Skip to main content

Rames Abdelhamid: Die Unübersichtlichkeit der Demokratie. Ein Dilemma spätmoderner Politik

14.12.2018
1 Ergebnis(se)
Autorenprofil
Günter Lipfert
Bielefeld, transcript Verlag 2017 (Edition Politik)

Das Phänomen der Unübersichtlichkeit als Stoff einer sozialwissenschaftlichen Abhandlung ist nicht neu. Bereits in den 1980er-Jahren schrieb Jürgen Habermas hierzu ein Buch (Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985), heute ist die Auseinandersetzung mit der Thematik aktueller denn je. Von der Feststellung ausgehend, dass spätmoderne Politik unübersichtlich sei und die politische Öffentlichkeit somit überlastet, untersucht Rames Abdelhamid, inwiefern sich das Dilemma, dass demokratische Wissensgesellschaften einerseits Komplexität und Kontingenz voraussetzen, andererseits durch jene verkompliziert werden, auflösen lässt.

Dazu setzt sich der Autor im zweiten Kapitel Die Beobachtung der Politik zunächst umfassend mit den für das Verständnis des Problems grundlegenden Kategorien und Begriffen auseinander: Information, Kommunikation, politisches System, politische Öffentlichkeit, Massenmedien, soziale Interaktionssysteme und öffentliche Meinung. Auf dieser Grundlage werden im dritten Kapitel (Unübersichtlichkeit) die Leitbegriffe Komplexität, hier nicht zuletzt zu verstehen als eine intransparente, uneindeutige, politisch zu organisierende Umwelt, die sich einer vollständigen Beschreibbarkeit entzieht, und Kontingenz als ein Folgeproblem des Selektionszwanges der Komplexität, also als Aufgabe, wieder Eindeutigkeit herzustellen, geklärt. Beide Begriffe als Elemente des Phänomens der Unübersichtlichkeit gehen auf Jürgen Habermas zurück.

Anschließend versucht Abdelhamid, die Quellen der Unübersichtlichkeit des Politischen zu verorten. Zu diesen Quellen gehören die funktionale Differenzierung einerseits und die Folgen multiplen Wandels und multipler Kommunikation andererseits. Welche Bedeutung Unübersichtlichkeit für die politische Öffentlichkeit hat, stellt die leitende Frage des fünften Kapitels dar. Im Fokus stehen die Auswirkungen seitens Komplexität und Kontingenz vor dem Hintergrund nicht-konventioneller Themen. Abdelhamid schlussfolgert, dass spätmoderne Demokratien wegen der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen möglicherweise keine aufgeklärte, politisch kompetente Öffentlichkeit mehr voraussetzen können und so ihre essenziellen normativen Bedingungen nicht mehr erfüllen. Im Kapitel Unübersichtlichkeit und politisches Individuum fragt der Autor, wie sich Unübersichtlichkeit auf das politische Subjekt auswirkt. Könnte das Individuum die Instanz sein, von dem eine Beherrschung oder Reduzierung der Unübersichtlichkeit ausgeht? Abdelhamid verneint dies.

Welche Optionen haben demokratische Systeme bei der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen? Abdelhamid jedenfalls bestreitet im Kapitel Perspektiven den vorübergehenden Charakter dieses Phänomens und stellt fest, dass es sich historisch entwickelt und kontinuierlich ausgeweitet hat. Vorangetrieben worden sei dieser Prozess etwa durch Reformation und Schisma, Buchdruck, das intellektuelle Programm der Aufklärung, Dialektik und Modernisierung. Nicht-konventionelle, also nicht eindeutig zurechenbare Themen, die nicht allein durch politisches Denken und Verstehen zu finden seien – Beispiel Ökologie –, verkomplizierten heute die politische Beobachtung und Urteilsbildung. Die Unübersichtlichkeit erfahre noch eine Zunahme durch Prozesse der Spätmoderne und der Globalisierung und werde als Merkmal spätmoderner Demokratien zukünftig weiter wachsen. Kann die spätmoderne Demokratie den im Buch geschilderten Folgen, wie etwa der Entpolitisierung, entgehen? Sie muss es laut Abdelhamid, wenn sie Bestand haben will. Als Antwort auf die Frage nach dem „Wie“ hält der Autor eine gemeinsame Kompetenzsteigerung, auch zu komplizierten Themen, beispielsweise in Aktionsnetzwerken, für unverzichtbar.

