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Doppelte Wendezeit. Die Scharnierjahre 1989-1992

20.05.2020
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Prof. Dr. Kristina Spohr

KSZE Gipfel1990 Der KSZE Gipfel von Paris, November 1990, Foto: OSCE (Lizenz: CC BY-ND 4.0)


1 Einleitung1

Das Ende des Kalten Krieges liegt nunmehr 30 Jahre zurück. Es war ein weitgehend friedlicher Prozess, bei dem aus internationalen Abkommen, die in einem beispiellosen Geist der Zusammenarbeit ausgehandelt wurden, eine neue internationale Ordnung hervorging, die bis heute Bestand hat, auch wenn eine Erosion zu beobachten ist. Dieser Prozess wurde von Staatslenkern gemanagt, die die Vergangenheit kannten, aber keine Blaupausen oder Pläne für eine Zukunft, insbesondere für eine neue Ordnung, in ihren Schreibtischschubladen hatten. Sie mussten alle improvisieren, standen vor schwierigen gestalterischen Aufgaben und unter großem unter Zeitdruck. Aber sie waren sich der Verantwortung voll bewusst, richtungsweisende Entscheidungen treffen zu müssen.

Nichts hatte die führenden Politiker auf einen so schnellen und allumfassenden Wandel vorbereitet. Sie hatten jahrzehntelang Kriegsspiele wie WINTEX 89 veranstaltet, ohne je ein Szenario für einen friedlichen Ausgang des Kalten Krieges zu entwickeln. Schlimmstenfalls existierte eine fiktive Militärstrategie zum Überleben der atomaren Apokalypse, und bestenfalls verfügte man über diplomatische Strategien, um die komplizierte Koexistenz der beiden antagonistischen Blöcke zu managen. Auf das Ende des Kalten Krieges in den Jahren 1989-1991 hätten sie kaum schlechter vorbereitet sein können. Tatsächlich endete der Kalte Krieg schnell und unerwartet, vor allem nicht mit dem nuklearen „Big Bang”, den die beiden bewaffneten Lager in Ost und West, der Warschauer Pakt und die NATO, 40 Jahre lang mit viel Zeit, Geld und Scharfsinn geübt hatten.2

Damals bestand große Unsicherheit, ja sogar Angst, vor der Auflösung der bipolaren Stabilität, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Welt nach dem Kalten Krieg. Im Jahr 1989 schien alles im Fluss zu sein. Die revolutionären Veränderungen in Mittel- und Osteuropa kamen aus der Gesellschaft, zugleich versuchten die kommunistischen Machteliten Reformen durchzuführen. Die marxistisch-leninistische Ideologie des Sowjetkommunismus, einst der ideelle Rahmen des Sowjetblocks, hatte jedoch komplett an Glaubwürdigkeit und Einfluss verloren, sodass sich der Wille nach einem grundlegenden Wandel sehr schnell Bahn brach. Die liberale kapitalistische Demokratie wies für die überwiegende Zahl der Menschen den Weg in die Zukunft: Während der „Osten“ große Anstrengungen unternahm, durch eine Transformation nach westeuropäischem Muster „aufzuholen“, orientierte sich die Welt an, so hatte man den Eindruck, zunehmend an den Werten des Westens, insbesondere der USA. So wies der US-Politologe Francis Fukuyama in einem im Sommer 1989 veröffentlichten einflussreichen und vieldiskutierten Essay darauf hin, dass nicht nur „der Westen“ als Wertesystem und politische Ordnung gesiegt habe, sondern dass auch ein „Ende der Geschichte“ (im Sinne des Endes von Kriegen und strategischen Konkurrenzen) zu einer realen Möglichkeit geworden sei.3

Bei all der Euphorie über den friedlichen und demokratischen Verlauf der Ereignisse in Europa darf nicht vergessen werden, dass der chinesische Ausgang aus dem Kalten Krieg ein anderer war. In Peking wurde bewusst Gewalt eingesetzt, als am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Studentenproteste blutig niedergeschlagen wurden und danach das Kriegsrecht verhängt wurde.4 Chinas schrittweiser Eintritt in die kapitalistische Weltwirtschaft wurde durch Dengs unbedingte Entschlossenheit begleitet, die Herrschaft der Kommunistischen Partei zu erhalten. Mit diesem Balanceakt bahnte sich Peking seinen eigenen Weg in die Zukunft.5

