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Warum Moskau schließlich die okkupierte Krim an Kyjiw zurückgeben wird. Die Fiktion einer „russischen Krim“

16.07.2020
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Dr. Andreas Umland

Foto: Rosavtodor.ru / Wikimedia Commons, Lizenz CC BY 4.0Mit der Fertigstellung der Krim-Brücke durch die Meerenge von Kertsch gelang Russland eine physische Anbindung an die Krim. Foto: Rosavtodor.ru / Wikimedia Commons, Lizenz CC BY 4.0

 

Entgegen auch im Westen populärer Kremlmythen gibt es keine tiefe Verwurzelung der Krim in der russischen Nationalgeschichte. Vor diesem Hintergrund werden die Russen immer weniger bereit sein, in einer Zeit, in der sie zunehmend unter den Auswirkungen der Coronakrise leiden, knappe finanzielle Ressourcen zur Subventionierung der entlegenen Halbinsel aufzuwenden.

Russlands militärische Eroberung der ukrainischen Halbinsel Krim bewirkte 2014 nicht nur in den Außenbeziehungen Russlands einen tiefgreifenden Wandel. Moskaus illegale Inkorporation der Schwarzmeerperle hatte auch tiefe Auswirkungen auf die russische Innenpolitik. Sie schuf mit über 70 Prozent öffentlicher Unterstützung für die Annexion einen sogenannten „Krim-Konsens“ in der russischen Gesellschaft.

Dieser vorhersehbare Effekt war wahrscheinlich auch ein – wenn nicht der – Hauptgrund dafür, dass der Kreml das waghalsige Expansionsabenteuer unternahm. Doch Putins ominöser Hinweis auf die Wiedervereinigung Deutschlands in seiner Rede zur Annexion der Krim am 18. März 2014 deutete bereits auf die große langfristige Herausforderung seiner damals gerade erfolgten triumphalen Landnahme hin. Diese Gebietsausweitung wird, wie das von ihm zitierte Beispiel der deutschen Einheit zeigt, über Jahre und Jahrzehnte hohe Kosten für Russland verursachen.

Die unterschätzte Ausgabenseite der Gebietsexpansion

Zwar sind die beiden „Wiedervereinigungen“ in ihren Ursachen, Abläufen und Bedeutungen höchst unterschiedlicher Natur. Auch ist weder die Krim mit der „Deutschen Demokratischen Republik“ noch das heutige Russland mit dem Westdeutschland von 1990 vergleichbar. Die Krim ist im Verhältnis zur Russischen Föderation deutlich kleiner als es die DDR im Verhältnis zur alten Bundesrepublik war.

Doch bei allen Unterschieden gibt es für das russische Volk eine klare Lehre aus dem deutschen Beispiel: Die wirtschaftliche und soziale Integration neuer Gebiete in einen bestehenden Staat ist, wie die Deutschen in den vergangenen 30 Jahren gelernt haben, ein kostspieliges Unterfangen. Die Hauptfrage der zwar illegalen, doch 2014 zunächst unkomplizierten Übernahme der Krim durch Moskau wird nicht sein, ob die Russen die ukrainische Halbinsel behalten wollen oder nicht. Zum entscheidenden Thema dürfte immer mehr werden, ob die russische Nation auch in Zukunft bereit sein wird, den vollen Preis für die kühne territoriale Ausweitung ihres Staates zu zahlen.

Das historisch überproportionale kulturelle Gewicht ostdeutscher Städte und Gemeinden bei der Herausbildung der modernen deutschen Nation ist einer der Gründe dafür, dass die Westdeutschen bereit waren, zwischen 1990 und 2018 rund 1,6 Billionen Euro nach Ostdeutschland zu transferieren. Aus ähnlichen Gründen sind sie auch heute noch, fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, bereit, einen „Solidaritätszuschlag“ in Höhe von 5,5 Prozent der Einkommens-, Lohn- und Kapitalertragssteuer zu zahlen. Man fragt sich, ob die Russen ebenfalls zu langwierigen finanziellen Verpflichtungen gegenüber der Krim bereit sein werden, wenn die gravierenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Krise und ihrer verschiedenen sozialen Nachwirkungen immer spürbarer werden.

Die Fiktion einer „russischen Krim“

Die historischen Verbindungen des Territoriums der heutigen Russischen Föderation mit der 1783 von Katharina II. eroberten Krim sind – im Gegensatz zu verbreiteten Stereotypen – nur gering. Von 1802 bis 1917 war die Krim Teil des Taurischen Gouvernements, welches die Krim mit der heutigen südlichen Festlandukraine verband. Der Geburtsname des international bekanntesten „russischen“ Sohnes der Krim, des berühmten Marinemalers Iwan Aiwasowskij (1817-1900), ist in Wirklichkeit Hovhannes Aiwasjan. Aiwasowskijs armenische Familie war aus dem ehemals ostpolnischen und heute westukrainischen Galizien auf die Krim gezogen.

Von 1954 bis 1991 war die Krim Teil der ukrainischen Sowjetrepublik. Daher fiel sie beim Zerfall der UdSSR an die unabhängige Ukraine, was der damalige russische Präsident Boris Jelzin im berühmten Belowescher Abkommen Ende 1991 offiziell anerkannte und das russische Parlament anschließend ratifizierte. 2003 erkannte auch der zweite Präsident Russlands Wladimir Putin in einem weiteren voll ratifizierten Vertrag über die ukrainisch-russische Grenze die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine an.