Dass Interessenverbände nicht zuletzt dazu dienen, Spezialthemen einer interessierten politischen Öffentlichkeit verständlicher zu machen, kann man auch anderweitig nachlesen. Nicht zuletzt analysiert Ute Scheub dies im Rahmen ihres Plädoyers für die Integration direktdemokratischer oder bürgernäherer Entscheidungsmechanismen in den Politikbetrieb (Ute Scheub: Demokratie. Die Unvollendete. Plädoyer für mehr Teilhabe, oekom Verlag, München 2017). In seinem Buch aber reflektiert Abdelhamid die Ursachen und Folgen von Unübersichtlichkeit breiter.

 

Neueste Beiträge aus
Repräsentation und Parlamentarismus
  • Biblio Link Michael Kolkmann / 19.02.2024

    Gerhard Paul: Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte

    Der Historiker Gerhard Paul hat mit seiner visuellen Geschichte der Bundesrepublik ein Buch vorgelegt, das unseren Rezensenten Michael Kolkmann vollends begeistert. Anhand zahlreicher Fotos und ausfü...
  • Biblio Link Ansgar Drücker / 07.02.2024

    Hendrik Cremer: Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen. Wie gefährlich die AfD wirklich ist.

    Die AfD sei eine rechtsextreme Partei, die sich durch offenen Rassismus, Gewaltbereitschaft und Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus auszeichnet: Zu dieser Bewertung kommt der Jurist Hendrik Cremer...
  • Biblio Link Michael Kolkmann / 18.01.2024

    Martin Fuchs, Martin Motzkau: Digitale Wahlkämpfe. Politische Kommunikation in der Bundestagswahl 2021

    Der Sammelband behandelt die digitalen Wahlkämpfe im Bundestagswahljahr 2021. Die Beitragsautor*innen beleuchten erfolgreiche Kampagnen, Parteien und Kandidat*innen, die von digitaler Kommunikation p...

Aus der Annotierten Bibliografie

 

 


Rezension

Die Welt wird immer komplexer, bei immer sichtbareren Grenzen der Links-Rechts-Erklärungsmuster. Armin Nassehi nähert sich der unübersichtlichen Moderne über eine Wahrnehmung von Welten in Welten, deren unterschiedliche Logiken im Widerstreit miteinander stehen und der Vermittlung bedürfen. Nur so könne sich eine Pluralität der Lebensformen etablieren. Es geht also nicht darum, die eine Wahrheit über die Gesellschaft herauszufinden – diese gebe es nicht. Ein positives Beispiel für den Versuch, zwischen den Perspektiven zu vermitteln, sei die Arbeit des Ethikrats des Bundestags.
weiterlesen

 

Neueste Beiträge aus
Repräsentation und Parlamentarismus
  • Biblio Link Michael Kolkmann / 19.02.2024

    Gerhard Paul: Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte

    Der Historiker Gerhard Paul hat mit seiner visuellen Geschichte der Bundesrepublik ein Buch vorgelegt, das unseren Rezensenten Michael Kolkmann vollends begeistert. Anhand zahlreicher Fotos und ausfü...
  • Biblio Link Ansgar Drücker / 07.02.2024

    Hendrik Cremer: Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen. Wie gefährlich die AfD wirklich ist.

    Die AfD sei eine rechtsextreme Partei, die sich durch offenen Rassismus, Gewaltbereitschaft und Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus auszeichnet: Zu dieser Bewertung kommt der Jurist Hendrik Cremer...
  • Biblio Link Michael Kolkmann / 18.01.2024

    Martin Fuchs, Martin Motzkau: Digitale Wahlkämpfe. Politische Kommunikation in der Bundestagswahl 2021

    Der Sammelband behandelt die digitalen Wahlkämpfe im Bundestagswahljahr 2021. Die Beitragsautor*innen beleuchten erfolgreiche Kampagnen, Parteien und Kandidat*innen, die von digitaler Kommunikation p...