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Maximilian Fuhrmann: Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland

27.01.2020
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Baden-Baden, Nomos 2019

In Einführungsveranstaltungen zum wissenschaftlichen Arbeiten wird Studierenden oft empfohlen, sich einem neuen Buch zunächst durch schnelles und gezieltes Durchblättern (Einleitung, Fazit, Kapiteleinleitungen etc.) zu nähern und so einen ersten Eindruck zu erhalten. Folgt der Leser/die Leserin diesem Muster, ahnt er/sie schnell, welche Absicht Maximilian Fuhrmann mit seiner Dissertation verfolgt: Ein prägendes Element des Grundgesetzes – die sogenannte „wehrhafte Demokratie“ – wird nicht länger als Errungenschaft und zivilisatorischer Fortschritt gesehen, sondern steht ab sofort unter dem Generalverdacht, ein konservativ-hegemoniales Projekt zu sein.

Dieser erste Eindruck täuscht auch bei der systematischen Lektüre nicht. Er soll auch gar nicht getäuscht werden, denn die Publikation ist ganz klar dem Spektrum des linken politischen Randes zuzuordnen. Sie versteckt das auch an keiner Stelle. Die Auswahl der die Methodik leitenden theoretischen Linse verortet das Werk in das linke politische Spektrum: Anschließend an die beiden selbsterklärten Postkommunisten Chantal Mouffe und Ernesto Laclau wird eine Dekonstruktion wehrhafter Demokratie mittels Diskursanalyse angestrebt.

Die Kernaussage des etwa 300 Seiten umfassenden Buches lässt sich auf eine sehr prägnante Formel zusammenschnurren: Der Autor vertritt die Meinung, die deutsche Demokratie bedarf einer noch weiteren Demokratisierung. Die prägenden Elemente der sogenannten wehrhaften Demokratie wären hierbei jedoch ein Hindernis und müssten daher mindestens verändert, besser ganz abgeschafft werden. Am Ende hätte die wehrhafte Demokratie außer einer Diskreditierung linker Politikalternativen sowieso keine Auswirkungen, mindestens nicht gegenüber dem rechten Spektrum. Ein Erstarken der rechtspopulistischen Partei AfD hätte diese nicht verhindert, ebenso wenig die Entwicklung der tendenziell xenophoben Pegida-Bewegung.

Für den historisch denkenden Leser ist die Einschätzung, die wehrhafte Demokratie hätte nichts gebracht, eine merkwürdige Sichtweise. Denn wir kennen die Alternative nicht. Wir wissen nicht, wie unsere Lebenswelt heute aussähe, hätte es sie nicht gegeben. (Hierzu noch eine Randbemerkung: Diejenigen, die sich intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Ende der Weimarer Republik befasst haben, dürften über die Aussage irritiert sein, man habe die falschen Schlüsse aus dem Ende von Weimar gezogen. Primär seien rechte Antidemokraten in Justiz und Verwaltung für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie verantwortlich [301]. Diese Aussage ist deutlich zu unterkomplex.)

Ergänzend muss zum Verständnis des Buches noch der Gedanke des Autors erwähnt werden, dass sich der Fokus der wehrhaften Demokratie aus dem Bereich der Justiz (Parteienverbot) in den Bereich der Exekutive verschoben habe. Durch „präventive Maßnahmen“ (politische Bildung etc.) habe die wehrhafte Demokratie problematische Züge angenommen, denn es sei nun die an stabilen politischen Verhältnissen interessierte Elite der Exekutive, die wesentlich über die Definitionshoheit undemokratischer Politikinhalte verfüge.

Wie gelangt Maximilian Fuhrmann zu seinen Ergebnissen? Zunächst einmal wird der Kern wehrhafter Demokratie auf Seite 60 definiert: Adenauererlass, Wiedereinführung des politischen Strafrechts, die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zu den ersten Parteienverboten (KPD, SRP) und daraus abgeleitet die Definition der fdGO (freiheitlich-demokratische Grundordnung) werden als das Rezept wehrhafter Demokratie angesehen. Zudem wird auch die akademische Extremismusforschung (gemeint sind wohl etwa Eckhard Jesse oder Armin Pfahl-Traughber) als stützendes Elements dieses Systems verstanden.

Untersucht werden die Eingangsthesen anhand von empirischem Material, das akribisch durchforstet wird. Durch verschiedene Zeitphasen hindurch werden vor allem Reden, Plenarprotokolle, Erlasse, Gesetzestexte und -beratungen, Berichte und Artikel umfangreich diskursanalytisch untersucht (vgl. 80 ff.). Auf die Darstellung der im Detail besprochenen „Äquivalenzketten A und M“ oder die „leeren Signifikanten“ soll an dieser Stelle verzichtet werden. Letztlich endet diese Methodologie in etwas verwirrend wirkenden Grafiken (vgl. etwa 279), die kaum selbsterklärend sind, wie es gute Abbildungen sein sollten, sondern die sich nur durch gründliches Studium des begleitenden Textes erschließen.

