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Spielarten des Antisemitismus und der Hass im Netz. Die Studie „Antisemitismus 2.0“ und ihr Kontext

11.10.2018
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Vincent Wolff, M.P.P.

neue synagoge ulm197369 640Ob Restaurants, Kultureinrichtungen oder Synagogen: Jüdisches Leben in Deutschland ist wieder sichtbar – aber keineswegs sicher, wie ein zunehmend offener ausgetragener Antisemitismus zeigt. Foto: neue Synagoge in Ulm (Stefan Schweihofer / pixabay)

 

Monika Schwarz-Friesels Langzeitstudie „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“1 hat ein großes Medienecho hervorgerufen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerte sich der Präsident des Zentralrats der Juden Josef Schuster und unterstrich, die Studie belege empirisch, was Juden schon lange empfänden2. Der Großteil der Berichterstattung beschränkt sich auf die Kernaussage, der Antisemitismus im Netz nehme stark zu. So fällt der erhebliche Mehrwert der Studie unter den Tisch, denn es sind nicht nur die Zahlen, die die bestehenden Vermutungen empirisch untermauern. Es ist auch die verwendete Methodik, durch die der Antisemitismus in seiner Tiefe und Breite sichtbar wird. Schwarz-Friesel und ihrem Forschungsteam gelingt es so, die verschiedenen Antisemitismen – den muslimischen, rechten, linken, bürgerlichen sowie israelbezogenen – aufzudecken und mit chirurgischer Präzision zu sezieren.

Im Folgenden wird kurz das Alleinstellungsmerkmal der Studie erläutert, bevor ähnliche Erhebungen und aktuelle gesellschaftliche Debatten auf verschiedenen Kanälen vergleichend ins Feld geführt werden. Im Anschluss geht es um die bestehende Datenlage und die verschiedenen Spielarten des Antisemitismus in Deutschland und Europa. Abschließend stellt sich die Frage nach der Bedeutung Israels in diesem Zusammenhang und es wird eine Prognose für die nähere Zukunft gewagt.

Antisemitismus fällt online auf fruchtbaren Boden

Die flächendeckende Existenz von Antisemitismus in Deutschland sollte niemanden überraschen, der sich mit dem Thema auseinandersetzt. Die Prävalenz der Judenfeindlichkeit wird in Deutschland seit Langem auf etwa 20 Prozent der Bevölkerung taxiert.3 Nach jeder neu veröffentlichten Studie zur Judenfeindlichkeit in Deutschland geht ein Aufschrei durch Medien und Politik, oftmals ohne nachhaltig etwas zu ändern. Die jetzt veröffentlichte Studie bietet insofern eine neue Perspektive auf den Antisemitismus, als sie methodisch die qualitative Radikalisierung und Intensivierung verschiedener Antisemitismus-Formen aufzeigt. Im Zentrum steht dabei eine Ermöglichung durch das Internet: Wo früher Tabus herrschten, öffnen sich in der digitalen Welt alle Schleusen. Das Internet hat sowohl das Konzept der Öffentlichkeit nachhaltig verändert als auch die Verfügbarkeit von Verschwörungstheorien und damit notwendigerweise einhergehend auch von Antisemitismen erheblich erleichtert. Sowohl die Sag- als auch die Sichtbarkeit hat sich in einer bisher ungekannten Weise vervielfacht. Und so stoßen wir heute nirgendwo auf eine stärkere Verbreitung von Antisemitismus als im Netz. Entgegen landläufiger Annahmen dominiert wieder der nicht selten für überwunden geglaubte klassische Antisemitismus in seinen Spielarten. Gängige judenfeindliche Stereotype und Verschwörungstheorien beherrschen den antisemitischen Online-Diskurs.

