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Das Ende von Jamaika: Große Koalition – nein danke! Regierungsoptionen und die Selbstwahrnehmung der SPD

27.11.2017
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Prof. em. Dr. Oscar W. Gabriel

 Foto: wir marketing / pixabay

 

Aufgrund des Abbruchs der Verhandlungen über die Bildung einer Jamaika-Koalition durch die FDP scheiterte erstmals seit der Gründung der Bundesrepublik der erste Anlauf zur Bildung einer Bundesregierung. Umgehend breitete sich in der Öffentlichkeit eine alarmistische Grundstimmung aus. Interessanterweise wurden manche Kassandrarufe über das Ende der politischen Stabilität der Bundesrepublik oder gar über die Gefährdung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union von jenen artikuliert, die zuvor die fehlenden programmatischen Unterschiede zwischen den deutschen Parteien beklagt, die politische Stabilität als Anzeichen einer Sklerose kritisiert und die Dominanz Deutschlands innerhalb der Europäischen Union angeprangert hatten. Wenn man einen Blick auf die komplizierten Prozesse der Regierungsbildung in unseren Nachbarländern Belgien und den Niederlanden wirft, dann erscheint die Aufregung über die gegebene Lage ebenso überraschend wie der Ruf nach einer Neuauflage der Großen Koalition. Deshalb ist es sinnvoll, die Entwicklung nach der Bundestagswahl und deren Auswirkungen auf die Bildung einer neuen Regierung genauer zu beleuchten und die folgenden Fragen zu stellen: Kam das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen wirklich überraschend? Befindet sich die Bundesrepublik infolgedessen in einer politischen Krise und welche Wege könnten aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten herausführen?

Warum scheiterten die Sondierungsgespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition?

Seit 1949 wurden in Deutschland die Weichen für die Regierungsbildung in der Regel in Wahlkämpfen und den darauf folgenden Wahlen gestellt. Zumeist war klar, welche Parteien miteinander die Regierung bilden wollten und ob das Wählervotum die Realisierung dieser Absicht zulassen würde. Dies stellte sich bei der Bundestagswahl 2017 anders dar – mit den bekannten Problemen nach der Wahl.

Anders als in früheren Kampagnen war keine der potenziellen Regierungsparteien mit einer klaren Koalitionsaussage in den Bundestagswahlkampf eingetreten. Nur wenige Bündnisse waren explizit ausgeschlossen worden, keines wurde klar favorisiert. Die bereits vor dem Wahltag unübersichtliche Gemengelage gestaltete sich nach dem Wählervotum am 24. September nicht einfacher. Bei keiner seit 1953 durchgeführten Bundestagswahl waren so viele Parteien in den Deutschen Bundestag gewählt worden wie 2017, und niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hatten als nicht koalitionsfähig eingestufte Parteien einen ähnlich hohen Anteil an Parlamentssitzen errungen. Die aufgrund des Wählervotums gestiegene Fraktionalisierung und Polarisierung des deutschen Parteiensystems hat von vorneherein den Spielraum für die Bildung möglicher Regierungsbündnisse beschränkt. Eine von einer Parlamentsmehrheit getragene Regierung kann nur durch eine Fortsetzung der Großen Koalition oder durch ein Bündnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen gebildet werden. Nach der Ankündigung des SPD-Vorsitzenden Martin Schulz, die Große Koalition auf keinen Fall fortsetzen zu wollen, war die Mehrheitsbildung auf der Grundlage einer Jamaika-Koalition alternativlos geworden.

