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Rainer Eisfeld: Empowering Citizens, Engaging the Public. Political Science for the 21st Century

30.11.2021
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Basingstoke, Palgrave Macmillan 2019

Mit seinem Buch „Empowering the Citizens“ hat Rainer Eisfeld ein Plädoyer für die Erneuerung der Politikwissenschaft vorgelegt, dessen grundsätzliches Anliegen in die richtige Richtung geht, findet unser Rezensent Rainer Lisowski: Die Politikwissenschaft müsse aufhören, sich in Statistikfestspielen zu verrennen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft zurückerlangen. Allerdings schreibe Eisfeld aus einer linksliberalen Position, die seine Forderungen an das Fach stark einfärbe und übersehe zudem die Gefahren, die einseitig normative Positionen in der Wissenschaft mit sich brächten. (lz)

Eine Rezension von Rainer Lisowski

Es ist eine wichtige Frage, die der Autor hier aufwirft. Wie sollte die Politikwissenschaft im 21. Jahrhundert aussehen? Rainer Eisfelds Publikation befasst sich nicht mit dem Gegenstand unserer Disziplin, der Politik, sondern mit ihr selbst. Auf knapp 200 Seiten legt der emeritierte Osnabrücker Kollege ein Plädoyer für eine radikal andere Politikwissenschaft vor. Denn aus seiner Sicht ist manches schiefgegangen.

Blicken wir zunächst auf seine Diagnose. Was läuft in der Politikwissenschaft falsch? Aus Sicht von Eisfeld und der zahlreichen „Granden“ unseres Faches, die durch Eisfeld auch immer wieder zitiert werden (wie Giovanni Sartori, Elinor Ostrom oder Joseph Nye [5]), handelt es sich um ein Bündel von Problemen:

  • Die Politikwissenschaft sei im gesellschaftlichen Diskurs weitgehend bedeutungslos geworden. Es fehlten die „öffentlichen Intellektuellen“, die sich zu Wort meldeten, deren Stimme Gewicht habe und die die öffentliche Meinung beeinflussten. 
  • Die Politikwissenschaft sei weitgehend bedeutungslos, weil sie zu kleinteilig ausgerichtet sei und methodisch zu einseitig forsche. Mehrfach kritisiert Eisfeld die immer feingliedrigere Spezialisierung, gerade der deutschen Politikwissenschaft. Für jedes Nischenthema gebe es Expertentum, aber der Blick auf das große Ganze, auf die Demokratie und die Frage, wie wir leben wollen, gerate aus dem Gesichtsfeld. Passend dazu gebe es eine überstarke Betonung quantitativer Methoden (und einen Verlust historischen Wissens). Die immer raffinierteren statistischen Modelle interessierten außerhalb der eigenen Zirkel indes niemanden, da größtenteils an den wirklichen Problemen vorbei geforscht werde. 
  • Ahistorisch in ihrer Perspektive und beschäftigt mit höherer Mathematik sowie Statistik, vertue die Politikwissenschaft die Chance, Menschen dabei zur Seite zu stehen, ihre eigenen demokratischen und gestalterischen Fähigkeiten und Kompetenzen auszubauen.

Kurzum: Politikwissenschaft engagiert sich aus Eisfelds Sicht zu wenig. Daher fordert er zuallererst mehr Engagement vom Fach und Anreizstrukturen (9), die dieses befördern, gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Hiervon handeln die ersten sechs Kapitel, die den ersten Teil des Buches bilden. Im Mittelpunkt steht dabei das Sinnieren über die conditio humana. Als wesentlich für das menschliche Sein beschreibt Eisfeld die generelle Unsicherheit der Zukunft in einer sich immerfort wandelnden Welt und fordert die Politikwissenschaft auf, den Menschen bei diesem Wandel zur Seite zu stehen (20). 

„Eine andere Welt ist machbar, Herr Nachbar“ – so lautete ein bekannter Spruch aus der den Grünen nahestehenden Sponti-Szene. So in etwa ließe sich auch der zentrale Gedanke in Eisfelds Buch kurz zusammenfassen. Zu sehr habe sich im Fach wie auch überhaupt regierungsfreundliches, da äußerst bequemes „TINA-Denken“ (There is no alternative) durchgesetzt (30). Eisfeld kommt zunächst auf Wandel per se zu sprechen. Zuvörderst sei es eine Aufgabe des Faches, den Menschen klarzumachen, dass es einen positiven gesellschaftlichen Wandel geben könne und dass Verhältnisse nicht gottgegeben seien, sondern sich verändern ließen; kurz: dass es Alternativen zum Bestehenden gebe. Die dazu notwendige Überzeugungsarbeit solle aber „soft“ geschehen, er spricht von „freundlicher Überzeugung“ (so die Überschrift von Kapitel 5). Liest man zwischen den Zeilen, könnte man Politikwissenschaft bei ihm als „partizipativ mitgestaltende Transformationswissenschaft“ verstehen, als die Kunst, gesellschaftlichen Wandel wissenschaftlich fundiert zu begleiten und Menschen mit Kompetenzen auszustatten, um diesen Wandel eigenständig zu bewältigen.