Ein besonderer Verdienst der Studie von Schwarz-Friesel und ihrem Team ist die Analyse des muslimischen Antisemitismus, der entgegen gängiger Annahmen von klassischer Judenfeindlichkeit geprägt ist und nicht, wie oft verteidigend ins Feld geführt wird, von politischer Empörung über den Nahost-Konflikt: Der israelbezogene Antisemitismus ist von klassischen judenfeindlichen Motiven durchzogen. Die Studie warnt daher eindringlich vor dem Fehlen von Gegenmaßnahmen von Justiz und Politik – der klassische Entschuldungsvorwurf, der muslimische Antisemitismus sei ja „nur antizionistisch“, durchziehe viele Debatten und führe oftmals zu einer Legitimierung von israelbezogenem Antisemitismus. In allen soziodemografischen Gruppen zeigt sich ein überraschend uniformer und homogener Judenhass, dessen Stereotypkodierungen und Argumentationen sich nicht erheblich voneinander unterscheiden. Ein weiteres gemeinsames Kennzeichen sind die massiven Abwehr- und Relativierungsstrategien gegenüber der Feststellung von und Kritik an den antisemitischen Äußerungen.

Methodik ermöglicht umfassende Analyse

Der große Neuwert der Studie ist auf die Methodik der Erhebung zurückzuführen. Anhand einer umfangreichen korpusbasierten Untersuchung wurden zahlreiche Online-Diskurse der vergangenen zehn Jahre erfasst. Dies verhindert Probleme wie Priming oder soziale Erwünschtheit, wie sie oft in gängigen Studien und Interviews zu finden sind. Menschen sind online ganz einfach offener und weniger politisch korrekt als im persönlichen Gespräch. Die Analyse von zehntausenden Websites und hunderttausenden Kommentare förderte eine erhebliche Zahl an antisemitischen Äußerungen zutage, die seit Erfassungsbeginn 2007 konstant ansteigen. Auffällig ist vor allem der israelbezogene Antisemitismus, der selbst in Situationen ohne Bezug zum Nahost-Konflikt auftaucht.

Die EVZ-Studie als Beispiel für mangelnde Tiefe im Verständnis

Zur Frage der sogenannten Israelkritik herrschen in der Öffentlichkeit nicht selten gegensätzliche Auffassungen und oftmals lassen sich an ihr die guten und aussagekräftigen von methodisch schwachen und entschuldigenden Studien unterscheiden. Ein Beispiel für Letzteres ist der Bericht „Antisemitism and Immigration in Western Europe Today: is there a connection?“4. Dieses Forschungsprojekt wurde von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) mit Sitz in Berlin initiiert und gefördert und unter der Leitung des Pears Institute for the Study of Antisemitism der University of London durchgeführt. Veröffentlicht im Mai 2018, sucht die Studie nach einer Antwort auf die Forschungsfrage, ob durch den Anstieg der Zuwanderung auch der Antisemitismus in Europa zugenommen hat. Wie die Forscher*innen feststellen, sind antisemitische Einstellungen und/oder antisemitisches Verhalten bei „muslimischen Minderheiten“ sowie Personen, die mit rechtsextremen Gruppierungen sympathisieren, unverhältnismäßig stark präsent. Der wiederkehrende Bezug auf Rechtsextreme schwächt diese Studie bereits methodisch zu einem frühen Zeitpunkt: Die Kernfrage nach dem Antisemitismus unter muslimischen Einwanderern wird immer wieder umgangen, indem auf Rechtsextreme verwiesen wird. Diese Form der thematischen Verschiebung impliziert eine politische Voreingenommenheit. Ähnlich verhält es sich mit dem wiederkehrenden Motiv der „Minderheit“, das wiederholt ins Feld geführt wird. Auch der Satz, „[e]inige Daten deuten darauf hin, dass antisemitische Einstellungen unter MENA-Flüchtlingen weit verbreitet sind, genau wie positive Einstellungen zu Demokratie, Gleichberechtigung und friedlichem Zusammenleben zwischen Muslimen, Christen und Juden“, missversteht den Antisemitismus als religiös bedingte Ablehnung. Antisemitismus ist nicht nur eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, sondern fungiert als kohärentes Weltbild. Ohne den Charakter der Verschwörungstheorie und die Annahme der „Überlegenheit der Juden“ als Drahtzieher, Krake, etc. lässt sich diese Grundhaltung von Antisemiten nicht verstehen. Dass der abschließende Satz „Antisemitismus ist ein Problem, das der Mehrheitsbevölkerung entspringt und nicht ausschließlich oder sogar überwiegend von Minderheiten herrührt“ dennoch richtig ist, hilft der Studie nicht.

