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Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft

18.07.2017
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
Hamburg, Murmann Verlag 2017
(kursbuch.edition)

Armin Nassehi setzt den Hebel an den richtigen Stellen an, indem er neue Untersuchungen alter Erkenntnisse bietet. Schon Günther Anders stellte in „Die Antiquiertheit des Menschen“ eine scheiternde Synchronisierung unserer Seelen mit den Produkten unserer Welt fest. Der italienische Philosoph Norberto Bobbio wies darauf hin, dass die Links-Rechts-Axiologie nicht immer eine Erkenntnisperspektive liefert. Diese beiden Ideen ziehen sich wie zwei rote Fäden durch das Werk Nassehis, werden auf verschiedenen Ebenen durchexerziert und liefern schließlich einen erhellenden Ausblick. Der Autor fragt kritisch, warum das Phänomen der Komplexität der Moderne bisher nicht beschrieben worden sei – in einer Welt, die immer komplexer werde und in der die Grenzen der Links-Rechts-Erklärungsmuster immer sichtbarer würden. Er spricht von einer „Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft“ (22). Bei diesen Überlegungen handelt es sich um eine komplett überarbeitete Neuedition des 2015 publizierten Titels „Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss“.

Und wer profitiert von dieser Unübersichtlichkeit, die auch Habermas beschrieben hat? Die Populisten, die eine neue Renaissance erleben. Auch die Experten würden die komplexen Gemengelagen nicht mehr erklären können und deswegen sei ein neuer Kulturkampf die Folge. Es handele sich um einen Kampf um die Definitionsmacht, der ohne Sieger ausgehe. Nur derjenige, der sich diesem Konflikt entziehe, könne eine „Sprache für das Problem der Komplexität“ (24) finden. Nassehi erklärt dies anhand der Kapitalismuskritik und stellt verschiedene Analysemodelle dar, unterstellt aber, dass sie das System nicht wirklich erklären können, weil von diesem System ernsthaft erwartet werde, „es lasse sich umbauen oder durch einen einsichtigen Verzicht linear verändern“ (50).

Nassehi erklärt diese Komplexität mit der Existenz von Welten in Welten, in denen „unterschiedliche Logiken gleichzeitig und nebeneinander“ (64) existierten. Die Dinge würden eigentlich in einer modernen Gesellschaft nicht zusammenpassen und auch nicht koordiniert werden können. Das Grundproblem von Komplexität sei die „Mehrfachbedeutung“ (65) unterschiedlicher Logiken. Er wirft konsequenterweise die Frage auf, wie aber diese unterschiedlichen Logiken miteinander integriert werden können. Die Komplexität kann Konflikte erzeugen, denn es gibt auch „keine Instanz, keinen Ort, keine Perspektive, keine Unterscheidung, keinen Beobachterstandpunkt, keine Sprecherposition und keine Autorität“ (67), die für alle Kontexturen ein Sprachrohr darstellen könnte.

Nassehi widerspricht, dass man die Kämpfe der verschiedenen Logiken „innerhalb einer Kontextur“ (68) austragen könne, denn dann würde man in die Falle der alten Strategien geraten. Man könne auch nicht von einer Einsicht, einer moralischen Kategorie ausgehen, die kollektivierbar sei. Denn weder die linke Umbauperspektive noch die Idee der moralischen Einsicht oder die Simulation einer kulturellen Einheit könnten letztlich die Komplexität der Situation überwinden. Das Problem sei nicht, dass die verschiedenen Logiken nicht koordiniert werden können, sondern dass „es keine Stoppregeln mehr gibt, die die Dynamik der einzelnen Logiken einschränken könnten.“ (93)

