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Warum wir Irre wählen. Mechanismen der digitalen Revolution

31.07.2017
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Roman Maria Koidl

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Wohin führt die digitalie Revolution? Grafik: geralt / Pixabay

 

Wer gut lügt, gewinnt. Und wer besser lügt, kommt sogar richtig ehrlich rüber. Hauptsache unsere Ängste werden bestätigt, von wem auch immer. So braucht der moderne Wahlkampf die Wirklichkeit nicht mehr. Seine Debatten finden in Scheinrealitäten, mit scheinbaren Argumenten statt. Verdrehen, verschieben und lavieren: Das ist der Dreiklang moderner Mehrheitsbildung.

Wir stehen am Beginn des postfaktischen Zeitalters. Es ist die Geburtsstunde eines neuen Politiker-Typs, des „Psycho Politico“. Seine Legitimation ist die Angst, seine Opposition die Realität. Twitter und Facebook bringen ihm die notwendigen Mehrheiten, sein Wahlkampf ist ebenso unabhängig von der Parteilinie wie von ihrem personellen Auswahlprozess. Die Partei, Basis der demokratischen Willensbildung, wird zum Auslaufmodell.

Seine unmittelbaren Botschaften treffen auf einen Bürger, dem seit Jahren die Verantwortung für das eigene Leben abgenommen wird. Sein Eskapismus aus Realität in Fiktion, von Fakten in Faktoide und von Emotionen in kitschiges Pathos macht ihn empfänglich für vielerlei Botschaften. Die Ängste der Wähler mögen bisweilen mangelhaft artikuliert sein, gänzlich unbegründet sind sie nicht. Auf die gewaltigen Umwälzungen der Globalisierung folgt die digitale Revolution, die mindestens die Hälfte aller Arbeitsplätze kosten wird. Wer braucht bei selbstfahrenden Autos noch Taxi-, Bus- oder LKW-Fahrer? Wozu noch Personal-, Bank- oder Vermögensberater? All das erledigt in Zukunft ein Automat. Die einen werden arbeiten, ohne Geld dafür zu erhalten, die anderen bekommen Geld, ohne zu arbeiten. Aber die Frage, wer zukünftig in die sozialen Sicherungssysteme einzahlt, steht derzeit ebenso wenig auf der politischen Agenda wie das Thema bedingungsloses Grundeinkommen, an dessen Einführung man kaum einen Zweifel haben kann.

Das Lobby-Argument der Digitalbranche, neue Jobs, mit höherer Qualifizierung zu schaffen, ist jenen, die mangelhaft qualifiziert sind, kein Trost. Die damit einhergehende Wut richtet sich gegen jene, die übersehen, dass nicht jeder Mensch die gleichen Startchancen hat. Weder intellektuell noch finanziell, nicht einmal emotional. Die neuen Verlierer sind nicht die Armen, es sind die Dummen.

Folglich befinden wir uns nicht in einer sozialen, sondern in einer politischen Krise. Auf den Straßen halten die Demonstranten keine Plakate gegen soziale Missstände in die Höhe, sie lehnen das politische System insgesamt ab, die Medien und Eliten gleich mit dazu.

Diesen Paradigmenwechsel hat vor allem die Sozialdemokratie nicht richtig mitbekommen. Ihre Themenwahl für den Bundestagswahlkampf 2017 ist ein Sommerschlussverkauf politischer Angebote – tragbar, aber nicht mehr im Trend. Gegenwärtig programmieren zumeist junge, intelligente Männer eine digitale Zukunft, die nicht nur jene zurücklassen wird, die daran keinen Anteil haben werden, sondern uns alle im Hinblick auf Daten und Privatsphäre ausbeuten und benutzen wird. Rasant explodierende Start-Ups schaffen ihre eigenen Normen, ihre eigenen Regeln und bauen dabei nicht-stoffliche, staatsähnliche Strukturen auf, denen die „alten“ Nationalstaaten herzlich wenig entgegensetzen. Es entstehen Organisationen, die unseren Rechtsstaat ignorieren und unsere demokratische Grundordnung erodieren. Wir sind auf dem Weg in eine technokratische Diktatur, eine stille Machtübernahme, eingeleitet von wenigen Milliardären. Es ist der Beginn eines neuen Totalitarismus, den die meisten Politiker mit Achselzucken beantworten, weil sie ihn technisch schlicht nicht begreifen.

Die unglaublichen digitalen Möglichkeiten, den Einzelnen anzusprechen, zu manipulieren, zu desinformieren, lassen zudem die Notwendigkeit wachsen, sich mit den Mechanismen dieser Revolution auseinanderzusetzen. Es ist die Psychologie des Wandels, die uns beschäftigen wird. Sie findet ihre Symbiose in der Psychometrie, der psychologischen Vermessung von uns allen. Ihre logische Basis besteht aus den Grundelementen unserer menschlichen Ängste. Sie sind Schlüssel zu Problem und Lösung.

Wohin führt die Angst? Die Antwort lautet: unmittelbar in die Radikalisierung. Doch nicht langbärtige Bombenleger aus den Vorstadtmoscheen sind das Problem, sondern die breite Radikalisierung unserer Mittelschicht. Sie reicht von der leichten Zwangsstörung der Bio-Prediger und Irgendwas-Intoleranten über die Hassmail-Schreiber und „Lügenpresse“-Brüller bis zu den gewalttätigen Brandsatzwerfern.