Verlässliche Datenlage in Europa und weltweit

Einer 2013 von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte in Auftrag gegebene Studie zufolge werden 40 Prozent der an Juden in Europa begangenen Straftaten von Muslimen verübt.5 Dieser Aussage widerspricht das Forschungsprojekt der EVZ und die Forscher konstatieren, dies sei eine zu kurzsichtige Darlegung der Situation. Auch hier zeigt sich das offensichtliche Problem, muslimischen Antisemitismus als solchen zu erkennen und zu benennen. An dieser Stelle lässt sich das Langzeitprojekt der Anti Defamation League (ADL) als methodisch einwandfreies Konzept hinzuziehen: Die jährlich aktualisierte Erhebung antisemitischer Einstellungen in zahlreichen Ländern weltweit zeigt regelmäßig tief verwurzelte Judenfeindlichkeit auf.6 Es lässt sich in regelmäßigen Abständen feststellen, dass die Bevölkerungsmehrheit aller arabischen Staaten tiefe judenfeindliche Einstellungen hegt. Diese sind in einigen Ländern schwächer ausgeprägt (wie im Iran) und in anderen stärker (wie im Irak). Zusammengenommen muss die Tatsache weit verbreiteter antisemitischer Einstellungen – und nicht nur von obskuren „Minderheiten“ – zur Kenntnis genommen werden. Dass in Europa lebende Juden einen Anstieg antisemitischer Ausschreitungen durch den Zuzug arabischer Menschen fürchten, ist daher verständlich. Aus politischer und gesellschaftlicher Sicht ist die Debatte über die richtigen Strategien gegen Antisemitismus somit von großer Bedeutung. Die Verleugnung des Problems hilft nicht.

Die Debatte im Film steht stellvertretend für den gesellschaftlichen Diskurs

Wie schwer die Auseinandersetzung mit dem Thema fällt, wird immer wieder augenscheinlich – zuletzt unter anderem bei der Diskussion über den Film „Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa“ von Joachim Schroeder und Sophie Hafner vom Juni 2017. Der Auftraggeber, die öffentlich-rechtliche ARD, weigerte sich über einen langen Zeitraum, besagte Dokumentation auszustrahlen. Schließlich wurde sie nach öffentlichem Druck im Abendprogramm gezeigt – dies jedoch nicht, ohne besagten Film mit einem ‚Faktencheck‘ zu begleiten, der, so der verantwortliche WDR, „Gegenthesen präsentieren“ sollte. Offensichtlich hatten die Filmemacher einen Nerv getroffen, nur so ist die aktuelle Ausstrahlung zweier neuer Dokumentationen zu verstehen, die ihrem Film konträr gegenüberstehen: In den Dokumentationen „Judenhass in Europa – Antisemitismus in Europa“ von Andreas Morelle und Johanna Hasse im WDR sowie „Wie antisemitisch ist Deutschland?“ von Barrie Kosky, ausgestrahlt auf 3sat, wird der rechtsextremistische Antisemitismus in den Mittelpunkt gestellt und linker oder muslimischer Judenhass wahlweise als „Israelkritik“ oder „Antizionismus“ bezeichnet. Mit der Verengung auf den Antisemitismus in seiner nationalsozialistischen Ausprägung vernebeln sie den breiteren Judenhass in der deutschen Gesellschaft.

Diese beiden Dokumentationen zeigen unabsichtlich einen Kernpunkt des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Antisemitismus auf – die quasi pathologische Abwehrreaktion auf den Antisemitismusvorwurf. Monika Schwarz-Friesel und ihr Team haben diesem Aspekt zurecht ein eigenes Kapitel gewidmet. In zahlreichen Online-Kommentaren konnten bestimmte Muster festgestellt werden, die diesem Schema folgen. Oftmals ist es die Leugnung des eigenen Verbal-Antisemitismus, verbunden mit einer Strategie der Selbstlegitimierung und moralischen Erhöhung („ich bin kein Antisemit, aber...“, „Israels Politik ist schuld“, „Endlich Schlussstrich ziehen“ etc.). Hinzu kommen Themen- und Relevanzverschiebungen („Islamophobie ist viel schlimmer“), die den tatsächlichen Judenhass relativieren, sowie re-klassifizierende Sprechakte, die von den Antisemiten als Umdeutung zu einer „legitimen Kritik“ verwendet werden. Zahlreichen Kommentatoren ist bewusst, dass Antisemitismus nicht mit dem eigenen Selbstkonzept eines aufgeklärten und anständigen Menschen vereinbar ist, daher wird zum Selbstschutz eines der obigen Beispiele vorgeschoben. In diesem Zusammenhang wird immer wieder ein Kritiktabu angenommen. Dieses impliziere, die Trennung von Antisemitismus und „legitimer Kritik“ sei unheimlich schwer. All diese Aspekte unterstreichen das vorhandene Bewusstsein, Antisemitismus ist falsch, verbunden mit dem Bestehen auf der antisemitischen Aussage.

