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Manfred Güllner: Der vergessene Wähler. Vom Aufstieg und Fall der Volksparteien

17.07.2018
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Autorenprofil
Dr. Christoph Mohamad-Klotzbach
Marburg, Tectum Verlag 2017

Manfred Güllner zählt zu den profiliertesten Wahlforschern in Deutschland. Als Gründer und Geschäftsführer des Sozialforschungsinstituts forsa begleitet er seit den 1980er-Jahren die Meinungsbildung der deutschen Bevölkerung. Güllner studiert somit seit Jahrzehnten die Interessenlagen der Bundesbürger*nnen. Diese Monografie, die noch vor der Bundestagwahl 2017 erschien, stellt eine besondere Rückschau auf die politische Geschichte Deutschlands dar.

Aus Sicht von Güllner wurden „die Befindlichkeiten und Interessenlagen der Wähler“ (VII) für die Erklärung des Auf- und Abstiegs der Volksparteien von SPD sowie der Union aus CDU und CSU von der Forschung zu wenig berücksichtigt. Deshalb verfolgt er mit seiner Studie zwei Ziele: Erstens soll die Entwicklung der Wahlentscheidungen in Deutschland seit 1945 nachgezeichnet werden. Zweitens möchte er den Versuch unternehmen, den Ausgang der Wahlen in diesem großen Zeitraum zu erklären. Hierfür bedient er sich nicht nur offizieller Wahlergebnisse, sondern greift insbesondere auf unzählige Umfragen bei Wählern und Nichtwählern durch verschiedene Institute (unter anderem Institut für Demoskopie Allensbach, infas und natürlich forsa) zurück.

Struktur des Bandes

Insgesamt besteht das Buch aus zwölf Kapiteln. Es ist chronologisch aufgebaut und beginnt noch vor der Gründung der Bundesrepublik mit der Nachkriegszeit von 1945 und 1949 (Kap. 1). In den darauf folgenden zehn Kapiteln beschreibt er die Ergebnisse von Bundestagswahlen und teilweise auch richtungsentscheidenden Landtagswahlen. Die Kapitelgliederung orientiert sich zumeist an den Amtszeiten der Regierungschefs, wobei es hiervon immer wieder auch Abweichungen aufgrund verschiedener inhaltlicher Schwerpunktsetzungen gibt. Das zwölfte und letzte Kapitel trägt die Überschrift „2017: Volksparteien ohne Volk?“ und kann als Resümee des Bandes, aber auch als Ausblick auf die Bundestagswahl 2017 angesehen werden. Ergänzt wird der Text unter anderem durch zahlreiche Tabellen, Torten-, Linien- und Balkendiagramme, Karikaturen sowie Wahlkampfplakate, die das Buch auflockern und zur Veranschaulichung beitragen. Der Fokus der statistischen Auswertungen liegt auf zwei Aspekten: zum einen der Entwicklung der Wähler*innenanteile von Union und SPD (im Vergleich zu anderen Parteien sowie den Nichtwähler*innen), zum anderen auf ausgewählten Meinungsumfragen, die zum Beispiel die politische Stimmungslage, Einschätzung zu Politiker*innen oder auch politische Einstellungen von Wähler*innen oder Parteimitgliedern wiedergeben.

Das Material für sein Buch, so schreibt Güllner im Vorwort, hat er im Rahmen seiner Lehrtätigkeit an der FU Berlin mit seinen Studierenden erarbeitet. Dabei hat er die Analyse deskriptiv angelegt, das heißt es finden sich im Grunde nur beschreibende Statistik und höchstens einmal bivariate Untersuchungen (zum Beispiel zur sozialen Struktur der NPD-Wähler*innen 1965 oder zur Links-Rechts-Selbsteinstufung der Stammwähler*innen der einzelnen Parteien). Dies hat den Vorteil, dass das Buch auch für eine breitere Öffentlichkeit verständlich angelegt ist.

Kernthese des Bandes

Güllners Kernthese lautet, dass die Volksparteien an ihrem Niedergang selbst schuld seien. Aus seiner Sicht haben sich die Parteistrateg*innen der Union und SPD seit den 1980er-Jahren immer stärker auf Randthemen und -gruppen fokussiert, während sie sich mit den Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Erwartungen der Mehrheit der Deutschen nicht mehr beschäftigt haben. Bis dahin war die Entwicklung umgekehrt, denn zunächst gelang es den Unionsparteien in den ersten beiden Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik, die Wähler*innen von ihrer Politik und ihren politischen Köpfen zu überzeugen. Nach und nach festigte auch die SPD ihre Stellung, vor allem als sie sich in den 1960er- und 1970er-Jahren durch ihre wirtschaftliche Kompetenz im Rahmen des „Schiller-Sog[s]“ (56) zur Mitte der Gesellschaft öffnete.