Die Untersuchung ist in verschiedene Phasen gestaffelt, da der Autor die These vertritt, die wehrhafte Demokratie habe sich zunächst zu einem Antitotalitarismus verfestigt und später zu einem generellen Antiextremismus „weiterentwickelt“. Die Ergebnisse der Untersuchung verwundern in Summe nicht, denn sie entsprechen im Wesentlichen den im Vorfeld gesetzten Untersuchungsschemata. Überspitzt: Ein hegemonialer Diskurs wurde „entlarvt“ mithilfe einer hegemonialen Diskursanalyse nach Mouffe/Laclau beziehungsweise der hierauf fußenden Heuristik von Doktorvater Martin Nonhoff (Universität Bremen). Anhänger*innen eines etwa durch den kritischen Rationalismus geprägten Wissenschaftsverständnisses werden immer auf das Problem der freiwilligen Aufgabe von Neutralität und Objektivität bei Konstruktivisten verweisen. Wer sich von der Grundmethodologie Karl Poppers leiten lässt, für den steht fest: Wenn ich mir vor meiner Betrachtung eine Brille mit roten Gläsern aufsetze, dann darf ich mich nicht wundern, dass hinterher die ganze Welt rötlich für mich aussieht.

Hinter dieser Publikation steht auch ein Staatsverständnis, das Sympathie für anarchistische Vorstellungen und einen undogmatischen Kommunismus (306) durchscheinen lässt. Mehrfach wird darauf verwiesen, die wehrhafte Demokratie sei vor allem eine „Wehrhaftigkeit nach unten“ und privilegiere „den Schutz des Staates“ (294), womit wohl angedeutet werden soll, dass eine Sichtweise auf den Staat als etwas über den einzelnen Bürger*innen stehendes völlig veraltet sei. Eigentliches Ziel der Publikation ist damit der alte Kampf gegen herrschende Strukturen: „Die Ergebnisse dieser Kämpfe haben sich in den gesellschaftlichen Strukturen verfestigt, können aber vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftspolitischer Realitäten wieder zur Disposition gestellt werden. Eine solche Debatte anzuregen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit.“ (298) Dabei beinhaltet Staatlichkeit per se eine hierarchische Komponente. Alles andere macht auch wenig Sinn, denn ohne die Möglichkeit, Regeln verbindlich zu setzen und deren Befolgung notfalls zu erzwingen, kann der Staat auch die im linken Spektrum gewünschten Maßnahmen, wie etwa Sozialtransfers oder die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten, schlechterdings umsetzen. Nur handfeste Kommunisten auf der einen Seite oder die auf der anderen Seite des politischen Spektrums stehenden Radikallibertären à la Ayn Rand dürften sich ein Absterben des Staates herbeisehnen.

Kaum erwähnt wird in Fuhrmanns Publikation, dass die Bundesrepublik des Jahres 2019 – bei all ihren Unzulänglichkeiten – der sozialste, freieste und auch demokratischste Staat ist, der jemals auf deutschem Boden existiert hat. Vergliche man dieses Land in Zeitreihen entlang verschiedener Indikatoren zu individueller Freiheit und dem Demokratiegehalt, dann dürfte von der These einer Verhinderung zunehmender Demokratisierung durch die Elemente der wehrhaften Demokratie zumindest aus historischer Sicht eher wenig übrig bleiben. Vielleicht wurden im Zuge der Analyse mehr belastende Fakten gesucht und entlastende ignoriert?

Mit einem hat der Autor aber recht. Derzeit wird der Demokratiebegriff in den meisten westlichen Demokratien zu verengt gefasst und über eine Weiterentwicklung wird wenig diskutiert. Doch anstelle eines weiteren dekonstruktivistischen Buches wäre dafür mal ein konstruktives eine sinnvolle Ergänzung. Zum Beispiel hat Pierre Rosanvallon mit „Gegen-Demokratie“ kürzlich eine kritisch-analytische und zugleich konstruktive Publikation vorgelegt.

Am Ende ist das mit viel Mühe und Akribie und als Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Demokratie verfasste Buch vermutlich mehr für Liebhaber solch konstruktivistisch sozialwissenschaftlicher Sichtweisen von Interesse. Man kann es aus Sicht des Rezensenten folgendermaßen zusammenfassen: Es ist gut, diese Gedanken und Anschauungen zu kennen; noch besser, dass sich diese Splittermeinungen bislang nicht durchsetzen konnten.

 

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Martin Nonhoff (Hrsg.)

Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

Bielefeld: transcript Verlag 2007 (Edition Moderne Postmoderne); 247 S.; kart., 25,80 €; ISBN 978-3-89942-494-2
Die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 1985 publizierte Studie „Hegemony and Socialist Strategy“ (dt. 1991) ist ein viel beachtetes Werk der neueren hegemonietheoretischen Debatte, die Ansätze von Saussure und Gramsci, Freud, Lacan und Derrida aufgreift und die diskursive Verfasstheit des Sozialen unterstreicht. Mit der These, soziale Realität sei stets durch Machthandeln konstituiert, ohne dass es je zur dauerhaften Hegemonie eines politischen Lagers käme, grenzen sich Laclau/Mou...weiterlesen


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