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Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland – Europa – Amerika

20.03.2019
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Autorenprofil
Frank Kaltofen, M.A.
München, C.H. Beck Verlag 2018

Es kommt nicht oft vor, dass Geschichtswissenschaftler sich so intensiv und publikumswirksam mit der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit und der Gegenwart auseinandersetzen wie Timothy Snyder. Zuletzt hatte der Professor für Osteuropäische Geschichte an der Yale University das mit seinem Buch „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ getan. Größere Bekanntheit hatte der amerikanische Osteuropa-Historiker – zumindest in Deutschland – zuvor mit seinem Werk „Bloodlands – Europa zwischen Stalin und Hitler“1 erlangt. Diesem historischen Stoff bleibt Snyder hinsichtlich der Fokuspunkte seines Buches „Der Weg in die Unfreiheit“ treu. Denn im Wesentlichen sind es Nachwirkungen von Faschismus und Kommunismus, die Snyder bei seiner Betrachtung der gegenwärtigen politischen Kultur und des Aufstiegs autoritärer Regime in Russland, Europa und den USA ins Zentrum stellt.

Dabei ist es offensichtlich sein Anspruch, Gemeinsamkeiten oder zumindest Parallelen aufzuzeigen – einerseits in historischer Perspektive, andererseits zwischen den betrachteten Ländern und Regionen. Es sei gleich vorweggenommen, dass Europa und die Vereinigten Staaten in Snyders Erzählung eher Nebendarsteller sind; hingegen sieht er Russland als den eigentlichen Akteur, der die anderen beeinflusst.

Von Beginn an präsentiert der Autor eine klar theoriegeleitete Analyse, deren Grundlage die Unterscheidung zwischen einer (eher westlichen) „Politik der Unausweichlichkeit“ und einer (eher Russland zugeschriebenen) „Politik der Ewigkeit“ bildet. Wie sich noch zeigen wird, entpuppt sich diese analytische Richtschnur eher als ein Korsett für Snyders Ausführungen.

Die „Politik der Unausweichlichkeit“ sieht der Autor charakterisiert durch „die Vorstellung, dass die Zukunft nichts anderes sei als die Mehrung des Gegenwärtigen, dass die Gesetze des Fortschritts bekannt seien“ (14) und man daher auch nichts für die Zukunft tun müsse, weil es ohnehin keine (politischen) Alternativen gebe. Als Gegenstück beschreibt Snyder die „Politik der Ewigkeit“, bei der die Mächtigen die einzelne Nation ins Zentrum stellen. Statt einer Zeitlinie in die Zukunft gebe es „einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt“ (15) – und der Schutz vor diesen vermeintlichen Bedrohungen gehe zulasten der Wahrheit und mit der Manipulation durch Emotionen einher. Auch wenn dieses Konzept zunächst abstrakt klingen mag: Worauf Snyder damit hinauswill, wird schnell klar. Seine Herleitung der beiden Politiken ist dabei nicht frei von Plattitüden, die man schon zigmal anderswo gelesen hat: „Die Zeit war aus den Fugen geraten“ (14) heißt es etwa an einer Stelle, anderswo spricht er – stark emotionalisierend – vom „immer dunkler werdenden Weg in die Unfreiheit“ (25).

Der Autor beschreibt die 2010er-Jahre als Jahrzehnt der Krisen und nennt etwa das Abwenden Russlands von der Kooperation mit dem Westen, die Invasion in die Ukraine oder die Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten durch russische Einmischung. Jedes Kapitel konzentriert sich jeweils auf ein Ereignis in einem bestimmten Jahr; insofern sind die sechs Hauptkapitel auch weitgehend als einzelne Essays les- und nachvollziehbar. So beschreibt er beispielsweise das Erstarken des Eurasismus in Russland. Ab Kapitel 3 erörtert er, wie sich die russische Politik auf das Verhältnis zur Europäischen Union sowie zur Ukraine ausgewirkt hat und geht auf die Invasion sowie den eskalierenden Informationskrieg über die Deutungshoheit ein. Zu Europa entwickelt er dabei einen interessanten Gedanken: „Weil die Europäer nicht begriffen, was bei dem Ukraine-Konflikt auf dem Spiel stand, erwiesen sie sich durch den russischen Angriff verwundbarer als die Ukrainer selbst.“ (117)

