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Attac (Hrsg.): Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist

25.10.2018
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Autorenprofil
Florian Geisler, M.A.
Wien/Berlin, mandelbaum 2018, 3. Auflage

Vorbei sind die Zeiten von gemäßigter Kritik – die Autor*innen der Beiträge dieses Bandes der globalisierungskritischen NGO Attac werfen in erfrischender Klarheit einen neuen Blick auf eine alte Gretchenfrage: Reform der EU oder doch lieber Revolution? Sie zeigen in 28 kurzen, aber dafür umso pointierteren Beiträgen, warum sie eine Reform der Europäischen Union für unmöglich halten. Dabei verwenden sie keine altbackenen, revolutionären Floskeln, sondern stellen auf der Basis des existierenden EU-Vertragswerks und seiner Auswirkungen und Verstrickungen in den verschiedenen Politikfeldern dar, warum sie meinen, dass die EU buchstäblich „nicht zu retten“ ist.

Der Band beginnt mit einer Problemdiagnose: „Europa“ ist mit dem Neoliberalismus verknüpft. Wer gegen den Neoliberalismus auftritt, ist im vorherrschenden Diskurs auch automatisch ein Gegner der Idee eines geeinten Europas. Attac will diese ideologische Koppelung gründlich hinterfragen, denn „davon profitieren rechtsextreme und neoliberale Kräfte gleichermaßen“ (10). Seit ihrer Kritik am europäischen Neoliberalismus zwischen 2006 und 2009 hat die Organisation ihre Position hierzu geändert. Damals befürwortete sie das Projekt EU noch grundlegend. Doch „die enorme Macht, mit der sich EU-Institutionen und Regierungen gegen eine wirtschaftliche Alternative stellten[, …] macht deutlich, dass die europäischen Eliten die neoliberale Ausrichtung der EU um jeden Preis aufrechterhalten wollen“ (11). Besonders der Brexit und die erheblichen finanziellen Risiken für kleinere Mitgliedsstaaten machen aber ebenso deutlich, dass ein einfacher Austritt auch keine Alternative ist. Was also tun? Der Band sucht nach den „Handlungsperspektiven jenseits des falschen Gegensatzes ‚Reform oder Austritt‘“ (13).

Johannes Jäger öffnet eine Perspektive auf den Prozess der neoliberal überformten europäischen Integration „als Ergebnis von Klassenstrategien und Klassenauseinandersetzungen“ (21). Er kommt zu dem Schluss, dass die Krise der 1980er-Jahre zu zwei parallelen Wirtschaftsweisen innerhalb der Union geführt hat: „Die fehlende Nachfrage in Deutschland […] wurde über gesteigerte Exporte kompensiert, während in der Peripherie der EU vor allem gesteigerte Verschuldung […] für Nachfrage sorgte“ (26). Das entstehende Ungleichgewicht habe sich in die Institutionen eingeschrieben, weil die Kapitalseite gar nicht an einem Gleichgewicht interessiert sein könne.

Peter Wahl zeigt, wie die Kapitalverkehrsfreiheit als Art. 63 der EU-Verträge „quasi in den Verfassungsrang erhoben“ (39) wird und systematisch gegenüber Arbeitnehmerrechten, Steuer- und Umweltrecht privilegiert ist. Der Übergang von der traditionellen Kreditfinanzierung der Konzerne zu einem System der Marktfinanzierung (man kann es sich in etwa so vorstellen wie die Umstellung des Rentensystems vom kapitalgedeckten Spar- zum Umlagesystem) ist aber so gut wie unumkehrbar. Im Gegenteil: Nach den wenigen zaghaften Regulierungen infolge der Krise sind heute mit dem Projekt der Kapitalmarktunion längst wieder alle Zeichen auf weitere Deregulierungen gestellt, so wie es die USA bereits vormachen.

Da die EU-Verträge gleichzeitig, wie Stefan Ederer anmahnt, die direkte Finanzierung von Staatshaushalten durch die Zentralbank verbieten und es keine effektiven Garantien für Staatsanleihen gibt, bleiben die Volkswirtschaften dem freien Fluss des Kapitals ausgeliefert. Jeder Versuch, die Bedingungen an den Produktionsstandorten zu regulieren oder auch nur der Versuch, die Abhängigkeit der Staatshaushalte von den Finanzmärkten zu verringern, wird mit Kapitalflucht bestraft, so der Autor. Aber der EU fehlen nicht nur die Mittel, dagegen konzertiert vorzugehen, sondern auch der Wille: „Anstatt für die Stabilität des Finanzsektors zu sorgen, wie es laut den EU-Verträgen ihre Aufgabe wäre, setzte die EZB diese aufs Spiel, um [nach der Wahl von SYRIZA den] Druck auf die linke Regierung zu erhöhen“ (54). Auch der Druck, mit dem die EU die Freihandelsabkommen TTIP und CETA gegen breitesten Widerstand durchgesetzt hat, zeigt, dass es „keine Bereitschaft für einen ernsthaften Kurswechsel“ (67) gibt.

