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Aus der Annotierten Bibliografie
Illustration: Eugene Ivanov (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eugene_Ivanov_800.jpg: CC BY-SA 4.0)
Stalinismus – Systemumbruch – Geschichtspolitik
Eine Auswahl an Kurzrezensionen
In Russland ist eine selektive und dabei vor allem politisch zielgerichtete Deutung der eigenen respektive der sowjetischen Geschichte zu beobachten, wie sich in einigen der hier vorgestellten Bücher zeigt. Ohne Stalin zu rehabilitieren, schreibt beispielsweise Anna Becker, werden Errungenschaften seiner Zeit (Industrialisierung, Sieg über Hitler‑Deutschland und Aufstieg der Sowjetunion zur Supermacht) wieder positiv hervorgehoben und dabei – mit Blick auf die Gegenwart, also auf Präsident Vladimir Putin – auch die Qualitäten einer starken Führungspersönlichkeit betont. Die stalinistischen Verbrechen werden tendenziell ausgeblendet und deren Aufarbeitung gar gestört oder unterbunden, wie die Menschenrechtsorganisation Memorial bei ihrer Arbeit immer wieder erfahren muss – seit 2012 müssen sich deren Mitarbeiter*innen sogar als „ausländische Agenten“ registrieren lassen. Zugleich werden politische Morde nicht aufgeklärt, wie die russische Historikerin Irina Scherbakowa im Oktober 2016 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk kritisierte. Und werden doch die Mörder verurteilt, wie jüngst diejenigen des oppositionellen Politikers Boris Nemzow, bleiben die Hintergründe unklar.
Mit der hier zusammengestellten Literatur wird ein Bogen gespannt von den Anfängen der Sowjetunion über den Stalinismus bis hin zur Rezeption dieser Geschichte in der Gegenwart. Erste zeitgenössische Betrachtungen aus der Frühphase der Sowjetunion mögen die Zukunft noch offen erscheinen lassen, wie Arthur Koestlers „Von weißen Nächten und roten Tagen“. Die Analysen der Ära Stalin spiegeln dann die dunklen Seiten der kommunistischen Diktatur, die unter dessen Führung einen langen gewalttätigen Zenit erlebt. Während Simon Sebag Montefiore berichtet, wie es „Am Hof des roten Zaren“ zugeht, zeigt beispielsweise Jörg Baberowski in mehreren Studien die inneren Logiken und konkreten Formen von Stalins Herrschaft der Gewalt. Ihre Zuspitzung hat diese Gewalt mit dem Gulag erfahren, von Alexander Solschenizyn einst in Archipel Gulag eindrücklich beschrieben. Hier sei auf den bewegenden autobiografischen Bericht von Julius Margolin über seine „Reise in das Land der Lager“ hingewiesen, außerdem auf die hervorragende Studie „Der Gulag“ von Anne Applebaum sowie die Recherche über die „Die Insel der Kannibalen“ von Nicolas Werth. Dem Alltag in der stalinistischen Diktatur geht hingegen Orlando Figes in „Die Flüsterer“ nach.
Einen Überblick über diese Epoche bieten Autoren wie Archie Brown („Aufstieg und Fall des Kommunismus“), Orlando Figes („Hundert Jahre Revolution“) oder Alexander N. Jakowlew in „Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland“. Der ungarische Schriftsteller und Historiker György Dalos verabschiedet sich dann mit „Lebt wohl, Genossen!“ vom sowjetischen Imperium. In Russland aber ist es ein langsamer Abschied von der Vergangenheit, wie Elke Fein zeigt. Den – fast möchte man sagen: spontanen – Systemumbruch zeigen zum Beispiel Felix Jaitner in „Einführung des Kapitalismus in Russland“ und Jegor Gajdar in „Der Untergang eines Imperiums“. Während aber die Sowjetunion zerfällt, die Planwirtschaft abgeschafft wird und sich Russland eine neue Verfassung gibt, entwickelt die stalinistische Vergangenheit ein Nachleben und dient schließlich dem gegenwärtigen Präsidenten mehr und mehr als Legitimationsgrundlage bei der Verschiebung der politischen Koordinaten hin zu einem System mit autoritären Charakteristika.