Wichtig ist Güllner hierbei zu betonen, dass eine Rückbesinnung auf die Interessen der Bevölkerungsmehrheit nicht gleichbedeutend mit politischem Opportunismus sein darf. Denn wenn Parteien ihre Politik vor allem an „Modetorheiten“ (213) ausrichten, müssen sie sich über Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverluste nicht wundern.

Auch den Medien attestiert Güllner in diesem Zusammenhang ein schlechtes Zeugnis (213). Aus seiner Sicht liegt unter anderem in der verzerrten, auf Probleme von Minderheiten fokussierten und durch negative Berichte dominierten Berichterstattung auch eine der zentralen Ursachen für den Vertrauensverlust in die klassischen Medien. Diese sollten sich stattdessen – ohne dabei ihre öffentliche Kontrollfunktion aufzugeben – wieder stärker lösungsorientiert am öffentlichen Diskurs beteiligen.

Interessant sind Güllners Einschätzungen zur Lage der Volksparteien gegen Ende des Buches. Er bricht mit der Einschätzung, dass das größte Problem der ehemals großen Parteien vor allem die Existenz der AfD sei, sondern weist darauf hin, dass gerade sie vor allem systemkritische und demokratiefeindliche Kräfte zu ihrem Kernklientel zählt. Diese Klientel war lange Zeit den dauerhaften Nichtwähler*innen zuzurechnen und stellte somit eine gesellschaftliche Minderheit dar (211-212). Die Erfolge der AfD ähnelten den Erfolgen rechter Parteien wie den Republikanern, der DVU, der NPD oder der Schill-Partei, die immer wieder in Wellen in der bundesrepublikanischen Geschichte aufgetaucht seien. SPD und Union sollten sich daher wieder den Bedürfnissen und Sorgen der Mehrheit der Bevölkerung widmen und auf ihre ursprünglichen Kompetenzen konzentrieren, die Gesellschaft zusammenzuführen.

Das Besondere an diesem Band

Ein großer Gewinn des Buches stellt die nebenbei dargestellte Entwicklung der Meinungsforschung in Deutschland dar. So erfährt man, dass bereits Konrad Adenauer auf die Ergebnisse der öffentlichen Meinungsbefragung zurückgriff. Hierbei bediente er sich vor allem der Expertise des Instituts für Demoskopie Allensbach. Die SPD wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt auf die Potenziale dieses Instruments aufmerksam und arbeitete zunächst mit dem DIVO-Institut, später dann mit dem infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft zusammen (34). Die Analyse der Einstellungen der Bevölkerung – die zunächst eher den Parteien dienten und nicht an die Öffentlichkeit gelangten – trugen im Zeitverlauf zur Demokratisierung der öffentlichen Meinung bei. Denn nach und nach etablierten sich weitere Institute und auch die akademische Forschung mit Umfragedaten wurde zunehmend populärer.

Des Weiteren zeigt die Studie nicht nur die grundlegenden Partei- und Themenpräferenzen der Bundesbürgerinnen und -bürger. Es wird zudem deutlich, wie wichtig personelle Entscheidungen im Hinblick auf Wahlerfolge sein können. Dies mussten sowohl die SPD (Kiesinger vs. Brandt; Lafontaine vs. Kohl) als auch die Union (Schmidt vs. Strauß, Schmidt vs. Kohl) erfahren.

Drittens gelingt es Güllner, auch die Nichtwähler*innen ins Zentrum der politischen Analyse zurückzuholen. Während 1949 ihr Anteil bei 23,9 Prozent lag, sank er auf einen historischen Tiefpunkt im Jahr 1972 auf 9,7 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2009 jedoch lag ihr Anteil bei 30,2 Prozent (194). Dies zeigt, wie sehr die Parteien von Union und SPD an Bindekraft verloren hatten.

Fazit

Güllners Untersuchung zeigt, dass in der jungen Bundesrepublik die Demokratie zunächst keinen hohen Stellenwert besaß, sondern hauptsächlich die Verbesserung der ökonomischen Lage der Bevölkerung im Vordergrund stand. Dies sollte man sich gerade bei der Beobachtung jüngerer Transformationsprozesse wie etwa in der arabischen Welt bewusst machen, denn neue politische Strukturen und die in ihnen handelnden politischen Akteure müssen sich Vertrauen erst verdienen, was insbesondere nur durch effektives Regieren gelingen kann.