Doch Wandel an welcher Stelle? Das zu fragmentierte Fach sollte sich nach Eisfelds Einschätzung konzentrieren und sich entlang von fünf zentralen Politikfeldern organisieren, die er im zweiten Teil des Buches durchdekliniert. Vorrangig sind es aus seiner Sicht: die Stärkung gesellschaftlicher Diversität (Kapitel 7), die Behebung von Einkommensungleichheiten, vor allem durch Bildung (Kapitel 8), die Regulierung des Kapitalismus (Kapitel 9), das Engagement gegen den Klimawandel (Kapitel 10) und der Schutz der gesellschaftlichen Freiheiten gegen Radikalisierung (Kapitel 11). Dabei ist die von Eisfeld erhoffte Aktivität stets emanzipatorisch: Die Angst vor Diversität müsse den Menschen genommen werden, Einkommensungleichheiten (vor allen in den USA und dem UK) müssten beseitigt werden – auch und vor allem durch eine stärkere Regulierung des (Finanz-)Kapitals – und den Leugnern des Klimawandels müsste argumentativ entgegengetreten werden. Ebenso gelte es, sich der Radikalisierung entgegenzustellen.

Keine Frage: Rainer Eisfeld hat Gutes im Sinn. Er möchte Menschen im demokratischen Sinne bestärken, ihr eigenes Schicksal in die Hände zu nehmen und ihre Lebensumstände selbst zu gestalten. Und er skizziert eine egalitärere, eine gerechtere und eine nachhaltigere Welt. Das sind ehrenwerte Ziele und ja – sie stehen einer Politikwissenschaft, die sich zuallererst als Demokratiewissenschaft versteht, gut. Wenn da nur nicht die „Nebenwirkungen“ und das „Kleingedruckte“ wären. 

Beginnen wir mit dem „Wandel“. Unausgesprochen ist Wandel für Eisfeld etwas Positives oder zumindest etwas, wovor man keine Angst zu haben braucht und das man gestalten sollte und auch gut gestalten kann. Hier wäre der Platz für ein erstes „Einspruch, Euer Ehren!“ 

Andauernde gesellschaftliche Transformation zu verneinen wäre Unfug. Aber etwas anderes ist die Frage, wie man der Gestaltung dieses Wandels gegenübersteht. Politisch Progressive denken anders über Veränderungen nach als politisch Konservative. Auch wenn die Progressiven in der Politikwissenschaft sicher eine Mehrheit darstellen, sollte bei einem Aufruf an das ganze Fach die andere Seite nicht vergessen werden. Und diese andere Seite ist aus mannigfaltigen historischen Erfahrungen heraus, und weil sie normativ von einem anderen menschlichen Wesen ausgeht als die Progressiven, aus guten Gründen grundsätzlich skeptisch, wenn social engineering zu enthusiastisch betrieben werden soll. Michael Oakeshott oder Jonathan Haidt haben das sehr gut beschrieben, der eine theoretisch, der andere empirisch fundiert. 

Inhaltlich vertritt der Autor in den von ihm benannten Politikfeldern klar linke beziehungsweise linksliberale Positionen, die besonders in den Kapiteln zur Einhegung des Kapitalismus deutlich werden. Unmissverständlich wird gefordert, dass die Politikwissenschaft Ökonomen wie etwa Thomas Piketty folgen und auf wirtschaftspolitische Veränderungen drängen solle (101). Eine von Eisfeld identifizierte „pro-Markt“-Politik müsse revidiert werden (119). Was er nicht schreibt: Bei allen Exzessen des „globalen (Finanz-) Kapitalismus“ hat dieser in nicht unerheblichem Maße zu den gewaltigen Sprüngen im Lebensstandard der meisten Menschen der vergangenen dreißig Jahre beigetragen – und zwar weltweit: Bei all ihren Problemen und bei all ihrer himmelschreienden Ungerechtigkeit ist die Welt im Jahr 2021 für die allermeisten Menschen eine bessere als die des Jahres 1975, von dem viele Altlinke scheinbar immer noch träumen. Die Menschen leben im Durchschnitt länger und sie können sich besser versorgen (zugegeben: derzeit auf Kosten künftiger Generationen). Zudem hat es einen atmenberaubenden gesundheitlichen Fortschritt gegeben, während gleichzeitig weniger Kriege herrschen. Ohne den vielgescholtenen Kapitalismus wäre all das schwer vorstellbar.