Dass die Realisierung eines derartigen Regierungsbündnisses nicht problemlos möglich sein würde, war von vorneherein zu erwarten. Keiner der möglichen Regierungspartner hatte diese Variante im Wahlkampf als wünschenswert dargestellt. Nicht nur die unterschiedlichen, teils sogar gegensätzlichen Aussagen der möglichen Partner, etwa zur Migrations-, zur Steuer- und zur Klimapolitik, bildeten hohe Hürden auf dem Weg zu einem schwarz-gelb-grünen Regierungsbündnis. Auf allen diesen Feldern standen die Vorstellungen der Grünen diametral denen der FDP und der CSU gegenüber. Zwar konnte die CDU-Führung eine Vermittlerrolle zwischen den Kontrahenten spielen, jedoch war die Parteibasis in den meisten dieser Fragen gespalten. Auf anderen Politikfeldern, von der Landwirtschaft über die Bildung bis zur Außenpolitik, blieben die programmatischen Gemeinsamkeiten zwischen den potenziellen Regierungspartnern ebenfalls begrenzt, mit zum Teil anders verlaufenden Konfliktfronten zwischen den Parteien. Weitere, nicht zu unterschätzende Erschwernisse lagen in der kulturellen Fremdheit der Partner und in fehlenden Erfahrungen mit einer von wechselseitigem Vertrauen getragenen Zusammenarbeit. Die Notwendigkeit, in pluralistisch strukturierten Parteien Unterstützung für das unerwartete und nicht angestrebte Bündnis zu gewinnen, vereinfachte den Verhandlungsprozess nicht. Wegen der programmatischen Differenzen und der atmosphärischen Probleme wäre schon die Bildung einer Zweierkoalition kein einfacher Prozess gewesen. Das Schmieden eines Bündnisses aus drei beziehungsweise vier politisch sehr unterschiedlich positionierten Partnern war um ein Vielfaches schwieriger.

Infolge der schwierigen Ausgangslage begannen die Sondierungsgespräche spät, denn vor dem Beginn der Gespräche mit der FDP und den Grünen mussten sich die CDU und CSU zunächst auf einheitliche Positionen verständigen. Um mögliche Verhandlungsergebnisse innerparteilich durchsetzbar zu machen, schlossen die Sondierungen zwischen den vier Parteien eine außergewöhnlich große Zahl von Akteuren ein, die möglichst alle innerparteilichen Strömungen repräsentieren sollten. Dass dieses Gesprächsformat den Ablauf der Verhandlungen nicht erleichterte, liegt auf der Hand. In der ersten Phase wurden die zahlreichen Dissenspunkte aufgelistet, die Suche nach Übereinstimmungen und Kompromissen erwies sich als mühsam und zeitraubend. Das ernsthafte Bemühen aller Beteiligten um die Bildung einer gemeinsamen Regierung wurde immer wieder durch Drohungen, Anschuldigungen und Indiskretionen konterkariert.

Meldungen über Fortschritte bei den Verhandlungen wechselten sich mit solchen über Stagnation und Rückschritte ab. Noch in der letzten Sondierungswoche forderten Spitzenpolitiker der Grünen angesichts der eigenen Zugeständnisse an die Verhandlungspartner ein Entgegenkommen von CDU, CSU und FDP ein. Auf der anderen Seite beklagte die FDP wiederholt, sie stehe einer Phalanx aus Union und Grünen gegenüber und könne in dieser Konstellation die dringend benötigte politische Wende nicht durchsetzen. Diese Befürchtung prägte schließlich die öffentlich vorgetragene Begründung des Abbruchs der Sondierungsgespräche durch die FDP. Dennoch hinterließen die Sondierungsgespräche den Eindruck, dass alle Parteien ernsthaft die Grundlagen einer Zusammenarbeit in der Regierung prüften. Die Schwierigkeit und Komplexität dieser Aufgabe war ursächlich für den langwierigen und schwierigen Aushandlungsprozess, dessen Ergebnisse die Verhandlungspartner am Ende unterschiedlich bewerteten. Obgleich in den Verhandlungen tragfähige Kompromisse für die Ausgestaltung eines gemeinsamen Regierungsprogramms erzielt wurden, waren die programmatischen und kulturellen Differenzen zwischen den möglichen Regierungspartnern so groß, dass ein Scheitern der Gespräche von Anfang an einkalkuliert werden musste.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob die Verweigerungshaltung der SPD oder der FDP oder eine unzulängliche Verhandlungsführung der Bundeskanzlerin letztlich maßgeblich dafür sind, dass zwei Monate nach der Bundestagswahl die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung immer noch nicht in Sicht ist. Die aktuelle Lage lässt sich aus den objektiven Bedingungen und den divergierenden Interessen der demokratischen Parteien heraus erklären, und nur bei deren Berücksichtigung lassen sich Auswege aus der schwierigen Situation finden.

Welche Handlungsmöglichkeiten existieren, mit welchen Problemen sind sie verbunden und wie könnte eine Regierung zustande kommen?