Die Erfassungsprobleme in Deutschland

In deutschen Talkshows wird nicht selten die Kriminalstatistik bemüht, um den Antisemitismus von links und von Muslimen zu beschwichtigen: Häufig wird darauf verwiesen, dass die meisten antisemitischen Straftaten laut Kriminalstatistik von Rechtsextremen begangen werden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass besagte Kriminalstatistik all jene antisemitischen Fälle, in denen die politische Motivation nicht klar zu erkennen ist – beispielsweise durch das Fehlen eines Bekennerschreibens –, per Faustregel als „rechtsextrem“ einstuft werden. Somit wird die Lebenswirklichkeit vieler jüdischer Menschen in Deutschland verzerrt und die reale Gefahr verkannt.

Wie schwer es sowohl der deutschen Politik als auch der Justiz fällt, den Antisemitismus als solchen zu erkennen, hat sich in der Vergangenheit wiederholt gezeigt. So hatten drei junge Männer im Juli 2014 Brandsätze auf die Synagoge in Wuppertal geworfen – glücklicherweise ohne Verletze oder Tote. Das Oberlandesgericht Düsseldorf urteilte in diesem Fall, dies sei lediglich „Israelkritik“ gewesen, da die Täter Palästinenser seien.

Gerade in diesem Kontext ist die Studie von Schwarz-Friesel von großer Bedeutung. Der Versuch, einen „politisch korrekten Antisemitismus“ herauszubilden, wird von dem Forschungsteam mit der zugrundeliegenden Datenlage nachgewiesen. Damit zeigt sich auch die jahrhundertelange und immer wieder aktualisierte Anpassung von Antisemitismus an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Von einem religiös begründeten Antijudaismus des Mittelalters zur verkürzten Kapitalismuskritik zu Zeiten der industriellen Revolution bis zum antiisraelischen Antisemitismus heutzutage – das Chamäleon Judenhass hat sich ohne Bruch und Selbstzweifel an die gesellschaftlichen Normen angepasst, ohne das zugrundeliegende Glaubens- und Weltdeutungssystem infrage zu stellen. Der Sprachgebrauch ist dabei seit Jahrhunderten von Stereotypen geprägt, Jüdinnen und Juden werden Zuschreibungen wie Verschwörer, Fremde, Zersetzer oder Kindermörder angedichtet. Gegenwärtig lässt sich die diskursive Übertragung dieser Eigenschaften auf den Staat Israel feststellen.

Die Ähnlichkeit der Semantik sowie die Homogenität hinsichtlich der Verwendung spezifischer Mittel im rein judenbezogenen Antisemitismus und dem israelbezogenen Antisemitismus lassen wenig Zweifel an der Intention der Sprecher. Das Argumentationsmuster ist schlicht zu ähnlich. Die zahlreichen Verweise in den Online-Kommentaren auf die Kampagne der antizionistischen BDS-Bewegung lassen auch jene in kritischem Licht erscheinen. Die inhaltlichen und sprachlichen Formen sind quasi austauschbar.

