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Dirk Jörke: Die Größe der Demokratie – Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation

31.07.2019
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
Berlin, Suhrkamp Verlag 2019

Der an der TU Darmstadt lehrende Politikwissenschaftler Dirk Jörke untersucht den Zusammenhang zwischen der Größe eines Staates und seiner Demokratieaffinität. Er geht davon aus, dass demokratische Verhältnisse von einer überschaubaren Größe eines Gemeinwesens abhängig sind.

Die Ausweitung politisch-ökonomischer Räume würden eine demokratische Herrschaftsausübung auf nationalstaatlicher Ebene einschränken und zudem eine sozialstaatliche Demokratie schwächen. Supranationale Gebilde wie die Europäische Union ließen sich nicht demokratisieren, die Kluft zwischen den politischen Eliten und der Bürgerschaft würde in größeren Räumen immer tiefer und große kulturell geprägte Interessengegensätze würden in vielen Bereichen die Formulierung von gemeinsamen Zielen erschweren. Insgesamt würden sich die demokratische Qualität, die politische Partizipation und die sozialen Lebensverhältnisse in größeren Staatsgebieten verschlechtern.

Hinzu komme der Gegensatz zwischen Republikanismus und Liberalismus: Die zentrale These des Buches ist, dass „ein Zusammenhang zwischen der Größe eines Herrschaftsverbandes und seiner Kompatibilität mit einer stärker republikanischen oder einer stärker liberalen Form besteht.“ (29) Dabei würden große Herrschaftsverbände zu einer liberalen und kleine Herrschaftsverbände zu einer republikanischen Spielart tendieren. Der Liberalismus berge die Gefahr in sich, einer Tyrannei der Minderheit, der Republikanismus hingegen einer Tyrannei der Mehrheit den Vorrang zu geben, schreibt der Autor. In seinem Rückblick auf den Ursprung der Demokratie vergleicht der Autor Athen mit Rom und erörtert, dass zwei verschiedene Modelle die europäische Geschichte geprägt haben. Während Athen eher als kollektivistisch betrachtet werden könne und demokratisch-republikanische Züge hatte, war das römische Bürgerrecht stärker individuell und liberal ausgerichtet. In seiner weiteren ideengeschichtlichen Darstellung geht Jörke auf die Positionen und Debatten zum Verhältnis von Demokratie und Größe ein. Schon Jean-Jaques Rousseau habe sich mit dieser Frage auseinandergesetzt und sei davon ausgegangen, dass eine freiheitliche Regierung „Kleinräumigkeit“ (41) voraussetze, ganz gleich ob diese demokratisch, aristokratisch oder monarchisch sei. Montesquieus Ideal sei ebenfalls eine „gemäßigte Monarchie, die eine mittlere Größe voraussetzt.“ (52) Dieser sei davon ausgegangen, dass große Republiken in „Militärdiktaturen“ (54) umschlagen würden, weil diese ihre Größe verteidigen müssten. Rousseau und Montesquieu seien sich darin einig gewesen, dass große Staaten Freiheiten einschränken würden, weil sie despotisch regiert werden müssen. Ferner käme es zu einer „dreifachen Entfremdung zwischen den Regierenden und Regierten, zwischen den Bürgern und ihrem Vaterland und schließlich innerhalb der Bürgerschaft“ (60). Jörke zufolge sei für beide politische Denker die Kleinräumigkeit eine essenzielle Voraussetzung für das demokratische Gemeinwesen gewesen. Der Autor zieht zudem eine Parallele zu den Forderungen der Anti-Federalists, die 1787/88 die neue amerikanische Unionsverfassung ablehnten, weil diese zu einer neuen aristokratischen Herrschaft führen würde. Die Federalists hätten dagegen eine auf individuellen Rechten basierende „liberale Theorie“ vertreten (79).