Der Gulag. Aus dem Englischen von Frank Wolf

Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus

Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt

Macht ohne Grenzen. Herrschaft und Terror im Stalinismus

Mythos Stalin. Stalinismus und staatliche Geschichtspolitik im postsowjetischen Russland der Ära Putin

Aufstieg und Fall des Kommunismus. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Norbert Juraschitz, Hainer Kober und Thomas Pfeiffer

Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biographie. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla

Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums. Hrsg. von Christian Beetz und Oliver Mille
Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem russischen Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung. Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation

Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter

Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Entscheidung in Rußland. Die Privatisierung der Macht und der Kampf um eine zivile Gesellschaft. Aus dem Russischen von Vera Ammer

Der Untergang eines Imperiums. Übersetzung: Vera Ammer

Gebrochene Kontinuitäten. Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert

Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Band 1: Die Stiftung. Der Abschluss der deutschen Wiedergutmachung. Band 2: Transnationale Opferanwaltschaft. Das Auszahlungsprogramm und die internationalen Organisationen. Band 3: Nationale Selbstbilder, Opferdiskurse und Verwaltungshandeln. Das Auszahlungsprogramm in Ostmitteleuropa. Band 4: Helden, Opfer, Ostarbeiter: Das Auszahlungsprogramm in der ehemaligen Sowjetunion

20 Years after the Collapse of Communism. Expectations, achievements and disillusions of 1989

Jossif Stalin oder: Revolution als Verbrechen

Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates

Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland. Aus dem Russischen von Bernd Rullkötter

Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin

Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland

Der Kreml und die "Wende" 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente. Redaktion und Übersetzungen: Elena Fritzer, Silke Stern, Dieter Bacher, Harald Knoll, Reinhard Möstl, Irina Kazarina, Veronika Bacher, Angelika Kermautz, Vladimir Magidov, Julija Schellander, Stefanie Stückler, Arno Wonisch

Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland

Von weißen Nächten und roten Tagen. Zwölf Reportagen aus der Sowjetunion

Anatomie der russischen Elite. Die Militarisierung Russlands unter Putin. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger

Gulag. Texte und Dokumente 1929-1956. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und der Gesellschaft "Memorial" Moskau

Anmerkungen zu Stalin

Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion

Der russische "Sonderweg"? Aufsätze zur neuesten Geschichte Russlands im europäischen Kontext

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2016. Hrsg. im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Reise in das Land der Lager. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Stalin und der Genozid. Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch

Quellen zur Geschichte Russlands

Betrogenes Rußland. Jelzins gescheiterte Demokratie

Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland

Stalin. Am Hof des roten Zaren. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl

Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des "Neuen Menschen" in Russland

Ein Europa? Die europäische Integration in der russischen Historiographie nach 1985

Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao

Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz
Zusammengestellt von:
Erschienen am:
4. Juli 2017
Literaturklassiker
Wolfgang Leonhard
Die Revolution entlässt ihre Kinder
Köln, Kiepenheuer & Witsch, erste Ausgabe: 1955
Wolfgang Leonhards Bericht über seine Jugendjahre, die er privilegiert in der Sowjetunion verbracht hat, ist immer noch ausgesprochen lesenswert. Nach dieser Zeit wurde er mit der Gruppe Ulbricht in die Sowjetische Besatzungszone eingeflogen, um den Sozialismus in Deutschland aufzubauen. Später ging er erst nach Jugoslawien und zog dann schließlich in den Westen. Für die Wochenzeitung Die Zeit hatte er einige seiner Eindrücke noch einmal zusammengefasst:
Ich habe einen Traum, 11. Mai 2005, http://www.zeit.de/2005/20/Traum_20
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