Annäherung an ein Phänomen. Gesellschaftlicher Wandel und Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern
27.10.2017
Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und rechte Gewalt sind selbstverständlich keineswegs rein ostdeutsche Phänomene – die AfD wurde von einem Hamburger Professor gegründet, die Republikaner zogen im Sommer 1989 mit allein westdeutschen Stimmen in das Europäische Parlament ein, das Attentat auf das Oktoberfest 1980 wurde von einem bayrischen Neonazi verübt. Trotzdem ist festzustellen, dass gegenwärtig politische Strömungen weit rechts der Mitte in den neuen Bundesländern auf eine deutliche Resonanz stoßen, die über die im Westen hinausgeht: Auf Mecklenburgs Campingplätzen können Neonazis ungestört feiern und Urlauber verschrecken, bei der Wahl zum Schweriner Landtag 2017 entpuppte sich Usedom als Hochburg der AfD, die dann bei der Bundestagswahl mit 27 Prozent in Sachsen gar stärkste Partei wurde. Zu erwähnen ist auch der NSU, dessen drei Mitglieder aus Jena stammten und die ihre Mordopfer – mit einer Ausnahme – im Westen suchten.
Tickt der Osten anders? In der Literatur, die hier in ausgewählten Kurzrezensionen vorgestellt wird, wird dieser Frage im Spannungsverhältnis von Systemwandel, tradierten Einstellungen und aktuellen Einflüssen nachgegangen. Die Antwort, die Tom Mannewitz in seiner Habilitationsschrift Politische Kultur und demokratischer Verfassungsstaat. Ein subnationaler Vergleich zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung gibt, lautet: eigentlich nicht. Die strukturellen Unterschiede zwischen den Regionen sind seiner Erkenntnis nach gering und statt eines Ost-West-Unterschiedes ließe sich auch einer zwischen Nord und Süd feststellen. Auch seien Traditionslinien zu beachten, die in die Zeit von vor der DDR zurückreichen. Klaus Schroeder betont in der auf Befragungen gestützten Studie Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland: Ein Ost-West-Vergleich, dass die Prozentzahl rechtsextremer Jugendlicher insgesamt gering sei, in ostdeutschen Städten aber eher eine Gleichgültigkeit gegen zivile Tugenden herrsche.
Mit dieser Gleichgültigkeit ist allerdings ein – messbarer – Faktor genannt, der zu den Folgen der Sozialisation in der DDR gezählt werden kann. Diese steht in dem Sammelband Vereintes Deutschland – geteilte Jugend. Ein politisches Handbuch im Mittelpunkt, gekoppelt an die Frage nach ihrer Nachwirkung auf heutige politische Einstellungen. Auch Britta Bugiel geht in ihrer Studie Rechtsextremismus Jugendlicher in der DDR und in den neuen Bundesländern von 1982-1998 von einem Einfluss der Sozialisierung aus, verbunden mit dem Hinweis, dass rechtsextreme Einstellungen auch aus der Zeit vor 1989 dokumentiert sind.
Die Annahme, dass sich mit dem Rechtsextremismus in Ostdeutschland eine Entwicklung aus der DDR fortsetzt, wird auch in dem Band Generation Hoyerswerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg untermauert. Gideon Botsch führt aus, dass der Neonazismus aus einem unpolitischen Milieu – der Jugendsubkultur der Skinheads, Hooligans und Faschos – hervorgegangen sei. „Aus diesem Umfeld hätten sich 1985/1986 Verbindungen von rechtsextremen Personen ergeben, die sich auch zunehmend mit politischen Fragen auseinandergesetzt hätten. Mit der Wende 1989/90 habe sich das Milieu politisiert und erste Ansätze einer politischen Organisation seien erkennbar geworden. Im Laufe des Jahres 1990 habe sich eine politisch formierte, bewegungsförmige ‚Nationale Opposition‘‘‘ (59) entwickelt. Die ostdeutschen Neonazis übernahmen demnach Elemente aus Westdeutschland und beide verschmolzen schließlich miteinander.“
In mehreren Analysen werden insbesondere der ländliche Raum und die Kleinstädte in den Blick genommen, die für Phänomene am rechten Rand des politischen Spektrums besonders anfällig zu sein scheinen. Thomas Bürk identifiziert einen wichtigen Faktor für den Rechtsextremismus – oder eben dessen Ausbleiben: In den Städten, in denen eine ausgeprägte beziehungsweise wehrhafte Zivilgesellschaft existiert, ist die Zahl der rechtsradikalen Übergriffe deutlich geringer als in denen, in denen es keine zivilen Gegenbewegungen gibt. Dieser Befund wird durch die Analyse Rechtsextremismus in lokalen Kontexten. Vier vergleichende Fallstudien gestützt. Kleinstädte mit schwacher Zivilgesellschaft befinden sich also tendenziell im Nachteil.
Seine jüngste radikale Zuspitzung hat der Rechtsextremismus mit der zehnjährigen Mordserie des NSU erfahren, die ostdeutsche Herkunft der drei Täter steht in der Literatur aber im Hintergrund – auch der wiederholt vorgetragene Vorwurf an den Verfassungsschutz, die NSU-Taten begünstigt zu haben, zielt eher auf das Argument eines staatlichen Versagens, der regionale Kontext erscheint nachgeordnet. Die dazu vorgestellten Bücher bilden eine kleine Auswahl der vorhandenen Literatur, so von Stefan Aust und Dirk Laabs Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, außerdem Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat von Sebastian Friedrich et al. und von Wolfgang Frindte et al. Rechtsextremismus und „Nationalsozialistischer Untergrund“. Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen.
Jüngste Entwicklungen wie die Wahlerfolge der AfD in den neuen Bundesländern lassen sich mit den Kurzrezensionen der Annotierten Bibliografie der Politikwissenschaft nicht spiegeln, da diese 2016 eingestellt wurde. Hier sei auf den Themenschwerpunkt „Rechtspopulismus und Medien“ verwiesen. Pegida wird in dieser Zusammenstellung mit dem Band Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? von Lars Geiges, Stine Marg und Franz Walter berücksichtigt.