Die Woche nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition war von intensiven Diskussionen innerhalb der Parteien, zwischen dem Bundespräsidenten und den für eine Regierungsbildung infrage kommenden Parteien geprägt. In diesen Gesprächen zeichnen sich einige neue Optionen ab, jedoch werden auch wieder Lösungen diskutiert, die zuvor nicht gangbar erschienen. Die Frage, welche Möglichkeiten zur Regierungsbildung verblieben sind und eine Realisierungschance haben, setzt zunächst eine Klärung der Interessenlage der potenziellen Regierungspartner voraus. Erst auf der Basis einer solchen Klärung macht eine Diskussion darüber Sinn, die Vorzüge und Probleme der verschiedenen Regierungsbündnisse einer vergleichenden Bewertung zu unterziehen.

Ein großes Interesse am Eintritt in eine Regierung bekundeten während der Sondierungsgespräche nur die CDU/CSU und die Grünen. Aus dieser Motivationslage heraus zeigten vor allem die CDU und die Grünen während der Verhandlungen eine größere Kompromissbereitschaft als die CSU und die FDP. Ungeachtet ihrer starken Verluste bei der Bundestagswahl leitet die Union aus dem Wählervotum einen Auftrag zur Regierungsbildung ab, und diese Rolle entspricht ihrem politischen Selbstverständnis als einer pragmatisch ausgerichteten Regierungspartei. Die Grünen streben nach zwölf Jahren Oppositionstätigkeit wieder in die Regierung, zwar nicht um jeden Preis, aber doch mit großer Energie. Für die CDU und die Grünen ist eine gemeinsame Regierungsarbeit mittlerweile gut vorstellbar, nicht zuletzt aufgrund positiver Erfahrungen in Hessen, Baden-Württemberg und zahlreichen Kommunen.

Die SPD könnte derzeit nur als Juniorpartner in eine große Koalition eintreten. Zwar hatte die Parteiführung diese Option bereits kurz nach dem Schließen der Wahllokale zurückgewiesen, derzeit steht sie aber von mehreren Seiten unter großem Druck, diese Entscheidung zu korrigieren. Dem stehen nicht allein die bisher erfolgten Festlegungen im Wege, sondern auch längerfristig wirkende Faktoren. Die größte Barriere für eine Zusammenarbeit mit der Union stellen die innerhalb der SPD bestehenden ideologischen Gegensätze dar. Der linke Parteiflügel favorisiert schlicht und einfach eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei und den Grünen, weil seine Exponenten davon überzeugt sind, in einer derartigen Konstellation ihre ideologischen Ziele durchsetzen zu können.

Die mangelnde Unterstützung eines solchen Regierungsbündnisses durch die Wählerschaft und die damit verbundenen geringen Realisierungschancen hindern Vertreter des linken Parteiflügels nicht daran, weiterhin von einem rot-rot-grünen Projekt zu träumen. Die fortbestehende Lagerbildung innerhalb der SPD wird es dauerhaft erschweren, in der Partei Mehrheiten für die Bildung Großer Koalitionen zu gewinnen. Hinzu kommt die in der Partei weit verbreitete Fehlperzeption des Ertrags ihrer bisherigen Arbeit in Großen Koalitionen. Obgleich die SPD, insbesondere in der vergangenen Legislaturperiode, die Regierungsarbeit stark prägte, äußern Parteivertreter immer wieder die Einschätzung, die Erfolge der Regierung würden stets dem größeren Partner zugeschrieben, während die Wähler die Sozialdemokraten für ihre Mitarbeit in einer unionsgeführten Regierung durch Stimmenverluste bestraften. Diese Deutung ist generell problematisch und greift als Erklärung des schlechten Abschneidens der SPD bei der Bundestagswahl 2017 viel zu kurz. Ihre Arbeit als Regierungspartei wurde von den Wählern nur unwesentlich schlechter bewertet als die der CDU und besser als die der CSU. Im Gegensatz zu dieser öffentlichen Stimmungslage verzichtete die SPD während des Wahlkampfes darauf, mit ihren Erfolgen in der Regierungsarbeit zu werben. Ihre Wahlkampstrategie glich der einer Oppositionspartei. Neben der außergewöhnlich geringen Zustimmung zum Kanzlerkandidaten und offenbar an den Präferenzen der Wähler vorbeigehenden programmatischen Angeboten war dieses Verhalten ursächlich für die Wahlniederlage der SPD. Mit ihrer Rolle als Juniorpartner der Union hatte sie nur wenig zu tun.