In dieser Perspektive erscheinen die stürmischen Zeiten zwischen 1989 und 1992 als „Scharnierjahre”, in denen eine internationale Ordnung entstand, die dual geprägt war: zum einen die Welt, die durch die Dynamik des Mauerfalls gestaltet wurde („post Wall“), zum anderen die Welt, die ihren Ursprung mit dem Massaker auf dem Tiananmen Platz nahm („post Square“).6 Die eine bedeutete die Ausbreitung der liberalen und multilateralen westlichen internationalen Ordnung auf den Osten Europas und mehr und mehr Teile der übrigen Welt, die andere bedeutete die Beibehaltung der kommunistischen Herrschaft (und damit einer traditionellen Werten und Einstellungen verhafteten Ideologie) in dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, welches sich in den Folgejahren anschickte, wirtschaftlich zu den Industrieländern aufzuschließen und über die folgenden drei Jahrzehnte zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt zu werden, ohne dass es westliche Ordnungsvorstellungen übernahm. Diese Dualität tritt heute mit dem Aufstieg Chinas immer deutlicher zutage, sodass wir auch gegenwärtig wieder in einer Wendezeit sind. Paradoxerweise wäre der Aufstieg Chinas nicht möglich gewesen ohne die erfolgreiche Ausbreitung der westlichen internationalen Ordnung (zumindest was die damit verbundene Liberalisierung des Handels und des internationalen Finanzwesens betraf, aber auch die internationale Systemstabilität, die die amerikanische Dominanz garantiert hat).

Wie kam es dazu, dass der Kalte Krieg so plötzlich vorbei war und die bipolare Struktur der internationalen Beziehungen so rasch weggefegt wurde? Was ermöglichte den friedlichen Wandel in Europa und was geschah in Asien? Warum gab es damals einen so großen Zukunftsoptimismus hinsichtlich einer neuen internationalen Ordnung? Wie wurde diese geschaffen? Welche Rolle spielten dabei die zuvor existierenden Ordnungsstrukturen, sowohl die innerwestlichen (NATO, EG, OECD) als auch diejenigen, die sich zwischen Ost und West erhalten oder herausgebildet hatten (Vereinte Nationen, KSZE, Rüstungskontrolle). Und was waren die Schwächen und Konstruktionsfehler der neuen internationalen Ordnung? Welche Probleme bestanden seither und bedrängen uns noch heute?

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1 Dieser Aufsatz basiert auf dem neuen Buch der Autorin, das für weitere Details konsultiert werde sollte: Spohr 2019b (bzw. 2019a).
2 Spohr 2019b, 12.
3 Bagger 2019; Fukuyama 1989 und 1992.
4 Für freigegebene chinesische Dokumente über die Entscheidungsprozesse in Peking im Zusammenhang mit den Demonstrationen und ihrer Niederschlagung, die freilich große Kontroversen auslösten, was ihre „Verifizierbarkeit“ betrifft, siehe Zhang Liang et al. 2001 und Nathan 2001. Kommentare zu diesen Quellen siehe Dittmer 2001; Chan 2004; Nathan 2004; Baum 2001. Siehe auch Nathan 2019; Bao 2019.
5 Siehe zum Beispiel Suettinger 2003; Lampton 2002; Vogel 2013; Radchenko 2014. Für einen Vergleich der sowjetischen und der chinesischen Wirtschaftsreformen siehe Miller 2016. Siehe auch Kotkin 2009a; Gewirtz 2017.
6 Spohr 2019b, 20, 15. Vgl. mit dem engl. Original-Buchtitel: Spohr 2019a.
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Der vollständige Beitrag ist erschienen in SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 4, Heft 1, Seiten 51-72, eISSN 2510-2648, ISSN 2510-263X. Online erschienen am 31.03.2020: https://www.degruyter.com/view/journals/sirius/4/1/article-p51.xml

 

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Rezension

Kristina Spohr

Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989

München, DVA 2019

Kristina Spohrs „Wendezeit“ steche laut Rezensent Michael Kolkmann aus der Fülle der Literatur zu den Ereignissen der Jahre 1989 insofern hervor als es eines der umfangreichsten Bücher zum Thema sei und auf einer einzigartigen Quellengrundlage basiere. Die Autorin benennt die politischen Akteure, die dafür gesorgt haben, dass der Transformationsprozess friedlich blieb und eine neue politische Ordnung errichtet werden konnte. Dabei bezieht sie auch die Grundlegung einer neuen internationalen politischen Ordnung zu Beginn der 1990er-Jahre mit ein.
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