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Deutschland strategiefähiger machen. Ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau ist nötig

09.09.2018
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Autorenprofil
Prof. James D. Bindenagel
Autorenprofil
Philip A. Ackermann

Sirius 2018 3 chess PIOR4D Pixabay


Einleitung

Seit geraumer Zeit wird im Kreise der Analysten die Strategielosigkeit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bemängelt. Es fehle an Kohärenz, der Formulierung von klaren ressortübergreifenden Zielen und Interessen, Vorausschau, Leitlinien, Ressortabstimmung sowie der Entwicklung von alternativen Handlungsoptionen. Zu selten werde das „große Ganze“ in den Blick genommen. Dies führe dazu, dass Deutschland eher reagiert als agiert und sich immer wieder in Situationen wiederfinde, in denen nur noch schlechte Handlungsoptionen zur Auswahl stehen.

Dieses Defizit und gleichzeitig der Druck, es zu beseitigen, trat mit der Finanzkrise, dem Arabischen Frühling, der Annexion der Krim, dem Syrien-Konflikt und der sich daraus entwickelnden Flüchtlingskrise offen zu Tage. Die Bundesregierung wurde von diesen Ereignissen regelrecht überrascht und musste kurzfristig Entscheidungen treffen, die weitreichende Folgen für die Zukunft bedeuteten. Es standen keine oder kaum strategische Herangehensweisen, Handlungsoptionen oder vorausschauende Szenarien zur Verfügung, die die Resilienz der Bundesregierung hätten verbessern können.

Zu den Krisen und Konflikten kommen heute die Auswirkungen des Brexits, der Finanzkrise und der Wahl Donald Trumps hinzu. So sagte Frank-Walter Steinmeier 2016, damals als Außenminister: „Die Welt ist aus den Fugen geraten“. Während der Brexit den Glauben an die Unaufhaltsamkeit europäischer Integration zerstört und den Populismus in Europa auf die Tagesordnung katapultiert hat, stellt US-Präsident Donald Trump durch die einseitige Aufkündigung des Iran-Abkommens, Handelszölle auf Stahl und Aluminium und unilaterales Handeln die Fundamente der transatlantischen Beziehungen infrage. Darüber hinaus kann der Druck zur Reform der Eurozone und der Europäischen Union insbesondere aufgrund der Folgen der Finanzkrise nicht mehr ignoriert werden.

Durch diesen fundamentalen Wandel der internationalen Rahmenbedingungen kommt es zu drastischen Verschiebungen in den traditionellen Bezugspunkten deutscher Außenpolitik und zu einer Neudefinierung der deutschen Rolle in der internationalen Politik. Diese Entwicklungen können gar als eine Zeitenwende in den internationalen Beziehungen und für Deutschland als eine außenpolitische Zäsur verstanden werden. Es stehen grundlegende Richtungsentscheidungen zur Nahost- und Russlandpolitik, zur Zukunft der Europäischen Union, zur transatlantischen Partnerschaft sowie zu den Vorstellungen einer zukünftigen Weltordnung an.

Für diese Neuausrichtung und Rollenfindung werden eine signifikante Steigerung der Strategiefähigkeit der Bundesregierung und insbesondere eine breite strategische Debatte als unbedingt notwendig erachtet. Nur wer in der Lage ist, langfristige Ziele zu formulieren, klar definierte Leitlinien abzustecken, Handlungsoptionen zu entwickeln sowie geeignete Mittel zur Zielerreichung zu wählen, wird die Komplexität des internationalen Wandels langfristig meistern können. Dieser Artikel argumentiert, dass die Einrichtung eines Sachverständigenrates für strategische Vorausschau eine Möglichkeit darstellt, die Strategiefähigkeit Deutschlands zu steigern. Durch das Aufzeigen langfristiger Trends, möglicher sicherheitspolitischer Gefahren und Risiken und das Erstellen von Zukunftsszenarien kann die Strategieentwicklung der Bundesregierung sinnvoll ergänzt und ein sachlicher öffentlicher sowie parlamentarischer Diskurs zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen gefördert werden.
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Der vollständige Beitrag ist erschienen in: SIRIUS – Zeitschrift für strategische Analysen, Band 2, Heft 3, Seiten 253–260, ISSN (Online) 2510-2648, ISSN (Print) 2510-263X, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2018-3004.

 

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