Wie das Beispiel der Bundestagswahl 1969 zeigte, kann die Beteiligung an einer Großen Koalition bei einer Kapitalisierung im Wahlkampf für die SPD deutliche Stimmengewinne bringen und den Weg zur Position der führenden Regierungspartei ebnen. Auch bei der Bundestagswahl 2013 war sie als Oppositionspartei kaum erfolgreicher als bei den 2009 und 2017 durchgeführten Wahlen, die sie aus der Position einer Regierungspartei bestritt. Zudem fielen die nach Großen Koalitionen durchschnittlich zu verzeichnenden Stimmenverluste der SPD mit 4,3 Prozentpunkten sogar etwas niedriger aus als die der Union (5,8 Prozentpunkte). Da subjektive Wahrnehmungen und Situationsbewertungen das Handeln von Akteuren stärker beeinflussen als vermeintlich objektive Tatbestände, ist es nachvollziehbar, dass die SPD statt einer erneuten Regierungsbeteiligung eine programmatische und personelle Regeneration in der Rolle der Opposition anstrebte. Ob eine Erneuerung der Partei nur in der Opposition möglich sein wird, ist ebenso zu bezweifeln wie die Annahme, dass die innerparteilichen Konflikte einen einheitlichen Kurs bei diesem Bemühen überhaupt zulassen werden.

Die FDP hatte bereits im Wahlkampf betont, die Übernahme einer Oppositionsrolle sei für sie nicht weniger attraktiv als der Eintritt in eine Regierung. Den Ausstieg aus den Regierungsgesprächen hatte sie mit dem Einlösen ihrer Wahlversprechen und daraus resultierenden Vorbehalten gegen die angestrebte Ausrichtung einer künftigen Regierungspolitik begründet. Ihre Bedenken reflektierten die als negativ eingestuften Erfahrungen mit der Regierungsarbeit in den Jahren 2009-2013 und gründeten sich auf die Befürchtung, in der Regierungsarbeit zwischen der Union und den Grünen zerrieben zu werden. In Abwägung ihres Bemühens um eine programmatische und personelle Konsolidierung der Partei und der Mitgestaltung der Regierungspolitik entschied sich die FDP für die Alternative, die die Parteiführung als tragfähiger für die Bestandssicherung der Partei einstufte. Diese Entscheidung kann man kritisieren, sie ist aber aus der Interessenlage der FDP-Spitze heraus nachvollziehbar.

Was bedeuten diese unterschiedlichen Interessenlagen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen für die angestrebte Bildung einer arbeitsfähigen Regierung? Die prinzipiell bestehende Möglichkeit einer Neuauflage der Gespräche zwischen der CDU/CSU, der FDP und den Grünen würde kaum zu anderen Ergebnissen führen als die bisherigen Verhandlungen, sie hat keine Realisierungschancen und muss deshalb nicht weiter erörtert werden.

In der vergangenen Woche hat die SPD ihre ursprünglich klare Absage an eine erneute Zusammenarbeit mit der Union aufgeweicht. Derzeit werden innerhalb der SPD drei Varianten einer derartigen Kooperation diskutiert, die Tolerierung einer unionsgeführten Minderheitsregierung, der Eintritt in eine Große Koalition oder die Bildung einer Kenia-Koalition aus Union, SPD und Grünen. Für keine dieser Varianten zeichnet sich derzeit eine klare Präferenz ab. Der Vorschlag zur Bildung einer „übergroßen“ Kenia-Koalition erfüllt vermutlich die Funktion eines Placebos für Kritiker der Großen Koalition. Er macht weder für die Union noch für die Grünen Sinn, ist zur Bildung einer Mehrheitsregierung nicht nötig, wurde von den Grünen bereits zurückgewiesen und erscheint aus allen diesen Gründen wenig realistisch.