Die größte indigene Volksgruppe der Schwarzmeerhalbinsel sind die muslimischen Krimtataren. Ihre wichtigsten politischen Organe, der exekutive Mejlis und repräsentative Kurultaj, sind entschieden anti-putinistisch und pro-ukrainisch eingestellt. Die Russen waren auf der Krim im neunzehnten Jahrhundert Neuankömmlinge und lange eine relative Minderheit. Sie wurden erst 1944 im Ergebnis von Stalins ethnischer Säuberung der Halbinsel von den Krimtataren und anderen Minderheiten zur absoluten Mehrheit der Bevölkerung der Halbinsel.

Entwicklungsengpässe der annektierten Halbinsel

Im Gegensatz zu Russland und der Krim waren und sind Ost und West in Deutschland über Jahrhunderte historisch, politisch und demographisch vereint. Unter anderem aufgrund früherer enger Verbindungen zwischen der BRD und West-Berlin war die Infrastruktur Ost- und Westdeutschlands bereits vor 1990 teilweise integriert. Eine physische Anbindung an die Krim gelang Russland erst 2018-2019 mit der schrittweisen Fertigstellung der sogenannten "Krimbrücke" durch die Meerenge von Kertsch. Dieses Bauwerk stellt eine beeindruckende Ingenieursleistung dar.

Doch die Kertscher Brücke ist kein Allheilmittel für die zahlreichen Herausforderungen der Wirtschaft der ukrainischen Halbinsel und deren Integration in die russische Ökonomie. Moskaus großzügige Staatssubventionen für die Krim in Höhe von bislang rund 20 Milliarden US-Dollar haben seit 2014 zu Wirtschaftswachstum auf der Halbinsel geführt. Gleichzeitig ist jedoch der ukrainische und ausländische Tourismus und Investitionsumfang auf der Krim eingebrochen. Diese Verluste wurden nur teilweise durch Touristen und Investoren aus Russland kompensiert. Derartige ökonomische Basisprobleme werden sich auf der Krim immer stärker bemerkbar machen, sollte Russlands Wirtschaft demnächst in eine Rezession oder sogar Depression eintreten.

Darüber hinaus gibt es große infrastrukturelle Herausforderungen für die neuen, von Moskau installierten Machthaber auf der Krim. Besonders beunruhigend ist die eingeschränkte Süßwasserversorgung der ukrainischen Halbinsel, nachdem Kyjiw im April 2014 den Nordkrimkanal vom Fluss Dnipro zur Schwarzmeerhalbinsel geschlossen hat. Obwohl es heute eine ganze Palette von industriell nutzbaren Entsalzungstechnologien gibt, hat Russland in den vergangenen sechs Jahren nur wenig getan, um das steigende Wasserproblem auf der Halbinsel anzugehen. Es gibt bislang keine größeren Projekte zur Umwandlung von Salzwasser aus dem Schwarzen Meer, obwohl sich Wasserversorgungs- und Bodenprobleme mit jedem Jahr verschärfen.

Die Pandemie, russische Wirtschaft und Schwarzmeerhalbinsel

Die sich derzeit entwickelnde tiefe Krise in Russlands Wirtschaft als Folge der gleichzeitigen Auswirkungen der CoVid-Epidemie, sinkender Energiepreise, industrieller Strukturdefekte und anhaltender westlicher Sanktionen wird weitreichende soziale, innenpolitische und schließlich auch außenpolitische Auswirkungen haben. Zwar wird die Krim, solange Putin an der Macht bleibt, unter der Kontrolle Moskaus bleiben. Eine nüchterne Abwägung der künftigen fiskalischen Mittel des russischen Staates, des anhaltenden Subventionsbedarfs einer international isolierten Krim, der verbleibenden infrastrukturellen Herausforderungen für die Halbinsel und des Mangels tiefer historischer Bindung der Russen an die Krim lässt jedoch wenig Gutes für die Fortsetzung des Moskauer Expansionsabenteuers erwarten.

Viele selbsternannte „Realisten“ in Ost und West tun eine Abkehr Russlands von seiner illegalen Gebietserweiterung und Rückkehr der Halbinsel unter ukrainische Kontrolle als bloßes Wunschdenken ab. Eine realistische Einschätzung der wahrscheinlichen künftigen Entwicklungen innerhalb der Russischen Föderation und anhaltenden Infrastrukturprobleme der Krim sagt jedoch bereits heute voraus, dass die einst populäre Eroberung der Schwarzmeerperle durch den Kreml nur ein vorübergehendes Phänomen ist. Europäische Diplomaten und Politiker sollten sich schon heute auf eine weitere große Veränderung der Geopolitik Osteuropas einstellen – sobald Putin die politische Bühne verlassen hat.



Der Text erschien erstmals auf der Website des Nachrichtenmagazins „Focus“, am 23. Juni 2020: Subventionsbedarf und Tourismusprobleme. Warum Putins Krim-Eroberung nur vorübergehender Natur ist.

 

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