu unterscheiden. Diese Sicht wird überzeugend von Floris Biskamp bestätigt. In seiner Analyse beschreibt er zunächst, dass länderspezifische Repräsentationslücken in der Europäischen Union zu unterschiedlichen Ausprägungen des Populismus führen und verknüpft diesen Befund dann mit den durch den bisherigen Verlauf des Integrationsprozesses verschärften politisch-ökonomischen Ungleichgewichten innerhalb Europas.

Fabio Wolkenstein hebt hervor, dass ein prozedural-demokratisches Verständnis von Volkssouveränität an gesellschaftliche Rahmenbedingungen gebunden ist, die bei Interessenkonflikten strategische Kompromisse ermöglichen. Demnach wäre es eine empirische Frage, ob sich der vielerorts zu beobachtende Trend moralisierter Polarisierung – von dem zumal der Rechtspopulismus profitiert – so weit durchsetzt, dass der Modus interessenbezogener Polarisierung erodiert und mit ihm die Geltung des demokratischen Prozeduralismus. Karin Priester macht zu Recht darauf aufmerksam, dass von den Debatten über den Populismus die andere Bedrohung, nämlich die Aushöhlung demokratischer Verfahren durch technokratische Praktiken, überlagert wird. Ein Resümee ihres Vergleichs: Bei allen Unterschieden haben Populismus und Technokratie einen anti-politischen, gegen Parlament und Parteienherrschaft gerichteten Habitus gemeinsam. Weit ausholend rückt Timo Heim die vom gegenwärtigen Rechtspopulismus ausgelösten Herausforderungen in eine seit den 1970er-Jahren anhaltende Strukturkrise der Kapitalakkumulation, deren Dynamik die Handlungskapazitäten nationaler Politik überlastet und zu Modi politischen Übersprungshandelns in Gestalt von Autoritarismus, Nationalismus und Rassismus führt. Cornelia Koppetsch schließlich stellt gleichsam in Kurzform ihre an Bourdieu anschließende Analyse sozialer Deklassierungen vor, die sie 2019 in „Die Gesellschaft des Zorns“ schon entwickelt hat.

Die Beiträge des von Mayer und Schäfer herausgegebenen Sammelbandes befassen sich mit Phänomenen populistisch hervorgebrachter Spaltungen teils auf Ebene von Deutungssystemen, teils auf Makro-Ebene gesellschaftlicher Strukturen; dabei überwiegt eine konzeptionelle Perspektive, die Vorschläge zur Interpretation unterschiedlicher Empirien macht, aber weniger auf der Basis empirischer Erhebungen argumentiert.

