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Jan Hauke Plaßmann: Demokratie jenseits welchen Staates? Eine konzeptionelle Neuausrichtung der Debatte um demokratisches Regieren jenseits des Nationalstaats

10.04.2017
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Baden-Baden, Nomos 2017 (Internationale Politische Theorie 4)

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung brach auch ein festgefügtes Bild von Staatlichkeit und Herrschaft diesseits und jenseits klar definierter nationalstaatlicher Vorstellungen in sich zusammen. Die damit verbundene politische, gesellschaftliche und ökonomische Dynamik löste einen welthistorisch einzigartigen Einigungsschub aus, der eine Vielzahl bisheriger Gewissheiten infrage stellte. So sind es gerade die vielfältigen trans- und internationalen politischen Verflechtungen, die seit den 1990er-Jahren eine Vielzahl von politischen Strukturen haben entstehen lassen. Organisationen wie die Europäische Union, die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation oder der Internationale Währungsfonds beanspruchen dabei nicht nur bürokratische, sondern auch legislative Kompetenzen, die tief in die Konstitution des Nationalstaates eingreifen und damit das bisherige Verständnis von Staatlichkeit grundlegend infrage stellen. Dabei wird auch immer wieder die Diagnose eines Demokratiedefizites laut, was in der Wissenschaft eine kaum mehr überschaubare Debatte zur Demokratie jenseits des Nationalstaates in Gang gesetzt hat.

Von diesem Punkt aus problematisiert Jan Hauke Plaßmann die Frage, was von einem souveränen Nationalstaat bleibt, wenn in zunehmendem Maße Kompetenzen an regionale, globale, supranationale und internationale Organisationen übertragen werden. Denn „erstaunlicherweise führten diese Fragen oftmals nicht zu der in der Debatte seltenen, jedoch naheliegenden Antwort, Staatlichkeit vom Modell des Nationalstaates – aber nicht von der Demokratie – zu trennen und nach Elementen von Staatlichkeit auch auf anderen als der rein nationalen Ebene zu suchen.“ (14) Sein Ziel mit dieser Arbeit ist es daher, den Zusammenhang von Staatlichkeit und Demokratie „vom Kopf auf die Füße zu stellen“ (15) und zu zeigen, dass der in der Kritik am Demokratiedefizit suprastaatlicher Strukturen bemühte Begriff des Nationalstaates als einzig legitime Referenz von Staatlichkeit und Demokratie bereits eine normative Wertung enthält, die die Perspektive auf Staatlichkeit jenseits des Nationalstaates stark verkürzt. Der Autor setzt daher keinen Begriff von Staatlichkeit voraus, sondern fragt normativ-neutral, wie Demokratie jenseits welchen Staates zu konzipieren sei. Im Fokus der Untersuchung steht damit die Rekonstruktion unterschiedlicher Elemente und Begrifflichkeiten von Staatlichkeit, die im Rahmen einer Neukonturierung anschließend für die Frage nach einer Demokratie jenseits des Nationalstaates nutzbar gemacht werden sollen.

Die Untersuchung verfolgt einen komplexen ideengeschichtlichen Ansatz, dem die These zugrunde liegt, „dass das prominente Jenseits der Debatte um Demokratie jenseits des Staates nicht aufrechterhalten werden kann, wenn die begrifflichen Grundlagen, auf der die diese Debatte aufbaut und die die unhinterfragte Gleichsetzung von Nationalstaat und Staatlichkeit beinhaltet, eingehend untersucht werden“ (18). Die Arbeit gliedert sich daher in mehrere Untersuchungsschritte: Zunächst werden die in der aktuellen politikwissenschaftlichen Debatte verbreiteten Staats- und Demokratieverständnisse näher beleuchtet und anhand ihrer Differenzierung von Staatlichkeit zwischen Dualismus, Monismus und Pluralismus systematisiert. Daran knüpft anschließend der Hauptteil der Untersuchung mit einer umfassenden historischen, ideengeschichtlichen und empirischen Vertiefung der Systematik der herausgearbeiteten Argumente an. Da sich der Autor explizit von einer idealtypischen Vorgehensweise distanziert, sondern danach fragen möchte, was der Fall im gegenwärtigen Staatsverständnis ist, wendet er hierzu das Verfahren einer theoretischen Triangulation an, die in der Kritik der idealistisch argumentierenden politischen Theorie wurzelt und sich zu dem theoretischen Realismus des Politikwissenschaftlers Raymond Geuss bekennt. Durch diese Triangulation wird daher eine vorrausetzungsfreie multiperspektivische Aufarbeitung der historischen, ideengeschichtlichen und gegenwärtig empirischen Grundlagen von Staatlichkeit möglich.

An diese deskriptiven Grundlagen knüpft sich im weiteren Verlauf der Untersuchung nun die Re-Definition der herausgearbeiteten Begriffselemente an, um sie für eine Neukonzeption des Begriffes von Staatlichkeit jenseits des Nationalstaates nutzbar zu machen. Diese variiert dabei zwischen Elementen bisheriger Vorschläge von disaggregierter Staatlichkeit, der Ausübung und Einhegung internationaler öffentlicher Gewalt und emergenter Staatlichkeit. Im Schlussteil der Untersuchung werden die Vorschläge wiederum an die Ausgangsproblematik der Untersuchung rückgebunden, indem versucht wird, auf der Grundlage des gewonnenen Begriffes von Staatlichkeit eine Neubestimmung der Frage nach der Demokratisierung suprastaatlicher politischer Strukturen vorzunehmen. So schreibt der Autor: „Es geht also zunächst um eine die Realität anerkennende Begriffsbildung und damit konsequenterweise normativ um eine nachholende Demokratisierung bereits bestehender politischer, staatlicher Institutionen und Praktiken und nicht um den utopisch geleiteten Aufbau einer Weltdemokratie. In genau dieser Hinsicht ist das hier ausgebreitete Unterfangen praktische, politische Theorie“ (231).

Die komplexe und voraussetzungsreiche Untersuchung macht damit deutlich, dass das heutige politisch, gesellschaftlich und wissenschaftlich wirksame Verständnis von Staatlichkeit als Nationalstaatlichkeit nicht nur nicht zutreffend, sondern auch normativ engführend ist. Plaßmann zeigt anhand seiner so komplexen wie differenzierten Systematik von Staatlichkeit, dass diese niemals nur auf nationaler Ebene beschränkt war, sondern auch in einem ambivalenten Verhältnis zur Demokratie stand und stehen kann. Diagnostizierte Demokratiedefizite erscheinen daher nicht nur als institutionelle Defizite der jeweiligen Organisation, sondern sie verkörpern vielmehr auch die Aufforderung zu ihrer Demokratisierung. Überkommene Vorstellungen von Nationalstaatlichkeit können aus dieser Perspektive daher selbst demokratisch defizitär wirken. „Demokratie jenseits welchen Staates?“ ist folglich ein so komplexer wie elaborierter Vorschlag, der festgefahrenen Debatte um die Demokratisierung inzwischen allgegenwärtiger suprastaatlicher Institutionen neues Leben einzuhauchen.

 

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