Muslimischer Antisemitismus verwendet klassische judenfeindliche Bilder

Daher erfordert auch der Bereich des muslimischen Antisemitismus eine besondere Aufmerksamkeit. Wie oben skizziert, existiert in vielen arabischen und nordafrikanischen Ländern ein weit verbreiteter Judenhass. Entsprechend zeigt die Studie der Forscher*innen um Monika Schwarz-Friesel antisemitische Stereotype und Einstellungsmuster in hunderten Kommentaren auf Plattformen aus dem arabischen/muslimischen/türkischen Umfeld auf. Spannenderweise enthalten diese quasi ausschließlich klassische Antisemitismusmuster wie Medienkontrolle, Verschwörung (gegen Muslime) und jüdische Weltmacht. Frappierend ist sogleich die hohe Anzahl von NS-Vergleichen auf diesen Plattformen sowie Hyperbeln und Vernichtungswünsche. Insgesamt zeigt lediglich ein Drittel der Kommentare klare israelbezogene Stereotype („Terrorstaat“, „Unterdrückerstaat“, „Teufelsstaat“), während über die Hälfte klassischen Antijudaismus propagiert (Juden als Machtmenschen, Verschwörer, Mörder). Dabei ist die Verbindung von israelbezogenem Zionistenhass und klassischem Judenhass nicht zu übersehen. In dieser Symbiose zeigen sich auch überdurchschnittlich viele religiöse Referenzen, vor allem hinsichtlich der Dehumanisierung von Juden als Tiere. Dies widerlegt die populäre These, dass muslimischer Judenhass durch den Nahost-Konflikt zu erklären sei.

Linker Antisemitismus versteckt sich hinter Moralappellen

Die Studie von Schwarz-Friesel stellt außerdem die Besonderheit des linken Antisemitismus fest. Im Gegensatz zu Rechten und Muslimen tritt diese Spielart des Judenhasses mit einer stärkeren Camouflagetechnik auf, um die Kommentare moralisch zu legitimieren. Allzu oft wird dies unter der Selbstbezeichnung „Friedensaktivist“ geführt und als Moralappell markiert. Zudem stehen die Sprecherinnen und Sprecher hier vor einer gleichwohl größeren Aufgabe, um den Antisemitismus in die bestehende linke Ideologie zu passen. Dies äußert sich dann im Rückgriff auf die ostentative Toleranz und Solidarität mit Minderheiten, die allerdings explizit die Juden ausschließt. Dies wird dann als „moralische Verpflichtung“ und „legitime Kritik“ entsprechend umgewertet. Besonders stark tritt hier der Verweis auf die Shoah auf. Dies ist in einem solchen Duktus bei vergleichbaren rechtsextremen oder muslimischen Online-Kommentaren kaum zu finden.

Rechtsextreme Gruppen am offensichtlichsten antisemitisch

Allzu oft findet eine Instrumentalisierung des Antisemitismus durch politische Gruppierungen statt. Es ist auch daher die Aufgabe der Wissenschaft, ein vollständiges und akkurates Bild der Wirklichkeit wiederzugeben. Zur Wahrheit gehört auch, dass der Antisemitismus in Deutschland vor allem in rechten Parteien eine politische Heimat findet. Die antisemitischen Äußerungen verschiedener baden-württembergischer AfD-Abgeordneter wie Wolfgang Gedeon, Hans Peter Stauch und Christina Baum sind keine Einzelfälle.

Die im Juni 2018 vorgestellte Studie „Wie antisemitisch ist Deutschland?“ des Instituts für Demoskopie Allensbach7 zeichnete ein komplexeres Bild: Sie attestierte der deutschen Gesellschaft einen abnehmenden Antisemitismus. Allerdings scheint die Umfrage methodisch mit Mängeln behaftet, sie erkundete spezifisch nur den klassischen Antisemitismus und setzte auf Interviews – gerade hinsichtlich dieses heiklen Themas mag das die methodische Verlässlichkeit schwächen. Vor allem der gezogene Vergleich mit „Islamfeindlichkeit“ verwischt dabei das Problem des tatsächlichen Antisemitismus. Rassismus, Islamophobie und Antisemitismus sind drei getrennte Phänomene, deren Vergleich prinzipiell problematisch ist.