Einen völlig anderen Ansatz verfolgen die Autorinnen und Autoren des von Julian Junk, Christopher Daase und Nicole Deitelhoff publizierten Bandes (2019). Das Buch ist im Rahmen des vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) koordinierten Forschungsnetzwerks „Gesellschaft Extrem: Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland“ entstanden und befasst sich mit dem komplexen Zusammenspiel individueller, gruppenbezogener und gesellschaftlicher Ursachen illiberaler Radikalisierung. Dies geschieht explizit mit Blick auf den Stand empirisch gesicherten Wissens über spezifische Mechanismen von Radikalisierung. Dieser Wissensstand ist bisher eher fragmentarisch und es überwiegen Fragen, die sich gegenwärtig empirisch nicht verlässlich beantworten lassen. Summarisch gesprochen sind aus Sicht der Autorinnen und Autoren dafür mehrere Faktoren verantwortlich: mangelnde interdisziplinäre Zusammenarbeit, unzureichende Koordination von Forschungsvorhaben gerade auch in transnationalen Zusammenhängen und eine immer noch nur begrenzte Zusammenführung des Wissens von Akteuren aus Praxis, Wissenschaft und Sicherheitsbehörden (7 ff.). Die sieben Beiträge fassen den Forschungsstand zum jeweiligen Themenfeld zusammen, entwickeln Handlungsempfehlungen für relevante Akteure und enthalten eine kommentierte Auswahl einschlägiger Fachliteratur. Untersucht werden einerseits Radikalisierungsverläufe von Individuen, Gruppen und auf gesellschaftlicher Ebene, andererseits geht es um Ansätze der Deradikalisierung, um die Rolle des Internets (dabei primär mit Blick auf dschihadistische Radikalisierung) sowie um Umsetzung und Ergebnisse von Präventionsmaßnahmen im Spiegel von Evaluationen. Drei zentrale Befunde des sehr anregenden Sammelbandes seien herausgegriffen. In konzeptioneller Hinsicht schlagen Gaspar u. a. einen weiten Radikalisierungsbegriff vor, der eine „zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung [beziehungsweise die] zunehmende Bereitschaft, die institutionelle Struktur dieser Ordnung zu bekämpfen“ (20) zugrunde legt. Eine allein auf Gewaltanwendung abstellende Definition würde demgegenüber frühe Interventionsmöglichkeiten und Formen struktureller Diskriminierung übersehen (35). Betrachtet man die personale Ebene, dann sind Radikalisierungsverläufe zwar hochindividuell, aber sie lassen zugleich Muster sozialer Entwicklungspfade erkennen. Persönliche Dispositionen allein können nicht ausreichend erklären, warum der Weg in die Radikalisierung beschritten wird (Zick et al.). Auf der Ebene von Gruppen zeigen Meiering et al., dass in erster Linie Interaktionsmechanismen – gruppenintern, zwischen verschiedenen Gruppen und gegenüber staatlichen Akteuren – Radikalisierung vorantreiben und weniger spezifisch ideologische Ausrichtungen. Eine die Verbreitung von Radikalisierung stützende Funktion erfüllen dabei „Brückennarrative“, also flexibel anwendbare Deutungsmuster, die in unterschiedlicher Ausprägung auf Elementen des Antisemitismus, Antifeminismus und der Verklärung von Widerstand beruhen (102 ff.).

Eine explizit politische Debatte unternehmen die Autorinnen und Autoren des dritten Sammelbandes „Zukunft der Demokratie“ (Thomas Hartmann/Jochen Dahm/Frank Decker 2019), der aus einer Ringvorlesung der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Instituts für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn im Wintersemester 2018/2019 hervorgegangen ist. Vier übergreifende Bezugspunkte nennen die Herausgeber zur Beschreibung neuartiger Herausforderungen der Demokratie: die infolge der Globalisierung kleiner werdenden Handlungsspielräume nationaler Politik, steigende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, Fragmentierung der Öffentlichkeit durch Digitalisierung und Fragen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit. Diese Probleme schneiden sie mit guten Gründen auf spezifische Herausforderungen der Parteiendemokratie zu und formulieren vier Forderungen zur Rückgewinnung demokratischer Legitimität: (a) müssen die Repräsentationsbasis von Parteien und Parlamenten verbreitert und (b) die Verlierer des Wettbewerbgeschehens stärker geschützt werden, (c) zugleich dürfen notwendige Kompetenzübertragungen auf europäische oder transnationale Ebene demokratische Errungenschaften auf nationaler Ebene nicht aushöhlen und (d) sind Rechtstaatlichkeit, Meinungspluralismus und Minderheitenrechte gegenüber populistischen Strömungen zu schützen (10 ff.).

Nicht alle der vier Forderungen werden von den 22 Beiträgen – unter denen sieben mindestens in ähnlicher Form bereits andernorts erschienen sind – in gleicher Intensität aufgegriffen. Breiten Raum nehmen Auseinandersetzungen mit strukturellen (und weltweiten) Gefährdungen des demokratischen Systems (west- beziehungsweise nordeuropäischen Zuschnitts) ein. Dazu zählen politisch und wirtschaftlich einflussreiche Autokratien (Claus Leggewie) und zunehmende Grenzen internationaler Demokratieförderung (Brigitte Weiffen), Prozesse der Denationalisierung, die nicht durch Einhaltung demokratischer Standards abgesichert sind und interne Strukturprobleme (hohe Nichtwähleranteile, instabile Mehrheiten in Abhängigkeit von spezifischen Regularien der Wahlsysteme, sinkende Akzeptanz von Wahlniederlagen aufseiten unterlegener Gruppen) (Manfred G. Schmidt). Nicht zuletzt wird die intrinsische Bindung aktiver Bürgerinnen und Bürger an die politische Ordnung zu einem wesentlichen Faktor der Zukunftsfähigkeit von Demokratie gezählt (Colin Crouch; Gesine Schwan).