Heutzutage könne man jedoch keineswegs davon ausgehen, dass große Territorien notwendigerweise zu einer Despotie führen. Diese Einschätzung sei seit der Errichtung der repräsentativen Demokratie in Flächenstaaten wie Frankreich, Italien und Deutschland „überholt.“ (81) Die alten Auffassungen über kleine und große Demokratien seien aus heutiger Sicht nicht überzeugend.„Moderne Gesellschaften besitzen infolge von Einwanderungsprozessen und ökonomischen Dynamiken nicht mehr jenen Grad an Homogenität, die ein republikanisches Modell im strikten Sinne voraussetzt.“ (89) Ohne einen gewissen Grad an Solidarität können auch moderne Demokratien nicht existieren.

Während das Freedom House zu dem Ergebnis kommt, dass je kleiner ein Staat sei, umso größer die Tendenz zur liberalen Demokratie sei, hätten qualitative Untersuchungen der politischen Kultur von Mikrostaaten wie San Marino Patronagestrukturen aufgezeigt. Dort herrschten „Elitekartelle, teilweise bestehend aus wenigen Familien.“ (95) Dem Autor erscheint es daher „plausibel“ (107), dass mittelgroße Staaten eine höhere demokratische Qualität aufweisen.

Bezogen auf die supranationale Ebene befasst sich Jörke eingehend mit der Europäische Union, die sich in den „letzten Jahren zunehmend zu einem liberal-autoritären Regime entwickelt“ (111) habe. Gegen den Willen der Bevölkerung hätten sich in der EU neoliberale Ziele durchgesetzt. Zudem würden „über 50 Prozent der Gesetze von der europäischen Ebene stammen“ (115) und – ohne eine demokratische Debatte in den nationalen Parlamenten – in nationales Recht umgesetzt werden. Außerdem würden beispielsweise von der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank nur „wohlhabende Menschen aus dem Norden und dem Süden“ (122) profitieren.

Europa sei nach sieben Erweiterungsrunden zu heterogen und gemeinsame Identitäten fehlten. Jörke kritisiert, dass es „keinen gemeinsamen Diskursraum und keinen europäischen demos“ (143) gibt. Die Übertragung politischer Kompetenzen auf die supranationale Ebene der EU schwäche letztlich das Prinzip der Volkssouveränität. Die Auslagerung von Herrschaftsbefugnissen aus den Nationalstaaten habe zu einem „erheblichen Demokratieabbau geführt“ (178). Die Beibehaltung demokratischer Standards könne lediglich durch die Rückverlagerung entscheidender Herrschaftsbefugnisse in die Nationalstaaten erfolgen.

Jörke geht intensiv auf Johann Gottlieb Fichtes Schrift „Der geschloßne Handelsstaat“ ein. Dabei räumt er ein: „Ihm werden unter anderem Nationalismus und Antisemitismus, bisweilen auch totalitäre Züge unterstellt.“ (183) Seine radikalen Ansichten werden von Jörke abgewiesen, gleichwohl orientiert er sich explizit an Fichte und will dessen Ideen trotz aller Kritik an der „Illiberalität und mangelnden Praktikabilität“ (212) modernisieren. Fichtes „Problemdiagnose“ (206) sei aktuell, nur seine Forderungen seien wenig überzeugend. Jörke gibt Fichte dabei in zwei Punkten teilweise recht: Erstens dürfe ein demokratisches Gemeinwesen nicht von ökonomischen Kräften abhängig werden, sodass dessen Gestaltungsmacht gelähmt werde. Zweitens sei Fichte darin zuzustimmen, dass der Staat die staatlichen Prozesse kontrollieren müsse. Lediglich die von Fichte geforderte Umverteilungspolitik sei eingeschränkt umsetzbar. Jörke geht es um „ein Zurückfordern der Demokratie, und das heißt vor allem um die Begrenzung der Macht ökonomisch starker Akteure“ (190). Im Anschluss an Fichte fordert der Autor daher mehr ökonomischen „Gestaltungsspielraum“ (195) für die Mitgliedsländer der Europäischen Union. Man könne den Handel über die Staatsgrenzen hinweg nicht verbieten, wie Fichte es gefordert habe, allerdings seien die internationalen Regulierungsformen durch „strukturelle Asymmetrien gekennzeichnet“ (197). Es sei nicht mehr zeitgemäß, so Jörke, wie Fichte davon auszugehen, dass der grenzüberschreitende Handel vollständig eingeschränkt werden müsse. Vielmehr gebe es eine Vielzahl von Gütern, die international gehandelt werden sollten, und zwar in einem gerechten Welthandelssystem, sodass auch die Länder des globalen Südens davon profitieren können. Ein besonderes Augenmerk legt Jörke auf die Frage der Migration bei Fichte, denn er forderte, dass die „Untertanen keinen Handel mit Ausländern führen dürfen“ (212). Zudem habe sich Fichte für ein Verbot von Auslandsreisen zum Zwecke der müßigen Neugier und somit gegen den Tourismus ausgesprochen. Nur Gelehrte und Künstler, heutzutage mit Handwerkern und Ingenieuren vergleichbar, dürften Fichte zufolge Reisen unternehmen. Eine solche Begrenzung der Reisefreiheit bezeichnet Jörke freilich als illiberal.