Als die Quintessenz seiner These stellt Nassehi eine „Unwahrscheinlichkeit der wechselseitigen Kontrolle der unterschiedlichen Logiken untereinander“ (99) fest. Es gibt ihm zufolge weder externe noch interne Kriterien, die die Operationen der verschiedenen Logiken limitieren oder sie zur Selbstbeschränkung bewegen können. Die wesentlichen Elemente der Komplexität stellt Nassehi in vier Kategorien dar: Die Perspektivdifferenz bedeutet, dass die Welt keine Chiffrierung mehr habe und sich daher keiner Leitunterscheidung fügen könne. Verteilte Intelligenz als die zweite Kategorie sorge dafür, dass die Gesellschaft in unterschiedlichen Regelkreisen zerfalle. Nassehi nennt als seine dritte Kategorie die Ordnung als Postrationalisierung. Die Intelligenzen seien auch in ihrem inneren Intelligenzsystem nicht mehr transparent und kalkulierbar. Die vierte Kategorie seien die Optionssteigerungen, die die Unkontrollierbarkeit für den Fall verdeutlichten, in dem es keine Stoppregeln mehr gebe. Nassehi geht davon aus, dass die unterschiedlichen Logiken zu Übersetzungskonflikten führen – unterschiedliche Intelligenzen könnten nur mithilfe „angemessener Übersetzungskompetenzen“ (199) austariert werden.

Nassehi nimmt an, dass es nicht darum geht, die Wahrheit über die Gesellschaft zu „imaginieren“ (200), weil offenbar nicht die eine Wahrheit existiert. Allerdings überzeugt sein Versuch, seinen potenziellen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, nicht: Er schreibt, dass er „nicht um einem postmodernen Relativismus das Wort“ (200) reden wolle, aber er spreche von der letzten Stunde der Wahrheit, so wie das Buch auch betitelt worden ist. Da die unterschiedlichen und sich widersprechenden Logiken erhebliche innere Dynamiken besitzen, können sie nur konfliktbehaftet übersetzt werden. Lösungstools müssen demnach ständig von Problemen ausgehen, die eine Folge der Komplexität der verschiedenen Logiken sind. Daher sei eine moderierende Expertise vonnöten, die erkenne, dass es „keine letzten Lösungen gibt“ (201), gerade wegen der Multiplizität von Expertisen.

Schließlich wendet sich Nassehi der Demokratie zu, die „geradezu ein Generator unterschiedlicher Auffassungen über die Welt“ (203) darstelle. Moderne Rechtssysteme würden die Differenz von Perspektiven „geradezu als ihre Bedingung“ (205) erkennen, weil sie Konflikte nicht vermieden, sondern handhabbar machten. Das Aushalten von Differenz sei ein urbaner Habitus. Die Demokratie lasse die Gegner der Regierung sprechen, das Recht bringe Antipoden im Gerichtssaal zusammen und Bildungsprogramme würden Unterschiedliches vergleichen und die Beteiligten mit den Erfahrungen der anderen vertraut machen. So entstehe Pluralität in den städtischen Lebensformen.

Abschließend beschreibt Nassehi in einer positiven Perspektive die Arbeit des Ethikrates des Bundestages, vor dem er im September 2016 einen Vortrag gehalten hat. Im Ethikrat werde verhandelt, wie die „Repräsentation unterschiedlicher Intelligenzen sich kommunikativ aufeinander beziehen können“ (208). Man müsse sich dort mit den anderen Perspektiven auseinandersetzen, um Bedingungen für Entscheidungsprogramme auszuloten. Die Nutzung von Perspektivendifferenz müsse etabliert werden, damit in einer modernen Gesellschaft mit dieser umgegangen werden könne. Bewusst will Nassehi keine Antworten liefern, sondern Fragen aufwerfen, was ihm gelungen ist.

 

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Aus der Annotierten Bibliografie

Armin Nassehi

Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss

Hamburg: Murmann 2015; 344 S.; 20,00 €; ISBN 978-3-86774-377-8
Ohne Fachjargon gelingt es dem Münchner Soziologen Armin Nassehi erneut, sozialwissenschaftliche Diagnose und politische Botschaft – das Ende von „rechts“ und „links“ – zu präsentieren. Indes, weder dieser Befund noch dessen Begründung sind so neu nicht: Moderne meint hier den Prozess der fortwährenden funktionalen Differenzierung, der klare Gewissheiten systematisch unterlaufe, weshalb der Versuch, soziale Fragen durch einen simplen politischen Dualismus (rechts ...weiterlesen

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