Eine angstvolle, laute Minderheit droht die schweigende Mehrheit zu übertönen, ja, sie zu beherrschen – die einen durch Radikalisierung des Systems, die Anderen durch radikale Systeme. So stellen wir fest, dass die leicht zwanghaften Bürger und ihre Repräsentanten, jene, die Veränderung und Wandel fürchten, die gleiche psychologische Angststruktur aufweisen wie jene, die die Systeme einer neuen Weltordnung programmieren. Eine angsterfüllte Allianz der Zwanghaften: alte weiße Politiker und junge weiße Programmierer finden sich in psychodynamischer Ähnlichkeit. Die einen sind Sicherheitsfanatiker mit Angst vor der Veränderung, die anderen maskieren ihren erbsenzählenden Codierungswahn einer fehlerfreien Digitalwelt als Progressivität.

Ungarn, Polen, USA, Türkei, aber auch das Frankreich Marine le Pens, die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und eine sehr starke Rechte in Österreich: Wir beobachten in vielen westlichen Ländern die Abwahl des progressiven Liberalismus, genauer gesagt des progressiven Anteils des Liberalismus. Dabei geht es weniger um „links“ oder „rechts“ als um „Mann“ oder „Frau“. Genderpolitik, Gleichstellung, Frauenbewegung, Freiheitsrechte und Multikulturalismus stehen vor einem herben Rückschlag.

Wir erleben eine maskuline Polit-Macho-Revolte, die auch jene Frauen gutheißen, die sich um ihr klassisches Rollenmodell als Hausfrau und berufslose Mutter betrogen sehen. Wo der progressive Liberalismus abgewählt wird, werden aus konservativen Liberalen regressive Rechte. Dabei machen Einzelne die Repräsentanten des Staates zur Projektionsfläche ihrer persönlichen Defizite. Schlimmer noch, Social Media verbindet diese Bürger zu einer Gemeinschaft, woraus am Ende eine politische Scheinbewegung entsteht. Dabei trifft die Hälfte der Wähler keine politische Wahl, sondern in der Regel eine Konsumenten-Entscheidung, wie der US-Wissenschaftler Jason Brennan kürzlich feststellte. Die Person als Programm, das muss genügen. Inhalte stehen dabei nur im Weg herum. Diese uninformierten Wähler verstehen Demokratie als Service, Politiker als Dienstleister und Wahlkampf als Unterhaltungssendung.

Dabei geht es gegenwärtig um nicht weniger als die grundlegende Veränderung von Arbeit, die Zukunft des ökologischen Gleichgewichts und nicht zuletzt um die Frage, ob mit der Digitalisierung eine Revolution vor uns liegt, die, ebenso wie die Umstürze der Industrialisierung und der nachfolgenden Mechanisierung, jeweils in Weltkriege und großflächige Zerstörung mündet. Wir sehen einem Fortschritt entgegen, der nicht progressiv, und einer Freizügigkeit, die nicht frei ist. Eine junge Generation muss jetzt die Verantwortung für diesen Wandel ergreifen und aktiv die gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe von kurzsichtigen Polit-Rentnern übernehmen.

Gefragt ist eine junge Bürgerbewegung des Widerstands zur Verteidigung unserer freiheitlichen Grundrechte, eine anti-libertäre Revolte zum Schutze der Bürger vor den Autoritätsansprüchen einer viel zu deregulierten digitalen Industrie und ihren wenigen milliardenschweren Profiteuren, deren ungeheurer Reichtum zu unser aller Lasten geht. Wir brauchen ein neues Zeitalter der Aufklärung. Unsere Mediengesellschaft ist nur scheinbar vom Fortschritt geprägt. In Wirklichkeit ist ihr eine technisch motivierte Regression inhärent. Sie führt zurück zu Ideologie, Pathos und Irrationalität, deren Ausdruck sich in Aberglaube, Verschwörungstheorien und Ablehnung des Wissens findet. Das Mittel gegen den Zerfall der Gesellschaft liegt in einem Strukturwandel der Öffentlichkeit, auf dem Weg zu einer neuen Epoche digitaler Vernunft. Man könnte auch sagen, in unserer Gegenwart geraten die berühmten kategorischen Imperative Theodor W. Adornos miteinander in Konflikt: Einerseits das von Arthur Rimbaud entlehnte Fortschrittsmotto „Il faut être absolument moderne“, andererseits Adornos beständige Forderung, dass sich Auschwitz nicht wiederholen darf. Doch unsere Gegenwart ist keine ästhetische Theorie, Adornos „Nicht-Orte“ sind eben gerade keine Utopie mehr. Deshalb ist auch sein Satz: „Nur die Übertreibung ist wahr“ keine Aufforderung mehr, den Blick zu schärfen, um die Dinge einmal bis zum Ende durchzudenken. Wir stehen bereits am Anfang dieses Endes.

 

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Der Beitrag basiert auf dem kürzlich im Verlag Hoffmann & Campe erschienenen Sachbuch des Autors „Warum wir Irre wählen“


Aus der Annotierten Bibliografie





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Bundestagswahlkampf 2017

 

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