Der Autor nimmt in der Folge politisch Stellung und vertritt ein Demokratiemodell, dass „sowohl republikanische als auch sozialdemokratische Züge“ (219) trägt. Dazu zählt beispielsweise, dass wohlhabende Gesellschaften aus menschenrechtlichen Gründen Flüchtlingen Schutz zu bieten haben. Gegen kosmopolitische Positionen wendet Jörke jedoch ein, dass sie in einem Gegensatz zu einem „Verständnis von kollektiven Identitäten oder auch spezifischen Klassenlagen“ (228) stehen. Ein liberaler Kosmopolitismus trete als ein Universalismus ein und verschleiere partikularistische Interessen.

Für Jörke gibt es keine Demokratie ohne Nationalstaatlichkeit. Die Europäische Union entspreche nicht der Idee eines demokratischen Föderalismus. Weder herrsche Gleichheit zwischen den Mitgliedern noch funktioniere eine effektive Programmierung und Kontrolle durch die Bürger. Zudem fehle eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsamer Bedeutungsraum innerhalb der EU, die jedoch notwendig wären, „um überhaupt einen demos zu konstruieren.“ (257) Als Konföderalist lehnt Jörke eine Unionsbürgerschaft ab, denn demokratische Souveränität habe „ihren Ort einzig auf der Ebene der Einzelstaaten“ (263). Die supranationale Handlungskoordination solle sich auf wenige Politikbereiche beschränken, wie die Verteidigung und der Schutz von Menschenrechten und Demokratie. Auf dieser Ebene soll die Zusammenarbeit der europäischen Staaten daher verstärkt werden.

Es erscheint folgerichtig, dass Jörke prinzipiell einen Weltstaat ablehnt und bezweifelt, dass „die kulturellen und sittlichen Voraussetzungen einer Weltdemokratie gegeben sind“ (138). Fichte verfolgte nicht das Ziel der Demokratisierung der Welt, was jedoch im 21. Jahrhundert und dank der Charta der Vereinten Nationen durchaus eine realistische und langfristige Perspektive bieten kann. Eine Frage soll abschließend erlaubt sein: Wer insbesondere die Schrift „Reden an die deutsche Nation“ von Fichte kennt, darf sich fragen, warum dessen aus heutiger Sicht geradezu blinder Nationalismus in puncto Zukunft der Europäischen Union überhaupt eine Orientierung geben soll.

 

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Aus der Annotierten Bibliografie

Dirk Jörke

Kritik demokratischer Praxis. Eine ideengeschichtliche Studie

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2011 (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 20); 386 S.; 59,- €; ISBN 978-3-8329-6806-9
Habilitationsschrift Greifswald; Begutachtung: H. Buchstein, F. Nullmeier, K. Palonen. – Demokratie als politisches Konzept ist ideengeschichtlich mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verknüpft; diese historische Variabilität verweist – das ist Jörkes Ausgangsüberlegung – auf eine grundsätzliche semantische Umkämpftheit des Begriffs, die jeden Versuch scheitern lassen müsse, „dem Begriff ‚Demokratie' einen dauerhaften Bedeutungskern einzuschreiben oder mit ihm ein...weiterlesen

 

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Daniel Keil

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Münster: Westfälisches Dampfboot 2015; 279 S.; 29,90 €; ISBN 978-3-89691-730-0
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