Snyders historischer Abriss zur Ukraine, der bis zurück ins 11. Jahrhundert reicht, ist ein gelungenes, aber leider auch seltenes Beispiel dafür, wie er historische Zusammenhänge knapp und informativ für die weitere Argumentation des Buches nutzt. Der Abschnitt zeigt außerdem, dass Snyder sehr lange Kontinuitätslinien zieht (das russische Denken gehe etwa bis zu Hegel zurück); dabei wird allerdings die Gegenwart beinahe zu einer historischen Zwangsläufigkeit. So transportiert Snyder den Leser*innen mitunter selbst ein Gefühl der Unausweichlichkeit: Nachdem 1989 dies passiert ist, konnte eigentlich daraus nur jenes folgen. Zugleich betont er aber immer wieder, dass es zu politischem Handeln stets wählbare Alternativen gebe.

Der Verfasser arbeitet in seinem Buch häufig mit historischen Vergleichen, wobei diese nicht immer zielführend, stellenweise sogar eher irreführend wirken. Häufig eröffnet er zudem argumentative Nebenkriegsschauplätze durch seitenlange Exkurse oder zieht einzelne Äußerungen von politischen Nebenfiguren, Journalisten oder auch einfachen Soldaten als Belege für seine Thesen heran.

Manche Akzentuierung seiner Argumentation geht wohl durch die deutsche Übersetzung verloren, die den Text an vielen Stellen alles andere als flüssig lesen lässt. Doch selbst, wenn man dies als Erklärung akzeptiert – Spätestens, wenn der Historiker die hypnotische Kraft russischer Propaganda mit der Wirkung von in den USA verbreiteten Opioiden vergleicht, runzelt man die Stirn: „Die Amerikaner wurden durch Drogen auf die Politik der Ewigkeit vorbereitet, auf das Gefühl des drohenden Verhängnisses, das nur durch den schnellen Schuss unterbrochen wird.“ (281)

Snyder beschreibt Missstände und politische (Fehl-)Entwicklungen der zurückliegenden zehn Jahre sehr genau, fesselt seine Analyse dabei aber zu sehr an die Dichotomie der „Politik der Unausweichlichkeit“ und der „Politik der Ewigkeit“. Es scheint, als sei er zu stark darauf fokussiert, das zu sehen, was zu dieser Dichotomie passt. Nachdem er zu Beginn seines Buches die „Geschichte unserer Gegenwart“ als „eine einzige, zusammengehörende Geschichte“ (20) bezeichnet, hat man im Folgenden immer wieder das Gefühl, dass Snyder allzu angestrengt nach dieser großen Erzählung sucht.

Zweifellos entwickelt er dabei einige gute Ideen, die aber über die fast 400 Seiten des Buches weit verstreut sind. Das Werk bietet kluge Analysen, krankt jedoch an der hölzernen Übersetzung und am Pathos, der große Teile von Snyders Ausführungen durchzieht, wenn er etwa schreibt: „Man sieht eine Welt zum ersten Mal, wenn man ihre Zerstörung erlebt.“ (293) Snyder liefert eine Art von Ideengeschichte der Gegenwart – leider verpackt er sie zu oft als emotionale (fast prosaische) Erzählung von Gut und Böse.


Anmerkung

1Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München, C. H. Beck 2011.

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Rezension

Timothy Snyder

Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand

Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. München, C.H.Beck 2017

Dass sich der renommierte Osteuropa-Forscher Timothy Snyder genötigt sieht, dieses Buch zu schreiben, ist ein sehr schlechtes Zeichen: Es ist nicht auszuschließen, dass die USA 2017 die vorerst letzten freien Wahlen erlebt haben. Ist diese Befürchtung Snyders zu dramatisch? 1932 in Deutschland, 1946 in der Tschechoslowakei und 1990 in Russland hätten die Bürger in der Mehrheit ebenfalls nicht geglaubt, so sein Hinweis, dass sie für lange Zeit keine Möglichkeit mehr haben würden, frei zu wählen. Kurz und knapp erläutert er, woran zu erkennen ist, ob die USA Gefahr laufen, eine ähnliche Erfahrung zu machen, und was dagegen unternommen werden kann.

zur Rezension

 


Lektüre

Nils Kreimeier und Horst von Buttlar im Interview mit Timothy Snyder
„Russland muss die EU zerstören, bevor Putin die Macht verliert“
Capital, 31. März 2019



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