Für eine Zusammenarbeit von Union und SPD bleiben somit zwei realistische Alternativen: die Bildung einer Großen Koalition oder die Tolerierung einer unionsgeführten Minderheitsregierung durch die SPD. Auf den ersten Blick scheint viel für die erste Variante zu sprechen. Eine Große Koalition würde über eine solide Mehrheit im Bundestag verfügen, sie ist erprobt und hat in den Jahren 1966-1969, 2005-2009 und 2013-2017 in der Einschätzung der Wähler gute Arbeit geleistet. Nach den bisherigen Erfahrungen dürfte sie weder an unüberbrückbaren politischen Gegensätzen noch einem mangelnden Rückhalt in der Öffentlichkeit scheitern.

Allerdings ist eine solche Zusammenarbeit für die Union attraktiver und leichter umsetzbar als für die SPD. Die CDU/CSU hatte weder im Wahlkampf noch am Wahlabend eine Zusammenarbeit mit der SPD ausgeschlossen. Sie steht auch derzeit nicht vor der Schwierigkeit, ihrer Wählerschaft und ihrer Parteibasis ein solches Bündnis argumentativ vermitteln zu müssen. Ihre Rolle als Seniorpartner kann ihr die SPD nicht streitig machen. Der kurzfristig für eine erneute Große Koalition zu zahlende Preis wären weitgehende politische Zugeständnisse an die SPD. Dies enthält keine völlig neue Zumutung an die Partei, denn schon bei der Regierungsbildung 2013 hatte die SPD dem Regierungsprogramm ihren Stempel aufgedrückt und war in den Verhandlungen über die Vergabe der Ressorts außerordentlich erfolgreich. Da sich die Union, insbesondere die Parteivorsitzende, derzeit in einer erheblich schlechteren strategischen Position befindet als vor vier Jahren, dürfte sie dazu bereit sein, einen hohen Preis für die Erneuerung ihres Bündnisses mit der SPD zu zahlen. Eine offene Frage ist allerdings, wie die Parteibasis auf sehr weitgehende Konzessionen reagieren wird, die von Kritikern der Parteiführung als weiteres Zeichen einer Sozialdemokratisierung der CDU dargestellt werden könnte. Die möglichen Sollbruchstellen stehen bereits im Raum: eine weitere Erhöhung des Mindestlohns und die Einführung einer Bürgerversicherung. Einen großen Unsicherheitsfaktor für die Bildung einer Großen Koalition mit starkem sozialdemokratischem Profil stellt die bayrische Landtagswahl im kommenden Jahr dar, insbesondere im Falle schwerer Verluste der CSU.

Die SPD befindet sich in einer noch ungünstigeren Ausgangslage als die Union. Das Abrücken von ihrer bisherigen Weigerung, erneut in eine unionsgeführte Regierung einzutreten, wirft ganz sicher ein Glaubwürdigkeitsproblem auf. Durch ihre Aussage, die Große Koalition sei bei der Bundestagswahl abgewählt worden, und durch das propagierte Ziel, die Partei in der Opposition strukturell, personell und programmatisch zu erneuern, hat die SPD zusätzliche, hohe Hürden auf den Weg zu einer Großen Koalition gestellt. Da sich der Parteivorsitzende bei diesen Interpretationen und Forderungen besonders exponierte, ist es kaum vorstellbar, dass er seine Partei in eine Große Koalition wird führen können. Abgesehen von der Notwendigkeit, die Abkehr von der bisherigen Position durch die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden abzusichern, dürfte sich die Parteibasis nur durch das bereits beschriebene stark sozialdemokratisch geprägte Profil einer künftigen Regierungspolitik für eine Neuauflage der Großen Koalition gewinnen lassen. Doch selbst extrem erfolgreiche Koalitionsverhandlungen dürften dem Schritt der SPD in die Regierung nicht ohne Weiteres die Zustimmung eines Sonderparteitages oder eines Mitgliederentscheides sichern; die Glaubwürdigkeitslücke bliebe bestehen.

Die Folgerung aus diesen Überlegungen ist klar: Eine Große Koalition ist machbar, sie würde in der Sache vermutlich gute Arbeit leisten, aber ihre Bildung wäre für beide Parteien mit einem hohen politischen Preis verbunden. Gibt es also bessere Argumente für die Bildung einer Minderheitsregierung? Diese Form der Regierungsbildung stößt derzeit in Deutschland auf große Skepsis, allerdings sind die gegen eine Minderheitsregierung vorgetragenen Argumente von unterschiedlicher Überzeugungskraft.