Dennoch sind die Ergebnisse der Studie spannend und aufschlussreich. Auf die Parteigänger heruntergebrochen, zeigen sich interessante Tendenzen und Meinungsbilder. Quer durch das gesamte Parteienspektrum vertreten AfD-Anhänger am stärksten ein antisemitisches Weltbild. Während die Anhänger der übrigen Parteien Zustimmungswerte zur Judenfeindlichkeit von zwischen 15 und 20 Prozent aufweisen, stimmen sage und schreibe 55 Prozent der AfD-Anhänger der Aussage zu: „Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss“. Zur ganzen Wahrheit gehört demnach aber auch, dass 22 Prozent der Gesamtbevölkerung dieser Einstellung anhängen. Damit liegt die Studie im Bereich des in der Wissenschaft angenommen Antisemitismus von circa einem Fünftel der deutschen Bevölkerung. Die Allensbach-Studie vom Juni 2018 zeigt damit noch einmal ein breites Problem auf und unterstreicht das Vorhandensein eines flächendeckenden Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft.

Lediglich 31 Prozent der Befragten in der Allensbach-Studie bejahen zudem die Frage „Würden Sie sagen, Deutschland hat für das Schicksal Israels eine besondere Verantwortung, oder würden Sie das nicht sagen?" Die Aussage, man schließe sich dem nicht an, kann durchaus als besorgniserregend eingestuft werden. Denn jüdisches Leben ist seit der Gründung des Staates Israel eng mit diesem verbunden. Zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen haben aufgezeigt, dass der Staat prinzipiell nicht sicher ist – und jüdisches Leben auch in Israel oftmals in Gefahr. Aus der Allensbach-Studie ließe sich schlussfolgern, dass lediglich vergangenes jüdisches Leben in Deutschland Bedeutung hat – durch Gedenken und Erinnern –, während gegenwärtiges jüdisches Leben oftmals wenig Beachtung und noch weniger Zustimmung findet. Gerade im Hinblick auf zunehmende antisemitische Ausschreitungen in vielen europäischen Ländern – hier sei an die erhebliche Auswanderung jüdischer Franzosen in den vergangenen Jahren erinnert – gewinnt Israel als vermeintlich sicherer Hafen für jüdische Menschen an großer Bedeutung.

Israel vor Feinden und falschen Freunden schützen

Wird in Deutschland über den Antisemitismus debattiert, herrscht wenig Kontroverse über dessen Ablehnung. Judenhass „geht gar nicht“ – aber in den vergangenen siebzig Jahren habe sich ja auch viel verändert, heißt es nicht selten. Immer wieder wird dann das Thema Israel eingeworfen, wo es heute ja auch sehr schlimm sei. Und wie bereits weiter oben geschildert, scheiden sich an dem Judenstaat dann nicht nur die Auffassungen, sondern die Grenzen des Sagbaren werden verschoben. Denn Israel ist der Jude unter den Staaten, das erkannte schon vor Jahrzehnten der Historiker Léon Poliakov. Im Jahr 2014 hat Monika Schwarz-Friesel in einer früheren Untersuchung dargelegt, dass Israel sich einer prinzipiell negativen Berichterstattung in Deutschland ausgesetzt sieht. Nach dem Gaza-Konflikt 2012 wurden 400 Schlagzeilen aus Onlinemedien analysiert. Das Ergebnis der Forscherin: In drei Viertel der Überschriften wird Israel als der aggressive Part dargestellt. Wenn Palästinenser beschrieben werden, greifen Autoren auf idealisierte Bilder wie die Olivenbäume, die Felder und die Schafherden zurück. Israelis stehen oft im Zusammenhang mit extremen Verben, die Gewalt und Willkür ausdrücken – „zerstören, angreifen, besetzen, befehlen“. Diese Tendenz zieht sich durch ein weites Feld der Berichterstattung und legt das Fundament für weitere, dann nicht selten antisemitische Kritik an dem einzigen jüdischen Staat weltweit.

Für politisch interessierte Menschen und Forscher*innen ergibt sich also ein Aufruf zur Vorsicht. Der Nahost-Konflikt ist hochkomplex und viele Verkürzungen tragen nicht zur Wahrheitsfindung bei. Mit besonderer Sorgfalt sollte daher den zahlreichen Friedensaktivisten und Moralappellen begegnet werden: Nicht wenige Kritiker*innen und selbsternannte Freund*innen mit „guten Ratschlägen“ mögen das Beste im Sinn haben. Aber der sogenannten Israelkritik sollte mit spezieller Vorsicht begegnet und die Virulenz alter antisemitische Vorurteile verstanden werden.