Des Weiteren schildert Güllner detailliert, wie es zunächst der Union und später auch der SPD zunehmend gelang, die Bevölkerung für ihre Politik – und damit auch indirekt für die deutsche Demokratie und ihre Institutionen – zu begeistern. Die Parteien dienten bis in die 1970er-Jahre hinein als die zentralen Säulen für die Inklusion der Bürger*innen und ihrer politischen Präferenzen in das politische System. Ab den 1980er-Jahren kippte diese Entwicklung und es gelang den beiden Parteien immer weniger, diese Bindekraft aufrechtzuerhalten. Dies wird insbesondere an der Entwicklung des Anteils der Nichtwähler*innen zwischen 1949 und 2013 deutlich.

Zugleich kann der Band indirekt als Werbung für die Meinungsforschung gesehen werden (auch wenn dies an keiner Stelle expliziert wird), denn deren Relevanz für das politische Geschehen, insbesondere für die Wahl- und Parteienforschung, wird durch Güllners Ausführungen offensichtlich.

Um an den Titel des Buches anzuknüpfen, bleibt in gewisser Weise Güllners Hoffnung, dass sich Union und SPD wieder mehr der Mehrheit der Wähler*innen „erinnern“. Denn diese wiederum vergessen offenbar weniger und wollen von den Parteien wieder ernst genommen werden. Gelingt es den Parteien nicht, eine Umkehrung herbeizuführen, so könnte aus der Krise der Volksparteien langfristig eine ernsthafte Krise der Demokratie resultieren.

 

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Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2013 (uni studien politik 54); 143 S.; 9,80 €; ISBN 978-3-89974883-3
In fünf Beiträgen werden „in einem zeitlichen Längsschnitt Traditionslinien und Veränderungen von Bundestagswahlen“ (9) ausgeleuchtet. Uwe Andersen richtet seinen Blick auf das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag. Dieses sei durch ein hohes Maß an Kontinuität charakterisiert und habe auch im Ausland viel Anerkennung erfahren. Er kritisiert, dass die Grundelemente des Wahlsystems bisher nicht im Grundgesetz verankert worden seien und damit weiter zur Disposition einer einfachen Mehrheit...weiterlesen

 

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Düsseldorf: Droste Verlag 2007 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 149); 562 S.; Ln., 74,80 €; ISBN 978-3-7700-5281-3
Diss. Bochum; Gutachter: K. Tenfelde, F. Bösch. – In der politikgeschichtlichen Untersuchung wird der Frage nachgegangen, wie die empirische Meinungsforschung nach der Gründung der Bundesrepublik ihre Position als Darstellerin der öffentlichen Meinung für Parteien wie Medien erlangte und welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Politik und die politische Kommunikation bis zur Wiedervereinigung hatte. Nach einer kurzen Einleitung, die das Instrumentarium vorstellt, mit dem die Verfasse...weiterlesen

 

Elmar Wiesendahl

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Opladen u. a.: Verlag Barbara Budrich 2011; 240 S.; 19,90 €; ISBN 978-3-86649-385-8
Das bundesdeutsche Parteiensystem ist erkennbar im Umbruch. Sichtbarstes Zeichen ist die Erosion der Volksparteien. Elmar Wiesendahl ordnet diesen Niedergang in eine längerfristige Perspektive ein. So skizziert er zunächst den Aufstieg von CDU, CSU und SPD zu den dominierenden Parteien der Bundesrepublik. In Abgrenzung zu Otto Kirchheimers These von den Catch All-Parteien arbeitet er heraus, dass alle drei Parteien ein sehr spezifisches Verständnis von Volkspartei haben und dass es trotz der Ann...weiterlesen

 

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Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration

Bielefeld: transcript 2009 (xtexte); 132 S.; 14,80 €; ISBN 978-3-8376-1141-0
Der in Göttingen lehrende Politikwissenschaftler Walter zeichnet in diesem Essay den gegenwärtigen, durchaus prekären Zustand der beiden Volksparteien nach. Verglichen mit seiner 2000 gemeinsam mit Tobias Dürr publizierten Diagnose („Die Heimatlosigkeit der Macht“ [siehe ZPol-Nr. 14040]) hat sich der Erosionsprozess dieser Form politischer Massenintegration beschleunigt. Beide Parteien verlieren kontinuierlich Mitglieder, Wähler und Reputation und sind aus sich heraus nicht mehr mehr...weiterlesen


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