Die wichtigsten Einwände gegen die Bildung einer Minderheitsregierung basieren auf der impliziten Annahme, diese Konstruktion sei per se instabil und erschwere eine effektive Erfüllung der Staatsaufgaben. Dabei wird allerdings übersehen, dass sich in der deutschen Regierungspraxis mehrheits- und konsensdemokratische Elemente miteinander mischen, die faktisch eine Mitwirkung der demokratischen Oppositionsparteien an der Gesetzgebung und der Gestaltung der Regierungspolitik mit sich bringen. Selbst wenn diese Parteien keine Regierungskoalition bilden, arbeiten sie bei der Gestaltung der staatlichen Politik in vielerlei Hinsicht zusammen. Dies findet insbesondere in den Parlamentsausschüssen und in Abstimmungen zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat statt. Bekanntlich verlässt kaum ein Gesetz den Bundestag in der Form, in der es von der Regierung in die Beratungen eingebracht wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wodurch sich die Gestaltung der staatlichen Politik durch eine Minderheitsregierung grundsätzlich von der unter Mehrheitsregierungen geübten Praxis unterscheidet.

Angesichts der mehrheitsdemokratischen Traditionselemente im deutschen Regierungssystem stünde eine Minderheitsregierung vor allem vor zwei Herausforderungen: Sie muss die für das Zustandekommen erforderliche Mehrheit und eine Mehrheit für die Verabschiedung des Bundeshaushaltes finden.

Beide Probleme sind keineswegs unlösbar. Eine Minderheitsregierung kommt dann zustande, wenn der vom Bundespräsidenten für das Amt des Bundeskanzlers vorgeschlagene Kandidat im ersten oder zweiten Wahlgang die absolute oder im dritten Wahlgang die relative Mehrheit der Stimmen erhält. Im ersten Falle ist es notwendig, dass Abgeordnete nicht in der Regierung vertretener Parteien den vorgeschlagenen Kandidaten wählen, im zweiten Fall ist es notwendig, dass sie sich der Stimme enthalten. Besser mit der wettbewerbsdemokratischen Tradition der Regierungsbildung in Deutschland wäre die Wahl des Bundeskanzlers im dritten Wahlgang vereinbar, und dies ist auch leichter auszuhandeln als eine aktive Unterstützung im ersten oder zweiten Wahlgang.

Das zweite kritische Problem für die Arbeit einer Minderheitsregierung stellt die Verabschiedung des Bundeshaushaltes dar. Ohne einen vom Parlament verabschiedeten Haushalt sind die Regierung und der Staat nicht handlungsfähig. Da der Haushaltsplan auch als Regierungsprogramm in Zahlen gilt, tragen die Regierung und die Opposition aus Anlass der Verabschiedung des Haushaltgesetzes eine öffentliche Auseinandersetzung über die Ziele und Wege der Regierungspolitik aus. Dem steht nicht im Wege, dass der Bundeshaushalt in einem Zusammenspiel zwischen der Regierung und dem Parlament erarbeitet wird. In diesem Abstimmungsprozess spielt der Haushaltsausschuss, in dem die Opposition traditionell den Vorsitz führt, eine Schlüsselrolle. Die Opposition übt demnach öffentlich Kritik an der Haushaltspolitik der Regierung, bringt aber in die parlamentarischen Beratungen des Bundeshaushalts ihre Vorstellungen ein und ist in den Entscheidungsprozess eingebunden.

Aus diesen institutionellen Rahmenbedingungen und den in der bisherigen Regierungspraxis entstandenen Traditionen ergeben sich bei der Bildung einer Minderheitsregierung zwei Erfordernisse: Erstens sollte die Zahl der Parlamentsmandate, auf die sich die Regierung stützen kann, nicht allzu weit unterhalb der Kanzlermehrheit liegen. Dies spricht gegen eine Alleinregierung der Union und für die Bildung einer Regierung unter Einschluss der Grünen oder der FDP. Zweitens müsste eine Minderheitsregierung ein formales oder informelles Tolerierungsabkommen mit mindestens einer Oppositionspartei abschließen, das die Wahl des Bundeskanzlers im dritten Wahlgang ebenso sicherstellt wie die Zustimmung zum Bundeshaushalt. Zu diesem Zweck müssten die in einer Minderheitsregierung vertretenen Parteien den tolerierenden Oppositionsparteien hinlänglich starke Anreize für eine punktuelle Unterstützung der Regierungsarbeit bieten. Diese ist vermutlich leichter zu gewinnen, wenn sich ein Tolerierungsabkommen nicht ausschließlich auf die Kanzlerwahl und die Verabschiedung des Bundeshaushaltes erstreckt, sondern zusätzlich einige wichtige Gesetzgebungsvorhaben einschließt, in deren Gestaltung die tolerierende Fraktion ihre Vorstellungen einbringen kann. Jenseits dieses Mindestmaßes an punktueller Kooperation mit mindestens einer Oppositionspartei müsste sich die Regierung fallweise die Unterstützung ihrer Gesetzesvorhaben durch die Parlamentsmehrheit beschaffen. Aus den genannten Gründen dürfte dies kein unlösbares Problem sein.