Und wie geht es weiter?

Deutschland verändert sich, durch die höhere Einwanderung in den vergangenen Jahren wie auch durch innergesellschaftliche Dynamiken. Vor allem das Erstarken der politischen Rechten ist eine Entwicklung, die mit großer Sorge verfolgt werden muss. Das Etablieren der AfD als bundesweite politische Kraft, das Auftreten der Identitären Bewegung und die Wahlerfolge rechter Parteien in Europa lassen an die unrühmliche europäische Vergangenheit erinnern. In diesem Zusammenhang gewinnt der Antisemitismus an Beachtung und wird medial stärker reflektiert. Für die Forscher*innen um Monika Schwarz-Friesel ist dennoch klar: Hier handelt es sich um kein neues Phänomen und die Überwindung des Antisemitismus hat in Deutschland nie stattgefunden. Auch wenn sich Dynamiken und Sprachkonzepte sowie Ausdrucksformen gewandelt haben, so ist die Beständigkeit von antisemitischen Stereotypen doch frappierend. Umso erschreckender ist, wie wenig dies in der Öffentlichkeit als solches erkannt wird.

Es ist nicht nur Aufgabe der Wissenschaft, sondern der gesamten Gesellschaft, sich gegen jeden Antisemitismus zu stellen – egal ob muslimisch, rechts, links oder bürgerlich: Judenhass bleibt Judenhass.

_____________________

1 Monika Schwarz-Friesel (2018): Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses. Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektiver Gefühlswert im digitalen Zeitalter, Berlin 2018 (https://www.linguistik.tu-berlin.de/fileadmin/fg72/Antisemitismus_2-0_Lang.pdf)
2 Josef Schuster: ‚Echte Bedrohung‘: Antisemitismus im Internet nimmt zu, FAZ online, 28. Juli 2018
3 Bergmann, Werner/Heitmeyer, Wilhelm, Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung? Deutsche Zustände, Folge 3 (S. 224-238). Frankfurt a. M. 2005.
4 David Feldman: Antisemitism and Immigration in Western Europe Today: is there a connection? Findings and recommendations from a five-nation study, hrsg. Von der EVZ-Stiftung, Berlin 2018 (http://www.pearsinstitute.bbk.ac.uk/research/publications/antisemitism-and-immigration-in-western-europe-today-is-there-a-connection)
5 European Union Agency for Fundamental Rights: Diskriminierung und Hasskriminalität gegenüber Juden in den EU-Mitgliedstaaten: Erfahrungen und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Antisemitismus, 2014 (http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2013-discrimination-hate-crime-against-jews-eu-member-states_de.pdf)
6 Anti-Defamation League: Global 100, an index of anti-semitism, 2014 (http://global100.adl.org/)
7 Thomas Petersen (Institut für Demoskopie Allensbach): Wie antisemitisch ist Deutschland?, FAZ, 20. Juni 2018, siehe die Dokumentation dieses Beitrags: https://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/FAZ_Juni2018_Antisemitismus.pdf

 

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Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015 (Interdisziplinäre Antisemitismusforschung 6); 318 S. ; 59,- €; ISBN 978-3-8487-1679-1
Die deutsche Gesellschaft des Jahres 2015 ist alles andere als frei von Judeophobie und Antiisraelismus, ganz unabhängig davon, wo man hinschaut. In der Alltagskommunikation ebenso wie in den Massenmedien zeigen sich immer wieder verstörende Aussagen. Auch waren „explizit antisemitische Äußerungen [...] im Sommer 2014 anlässlich der Gaza‑Krise auf antiisraelischen Demonstrationen zu hören [...]. Dass die Staatsanwaltschaft den [...] volksverhetzenden Charakter darin nicht zu sehen ...weiterlesen

 

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Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2015 (Interdisziplinäre Antisemitismusforschung 5); 318 S. ; brosch., 59,- €; ISBN 978-3-8487-1672-2
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Marburg: Tectum Verlag 2012; VII, 252 S.; hardc., 39,90 €; ISBN 978-3-8288-2936-7
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