Im Kapitel über die soziale Ungleichheit muss sich Eisfeld sogar eines kleinen Tricks bedienen: Während vorher eher die Perspektive „des Westens“ oder gar der ganzen Welt analysiert wird, schreibt der Autor im Kapitel 8 plötzlich fast ausschließlich über die USA (und ein wenig über das Vereinigte Königreich). Der Leser beziehungsweise die Leserin aus Deutschland soll wohl unausgesprochen das eigene Land mitdenken. Dass Eisfeld indessen nicht über die soziale Lage in Deutschland schreibt, hat einen guten Grund: „Deutschland ist gerechter, als wir meinen“, benannte Caritas-Generalsekretär Georg Cremer sein neues Buch. In einem Land, in dem der Sozialstaat den Löwenanteil des jährlichen Bundeshaushalts verbucht und in der die Verteilung der Einkommen ausgeglichener ist als in den meisten anderen Ländern (und zwar eben nach Steuern und Sozialabgaben, nicht vorher) verfangen sich die von Eisfeld vorgetragenen Argumente nämlich nur schwer. Wirtschaftspolitisch konservative Kolleginnen und Kollegen dürften spätestens an dieser Stelle Eisfeld nur mehr schwerlich folgen wollen. Zurecht! „Normatively driven, empirically grounded“ (96) – so wünscht sich Eisfeld die politikwissenschaftliche Zunft. Fein – nur genau hier wird die Crux deutlich: Wessen Normen denn bitte sehr?

Ein wenig verkürzt ist auch Eisfelds Argumentation in Bezug auf Phänomene wie den Brexit, die Präsidentschaft Donald Trumps oder die globalen Migrationsströme. Hier gibt es gute Gründe, die Motivlage komplexer zu sehen als seine Generalthese der mangelnden Aufklärung, der (konservativen) Verblendung und der zu großen Angst vor dem Fremden (185) es tut. Allein in Bezug auf das komplexe Thema Migration hat Paul Collier (Oxford) in seinem Buch Exodus minutiös auch all die Gründe aufgeführt, die aus einer normativen Perspektive für eine klare Regulierung und Begrenzung von Migrationsströmen sprechen. Angst ist dabei keine der von ihm betrachteten Dimensionen.

Das Bild einer klar links positionierten Politikvorstellung findet sich auch in den weiteren Kapiteln von Eisfelds Werk und legt so das eigentliche Problem frei: Diese neue Politikwissenschaft sollte die Menschen ermächtigen, ihr Schicksal stärker selbst zu bestimmen (so weit, so gut) – dies aber bitte innerhalb der linken und linksliberalen Politikvorstellungen des Mainstreams des Faches. Einerseits an die ganze Zunft zu appellieren, andererseits aber die eigenen politischen Standpunkte zur Quasi-Bedingung zu machen, das passt nicht gut zusammen.       

So richtig Eisfeld mit seiner Eingangsannahme liegt, die Politikwissenschaft verliere ihre gesellschaftliche Relevanz und verrenne sich in Statistikfestspielen, so problematisch ist sein Plädoyer für ein aktiveres Einmischen. Die Gefahr, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so in einseitige „science activists“ verwandeln, ist zu groß. Wissenschaft hat deshalb eine hohe Akzeptanz und Glaubwürdigkeit (wie das Meinungsforschungsinstitut Allensbach immer wieder herausfindet), weil sie nicht zu offensiv Partei bezieht. So sollte es besser auch bleiben, für alles andere gibt es politischen Aktivismus. Und der kann sich ja – kommt er von links – seine Inspiration bei Eisfeld holen; womit die Arbeitsteilung stimmen würde.  

 

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Die zweite Auflage dieses für das Verständnis der politischen Vorgeschichte der Politikwissenschaft unerlässlichen Werkes enthält neben einem neuen (ausführlicheren) Vorwort, Aktualisierungen des Endnotenapparates sowie einem kurzen Nachwort von Hubertus Buchstein drei neue Kapitel zu den in letzter Zeit intensiv diskutierten Gründungsvätern unserer Disziplin: Theodor Eschenburg und Michael Freund.

 

Externe Veröffentlichungen 

Ferdinand Müller-Rommel / 2017

Politikwissenschaft: „Ein Fach mit Ausstrahlung“. 

in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 27. Jg., S. 75-77.

 

Manuel Fröhlich, Karl-Rudolf Korte, Stefan A. Schirm, Hans Vorländer / 2017 

Unser Fach Politikwissenschaft

in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 27. Jg., S. 49–51.

 

Robin Markwica / 2020

Wie relevant ist die Politikwissenschaft? Wissenstransfer und gesellschaftliche Wirkung von Forschung und Lehre. Bericht über eine Thementagung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW), 12.–14. Dezember 2019, Goethe-Universität Frankfurt am Main

in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 13. Jg., S. 287–307.

 

 

Mehr zum Themenfeld Partizipation diesseits und jenseits von Wahlen

 

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