Bleibt die Frage, welches der möglichen Kooperationssysteme die größten Realisierungschancen verspricht. Da die Jamaika-Verhandlungen bereits auf zahlreichen Gebieten eine Übereinstimmung zwischen der Union, der FDP und den Grünen hervorgebracht haben, liegt es nahe, zunächst die Bildung einer von der FDP tolerierten schwarz-grünen Koalition in den Blick zu nehmen. Die beiden möglichen Partner einer solchen Regierung würden gemeinsam 313 Abgeordnete stellen und damit nur 42 Mandate unter der Kanzlermehrheit liegen. Beide Gruppierungen hatten in den Sondierungsgesprächen über Jamaika bereits ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit dokumentiert und auf vielen Politikfeldern entsprechende Vereinbarungen erzielt. Aufgrund des langen Vorlaufes wäre nicht mehr mit langwierigen und komplizierten Koalitionsverhandlungen zu rechnen. Die entscheidende Frage bei der Realisierung eines solchen Modells betrifft die Bereitschaft der FDP zur punktuellen Tolerierung einer schwarz-grünen Minderheitsregierung. Diese Konstellation ist für die FDP keineswegs unattraktiv, weil sie an ihrer Entscheidung zum Gang in die Opposition festhalten, gleichzeitig aber wichtige Einzelziele durchsetzen und staatspolitische Verantwortung demonstrieren könnte. Zusätzlich hätte diese Lösung den Charme, der SPD ein Glaubwürdigkeitsdilemma zu ersparen und ihr die Übernahme der Rolle der führenden Oppositionspartei zu ermöglichen. Aus diesem Grunde ist der Tolerierung einer schwarz-grünen Minderheitsregierung durch die FDP der Vorzug vor einer Tolerierung durch die SPD zu geben. Gegen eine aus Union und FDP gebildete Minderheitsregierung sprechen keine grundsätzlichen Bedenken, sondern die geringeren Realisierungschancen.

Zwar scheint die Bildung einer Großen Koalition vordergründig der leichteste Weg aus den gegenwärtigen Schwierigkeiten zu sein. Diese Lösung scheint stabilere Verhältnisse zu versprechen als die Bildung einer unionsgeführten Minderheitsregierung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Alternative durchsetzt, ist folglich groß. Aber: Das ist eine mutlose Lösung, die zudem die Eigenschaften der Politikgestaltung in Deutschland nicht hinlänglich berücksichtigt und die hohen politischen Kosten einer Neuauflage der Großen Koalition vernachlässigt. Wie man es dreht und wendet, für die SPD bedeutet der Eintritt in eine unionsgeführte Regierung einen Verlust an Glaubwürdigkeit, selbst wenn in Sachfragen große Verhandlungserfolge erzielt wurden. Ob diese ausreichen, die Kritiker einer Großen Koalition zu befrieden, sei dahingestellt. Die Union wird umso stärker mit innerparteilichen Auseinandersetzungen über eine weitere Sozialdemokratisierung konfrontiert sein, je höher der Preis ist, den sie der SPD für den Eintritt in die Regierung zahlt. Als größte Oppositionspartei wird sich die AfD die damit verbundene Profilierungschance nicht entgehen lassen. Große Koalitionen führten bisher zu Stimmenverlusten beider Partner. Nutznießer einer neuerlichen Großen Koalition dürften in erster Linie Rechts- und Linkspopulisten sein. Dieser Preis ist zu hoch.

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