Noch größere Aufmerksamkeit finden Probleme der Parteiendemokratie im engeren Sinne. Getrieben von der Digitalisierung zeichnet sich ein von Lagerbildungen und Tribalisierungen geprägter Strukturwandel der Öffentlichkeit ab, der volatilen Bewegungen Aufwind zu geben scheint gegenüber etablierten Parteiorganisationen (Jasmin Siri). Von erheblicher Bedeutung ist die historisch-strukturelle Einbettung der Organisationsform Partei – Ostdeutschland gilt hier aufgrund mangelnder zivilgesellschaftlicher Verankerung als Beispiel eines fragmentierten Parteiensystems (Elisa Gutsche/Irina Mohr/Franziska Richter). Gegenüber populistischen Spaltungen des Wählerreservoirs wird den bisherigen Volksparteien ein „bürgerlicher Kompromiss“ empfohlen, der die Botschaften einer solidarischen Bürgergesellschaft und eines starken Staates kombiniert und so für Skeptiker wie für Verfechter von Globalisierung attraktiv wäre (Timo Lochocki). In eine ähnliche Richtung geht der speziell an die sozialdemokratische Linke gerichtete Rat, sich nicht die falsche Alternative von Kosmopolit*innen versus Kommunitarist*innen aufzwingen zu lassen (Christina Krell/Sönke Hollenberg); dafür ließen sich dann einige empirische Bestätigungen bei den gesellschaftspolitischen Einstellungen von SPD-Sympathisanten finden (Volker Best/Sandra Fischer/Anne Küppers). Deutlich anders votiert Albrecht von Lucke mit seiner Diagnose, nur mit einem gemeinsamen programmatischen Auftreten könnten SPD und Linkspartei ihre selbstverschuldete politische Bedeutungslosigkeit verlassen und innerhalb des Parteienwettbewerbs eine demokratiestärkende Alternative eröffnen.

Nüchterner fallen die Überlegungen hinsichtlich möglicher institutioneller Stärkungen des Repräsentativsystems aus. Lisa Herzog sieht in Ansätzen eines wirtschaftsdemokratischen Experimentalismus – konkret: Auswahlverfahren zur Besetzung bestimmter Positionen innerhalb von Unternehmen per Los, Einführung von deliberativen „mini-publics“, in großen Firmen Etablierung eines Zweikammersystems (Kapital/Arbeit) – gleichermaßen Chancen zur Verbreiterung von Beteiligung qua Repräsentation und zur Einhegung des Wirtschaftssystems. Die von der Bundesregierung angekündigte Einrichtung einer Expertenkommission Bürgerbeteiligung lässt noch auf sich warten; Fedor Ruhose und Hans-Jörg Schmedes halten sie sowohl in der absehbaren thematischen Einengung auf Fragen direktdemokratischer Verfahren wie im Format für wenig geeignet. Einen ernst zu nehmenden Beitrag zur Stärkung der repräsentativen Demokratie könne eher eine Enquete-Kommission leisten, schon weil sie mit größerer Transparenz und Verbindlichkeit arbeite. Auch Frank Decker kritisiert die Fixierung der aktuellen Demokratiedebatte auf das Modell der Volksgesetzgebung; gerade mit Blick auf das gesellschaftliche Auseinanderdriften – wirtschaftlich, sozial und kulturell – sei der vermeintliche Mehrwert direktdemokratischer Verfahren weder normativ noch empirisch plausibel.

