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Ulrich Tilgner: Krieg im Orient. Das Scheitern des Westens

27.04.2021
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Berlin, Rowohlt 2020

Der Nahost-Journalist Ulrich Tilgner bietet eine persönliche Einschätzung der westlichen, vor allem der US-amerikanischen Nahost-Politik der zurückliegenden Jahrzehnte. Ein zentraler Fehler westlicher Interventionen sei das Ignorieren kultureller Kontexte gewesen. Im Irak und in Afghanistan seien nahezu identische Fehler gemacht worden, weil geglaubt wurde, „mit militärischen Mitteln und dem Einsatz von Geld im Bündnis mit siegreichen Oppositionellen der jeweiligen Länder die großen Probleme lösen zu können“. Rückblickend werde deutlich, dass den westlichen Industriestaaten inzwischen die Kraft fehle, ihre Ziele im Orient mit Gewalt durchzusetzen.

Eine Rezension von Michael Rohschürmann

Ulrich Tilgner ist, spätestens seit seiner Berichterstattung aus Bagdad während der US-Invasion 2003, als gut informierter Nahost-Journalist bekannt. In seinem Buch „Krieg im Orient. Das Scheitern des Westens“ geht es ihm um eine persönliche Abrechnung mit der westlichen, vor allem der US-amerikanischen Politik der zurückliegenden fünfzig bis siebzig Jahre und deren Scheitern: „Heute führe ich dieses Scheitern nicht mehr nur auf einzelne Fehler von Militärs und Politikern zurück, sondern begreife es als Ausdruck einer grundsätzlich falschen Politik. Es markiert einen Wendepunkt der gesamten globalen Politik. Zurückblickend wird nämlich deutlich, dass den westlichen Industriestaaten inzwischen die Kraft fehlt, ihre Ziele im Orient mit Gewalt durchzusetzen.“ (19)

Tilgner war persönlich Zeuge der politischen Verwerfungen, die er beschreibt und diese Erfahrungen bemerkt man – leider nicht häufig genug – in vielen seiner Kommentare. So beschreibt er beispielsweise die falsche Wahrnehmung politischer Prozesse und sozialer Unruhen in arabischen Ländern seitens des Westens und kommentiert „Das ‚Andere‘ ist anders, als man normalerweise denkt.“ (15)

So schildert er eindringlich die Durchsetzung westlicher politischer Interessen – häufig auch unter dem Deckmantel humanitärer Interventionen – mittels militärischer Eingriffe – und die gleichzeitige Kooperation mit Diktatoren sowie korrupten Regimen, wenn diese eigenen (Wirtschafts-)Interessen dient. Ebenso stark kritisiert er die seiner Meinung nach nicht vorhandene (Mit-)Verantwortung für die Flüchtlingskrise, die, zumindest teilweise, ein Produkt dieser Politik und westlicher Waffenlieferungen sei.

Der Autor spart zwar nicht mit Kritik, vor allem gegenüber den USA, bemüht sich aber um Sachlichkeit – vielleicht zu sehr, denn die Konflikte im Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen und Jemen werden in weiten Teilen des Buches eher deskriptiv bearbeitet. Seine Schilderungen und Analysen sind kenntnisreich und zutreffend, verbleiben aber aufgrund der Kürze (das ganze Buch hat gerade 215 Textseiten) an der Oberfläche und stellen eher einen Einstieg in die jeweiligen Konflikte als eine Detailbefassung mit komplexen und volatilen Kontexten dar.

Gleichzeitig gelingt es Tilgner aber auch in der Kürze einen der zentralen Fehler westlicher Interventionen, nämlich das Ignorieren des kulturellen Kontextes, auf den Punkt zu bringen: „Dabei machten die Vereinigten Staaten im Irak und Afghanistan nahezu identische Fehler, weil sie glaubten, mit militärischen Mitteln und dem Einsatz von Geld im Bündnis mit siegreichen Oppositionellen der jeweiligen Länder die großen Probleme lösen zu können.“ (42) „Die Mitarbeiter der von ihm geleiteten US-Zivilverwaltung hatten genau wie die US-Generäle keine Vorstellung von der Kultur und Lebensweise der Iraker und erkannten möglicherweise nicht einmal, dass sich deren Probleme mit jedem Tag vergrößerten.“ (73)

„Das eigentliche Problem besteht darin, dass in der Regel kein Bewusstsein existiert, dass ein fremdes kulturelles Umfeld eine Anpassung des Auftretens erfordert. In der Heimat trainiertes Vorgehen provoziert oft Reaktionen, mit denen nicht gerechnet wird. Statt Lehren aus den heutigen Vorfällen zu ziehen, wird eine nachweislich falsche Taktik immer weiter angewandt. Es wird sogar versucht, die Fehler durch eine Ausweitung des Einsatzes auszugleichen.“ (187)

Gerade hier hätte dem Buch jedoch mehr Tiefe und vor allem eine, vielleicht weniger sachlich deskriptive, sondern an persönlichen Erfahrungen und Eindrücken ausgerichtete Darstellung geholfen. Dies wird besonders beim Irak-Kapitel deutlich, bei dem Tilgner ja aus einem tiefen Fundus eigener Erlebnisse hätte schöpfen können. So bleiben auch seine Prognosen häufig holzschnittartig und lassen sich nicht ohne Weiteres aus dem Text ableiten.

Insgesamt bleibt ein gemischter Eindruck beim Leser. Das Buch eignet sich indes hervorragend als Einstiegslektüre und gibt einen guten Überblick über aktuelle Konflikte in der Greater MENA Region. Wer sich aber darüber hinaus tiefgehender mit den jeweiligen Konfliktdynamiken und Akteuren beschäftigen möchte, muss woanders nachlesen. Dies ist schade, da der Autor selbst viel beizutragen gehabt hätte.

 

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