In der Lohnpolitik wird ebenfalls eine strukturelle Asymmetrie sichtbar: Während Gewerkschaften Fortschritte bei der Schaffung einer europäischen Sozialunion und Sonderregeln für nachhaltige Investitionen fordern, zielen die Strukturanpassungsimperative nicht nur auf einen Erhalt des Status quo, sondern auf eine Schwächung der Gewerkschaften als politische Akteure überhaupt (72). Es sollen nicht nur die Löhne niedrig gehalten, sondern die Verhandlungsfähigkeit der Arbeiter*innenklasse an sich verringert werden. Auf der Ebene der Institutionen hat diese Asymmetrie Tradition: Denn „Sanktionsmechanismen sind ausschließlich bei den Budgetvorgaben, nicht aber bei sozialpolitischen Zielen vorhanden“ (82). Gleichzeitig zeigt sich hier zunehmend ein biopolitischer Charakter der im Frühjahr 2017 verkündeten sozialpolitischen Säule der EU: „Sozialpolitik dient […] nicht mehr der Daseinsvorsorge oder Umverteilung, sondern der Steuerung individueller Verhaltensweisen“ (83).

Elisabeth Klatzer und Christa Schlager zeichnen derweil das „Grundproblem der Frauen- und Geschlechterpolitik der EU“ nach, namentlich „ihre Unterordnung unter die Bedürfnisse des Markts“ (57). Das lässt sich konkret an der politischen Entwicklung der EU und ihrem Krisenmanagement ablesen: Einst war Geschlechterpolitik ein zentrales Thema, weil damit Wettbewerbsnachteile für Frankreich durch eine historisch stärker verankerte Gleichstellung verhindert werden konnten. Seit 1990 werden aber die meisten Gleichstellungsprogramme abgebaut. „Die Kürzungen treffen vor allem Bereiche wie Gesundheit und Soziales, die von großer Bedeutung für Frauen sind“ (59). Der Sozialabbau, beispielsweise bei Kinder- und Pflegeeinrichtungen, wird zu größten Teilen ohne Gegenleistung von Frauen aufgefangen. Emanzipationsprozesse wurden also nicht um ihrer selbst willen, sondern nur so lange vorangetrieben, wie es makroökonomisch sinnvoll erscheint – die Autorinnen schließen daraus die Notwendigkeit, „geschlechtergerechte Perspektiven und Alternativen ‚beyond EU‘ – über die EU hinaus – voranzubringen“ (61). Dass die Lohndiskriminierung auch 60 Jahre nach ihrem Verbot noch nicht abgeschafft ist, lässt stark an der Fähigkeit der EU zweifeln, hier verändernd eingreifen zu können.

Auch das Projekt SYRIZA wird bilanziert: „Druck aufbauen, um ein anderes Europa zu ermöglichen. Im Nachhinein hat sich gezeigt, dass das nicht funktioniert hat. Aus heutiger Sicht hätte die Orientierung lauten müssen, dass man ein anderes Europa nur durchsetzen kann, wenn man der Bevölkerung von Anfang an klar sagt: ‚Wir werden die Wende, die für euch notwendig ist, nicht erreichen, indem einige schlaue Politiker gut verhandeln. Das werden wir nur schaffen, wenn ihr aktiv werdet, mobilisiert und kampfbereit seid‘“ (118).

Attac bezieht hier klar Stellung gegen die populistischen Politikmodelle, die bis heute dominieren, und profiliert sich als echte Alternative von links. Das Netzwerk skizziert das Konzept eines „strategischen Ungehorsams“ (123) und formuliert eine grundlegende Kritik an Reformprojekten wie Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) oder den Vorschlägen eines neuen EU-Verfassungskonvents als „de facto unmöglich“ (124), weil alle Staats- und Regierungschefs und das EU-Parlament dem Vertrag kollektiv zustimmen müssten, und der neue Vertrag zudem noch in jedem Land zu ratifizieren wäre – was undenkbar ist. Möglich wäre deshalb nur eine verfassunggebende Versammlung abseits der bestehenden Verträge. Doch Attac macht sich über die ideologischen Mehrheitsverhältnisse keine Illusionen: „Gäbe es heute einen demokratischen Prozess, würden wir ihn haushoch verlieren.“ Eine solche Versammlung kann daher „nur ein Höhe- oder Endpunkt einer breiten Bewegung, einer sozialen Revolution sein“ (126), auf die daher hinzuarbeiten ist.

In der zweiten Hälfte des Bandes beschäftigen sich die Autor*innen mit den Möglichkeiten, diese Arbeit auf verschiedenen Feldern voranzubringen. Dazu gehören mehrere gute Anläufe, die ideologische Hülle der EU als alternativloses und blütenreines Friedensprojekt zu rekonstruieren und auch „den Gegensatz von ‚pro-‘ und ‚antieuropäisch‘ zu überwinden“ (175). Hinzuweisen ist auch auf einen äußert interessanten Seitenblick auf alternative Suprastaatlichkeit in Südamerika sowie mehrere Interviews aus dem Inneren von Attac. Das Buch markiert eine eindeutige inhaltliche „Linkswende" des Netzwerks und ist damit gleich aus zwei Perspektiven interessant: einerseits als Beitrag zur kritischen Europaforschung sowie andererseits als Dokument der Entwicklungstendenz einer bedeutenden NGO. Da die kurzen Aufsätze leicht zu lesen sind, ist es auch für Einsteiger*innen in die Thematik und für den pädagogischen Gebrauch unbedingt zu empfehlen.

 

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Rezension

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