Vier Beträge befassen sich mit unterschiedlichen Ausprägungen sozialer Ungleichheit. Solange in dem Einwanderungsland Deutschland der Gleichheitsgrundsatz selektiv zu Lasten migrantischer (oder entsprechend deklarierter) Gruppen praktiziert wird, bleibt das Versprechen der pluralen Demokratie normativ halbiert (Naika Foroutan). In Fragen des Einkommens ist die soziale Spaltung in nicht unerheblichem Maße Folge einer systematischen Verzerrung politischer Entscheidungen, die eher begüterte und artikulationsstarke Gruppen begünstigen (Lea Elsässer/Svenja Hense/Armin Schäfer). Im Feld der Finanzmarktpolitik kann sich ökonomische Macht besonders dann in politischen Einfluss übersetzen, wenn sie im Schatten unangefochtener Narrative operiert (Frederik Beck). Da sich diese Diskrepanz – wie zahlreiche empirische Studien zeigen – auch in der politischen Partizipation abbildet, eröffnet das faktische Demokratiedefizit Spielraum für populistische und antipluralistische Agitationen (Grit Straßenberger).


Leider nur zwei Beiträge beschäftigen explizit mit den Herausforderungen von Denationalisierung. Mit der Einführung des Europäischen Semesters hat die Europäische Kommission ohne formelle Kompetenzübertragung erheblich an Autonomie in Fragen der Wirtschaftspolitik gewonnen – gegen derartige Prozesse der Demokratieeinschränkung ist eine Stärkung der Parlamentarisierung auf nationaler und europäischer Ebene dringend geboten (Dominika Biegon). Entschieden verstärkt Ulrike Guérot diese Forderung: Erst eine vollständige Parlamentarisierung des EU-Systems, einschließlich eines materiellen Ausbaus der europäischen Staatsbürgerschaft, könnte der europäischen Identität eine demokratisch-normative Basis verleihen, die die Einheit rechtlich und eben nicht kulturell ausbuchstabiert.

Fazit

Der Sammelband von Mayer/Schäfer, überwiegend als theorieinterne Debatte ausgelegt, hinterlässt ein etwas widersprüchliches Bild. Einerseits geben die sozialwissenschaftlich-analytisch orientierten Beiträge plausible – zum Teil durchaus bekannte – Anhaltspunkte, an denen weitere empirische Forschung zum Populismus anschließen könnte. Andererseits laufen einige der hegemonietheoretisch ausgerichteten Abhandlungen Gefahr, eher an terminologischer Differenzierung als an der Erschließung des Gegenstands interessiert zu sein. Davon unabhängig ist die Forderung mehrerer Autorinnen und Autoren, die Analyse populistischer Strömungen nicht im Register der Moral zu betreiben, zweifellos berechtigt.

Der Sammelband von Junk et al. greift mit Radikalisierungsprozessen ein spezifisches und zweifellos wichtiges Segment der Demokratiegefährdung auf. Die Beiträge leisten in diesem Kontext eine kritische Sichtung des Forschungsstandes und formulieren zugleich gut begründete Empfehlungen für künftige Kooperationen zwischen Wissenschaft und Praxis, ohne die eine wirkungsvolle Auseinandersetzung mit Radikalisierung – welcher Spielart auch immer – wenig aussichtsreich erscheint.

Die Ringvorlesung über die „Zukunft der Demokratie“ wendet sich nicht in erster Linie an den akademischen Diskurs, das gibt den Beiträgen größere Spielräume in der Diskussion konkreter Fragen der Demokratiegefährdung. Dabei sind vor allem die teils analytischen, teils strategischen Überlegungen hinsichtlich der aktuellen Herausforderungen der Parteiendemokratie und des Repräsentativsystems lesenswert.

 

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Frankfurt a. M., Campus 2019

Thomas Hartmann / Jochen Dahm / Frank Decker (Hrsg.)

Die Zukunft der Demokratie. Erkämpft. Verteidigt. Gefährdet?

Bonn, Dietz Verlag 2019

Bibliografische Angaben

Ralf Mayer / Alfred Schäfer

Populismus – Aufklärung – Demokratie

Baden-Baden, Nomos 2019

 

Christopher Daase / Nicole Deitelhoff / Julian Junk (Hrsg.)

Gesellschaft Extrem. Was wir über Radikalisierung wissen

Frankfurt a. M., Campus 2019

 

Thomas Hartmann / Jochen Dahm / Frank Decker (Hrsg.)

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