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Armin Glatzmeier: Gerichte als politische Akteure. Zur funktionalen Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Demokratien

25.02.2020
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Autorenprofil
Prof. Dr. Robert Chr. van Ooyen
Baden-Baden, Nomos 2019

In der Politikwissenschaft wird inzwischen so ziemlich alles verglichen – vergleichende Analysen zur mächtigen Verfassungsgerichtsbarkeit sind aber immer noch selten. So reproduziert das Fach unbewusst die alte deutsche obrigkeitsstaatliche Tradition, in der Recht und Politik genauso scharf getrennt werden wie Rechtsstaats- und Demokratieprinzip. Und unkritisch folgt man damit zugleich einer bei deutschen Jurist*innen nach wie vor verbreiteten, aber alten Konzeption, die namentlich auf konservative – in Weimar dann antirepublikanische – Staatsrechtler zurückzuführen ist.

Armin Glatzmeiers an der Universität Passau eingereichte Dissertation zählt daher zur einer Reihe neuerer Arbeiten, die herausragend dazu beitragen, diese politikwissenschaftliche Fehlorientierung aufzubrechen. Er untersucht die funktionale Rolle von Verfassungsgerichtsbarkeit historisch, methodenkritisch und systematisch. Dabei soll auch die gerade im deutschen Verständnis dominante Gleichsetzung von Verfassungsgericht und Verfassungsgerichtsbarkeit infrage gestellt werden, die sich – etwa im Unterschied zu den USA („Supreme Court-Modell“) – hierzulande aus der starken Ausdifferenzierung der Gerichtszweige und einem separat institutionalisierten Bundesverfassungsgericht („Kelsen-Modell“) ergeben habe. Sie verstelle den Blick darauf, dass zum Beispiel auch Verwaltungsgerichte oder der Bundesgerichtshof (BGH) verfassungsgerichtliche Funktionen ausübten. Vergleichsbasis bilden in historischer Perspektive vor allem die USA; ansonsten geht die Untersuchung über die Bandbreite der EU-Staaten, sodass alte und junge Demokratien, präsidentielle und parlamentarische, föderale und zentralstaatliche Regierungssysteme, zentrale und dezentrale Verfassungsgerichtsbarkeit sowie Common-Law- und Civil-Law-Länder verglichen werden.

In der Analyse der Methoden der vergleichenden Forschung stellt Glatzmeier vor allem bei der Frage nach der Stärke von Verfassungsgerichten große Uneinheitlichkeit fest. Hier stünden qualitative und quantitative Zugänge lose nebeneinander, würden mal Verfassungsgerichte, mal Verfassungsgerichtsbarkeit untersucht, „herrscht Uneinigkeit darüber, welche Indikatoren Auskunft über den Sachverhalt geben können“ (283) und schließlich auch, wie „Stärke“ von Verfassungsgerichten zu messen sei. Dieser Teil der Arbeit ist mit ca. 150 Seiten zu detailliert; auch insgesamt gerät sie, wie viele neuere Qualifikationsschriften, zu lang. Die Kritik richtet sich aber eher an die Betreuer*innen, die nicht vermittelt haben, dass eine solche politikwissenschaftliche These auf 200 bis 300 Seiten dargestellt werden können muss.

Glatzmeier kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Stärke einer Verfassungsgerichtsbarkeit mit empirisch-quantitativen Methoden des „Messens“ (zum Beispiel Häufigkeit jeweiliger Klageverfahren), wie sie in sozialwissenschaftlichen Ansätzen verbreitet sind, kaum erfassen lässt. – Ergänzend ließe sich noch gegen rein quantitative Forschungszugänge anführen, dass man bei der Bestimmung der Macht von Verfassungsgerichten überhaupt zwischen „wichtigen“ Entscheidungen („leading cases“) und „unwichtigen“ (Routine-)Verfahren zu unterscheiden hat. – Auch bestehe „bezüglich der potenziellen Rolle im politischen System kein systematischer Unterschied zwischen den beiden Organisationsformen“ (510). Zur Verbesserung der Vergleichbarkeit in unterschiedlichen politischen Systemen und Rechtstraditionen schlägt er zudem vor, den Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit am Verfahrensgegenstand zu definieren. Das bedeute, dass jede Gerichtstätigkeit einbezogen werden müsste, sobald sie verfassungsrechtliche Fragen tangierte, also beispielsweise auch ein deutsches Verwaltungsgerichtsverfahren, wenn es etwa um die Versammlungsfreiheit ginge. Selbst wenn man sich zumeist auf Verfassungsgerichte und sonstige oberste Gerichtshöfe beschränken könne, eröffne dies die Einbeziehung solch „heterotoper“ Verfassungsgerichtsbarkeit (512) sowie die der bisher von der Forschung ausgeblendeten Teilverfassungsgerichtsbarkeiten zum Beispiel in Ländern wie Großbritannien oder den Niederlanden – eben sobald überhaupt Gerichte in einem Politikfeld mit Verfassungsbezug agierten.

Mithilfe des vergleichenden Fallbeispiels „Die Rolle der Gerichte bei der Emanzipation von Transpersonen“ (420) in Deutschland, GB und USA ergibt sich daher insgesamt: „Welche Rolle Gerichte [...] konkret einnehmen, lässt sich primär qualitativ bestimmen, indem durch Urteilsanalyse die politische Dimension der Beteiligung der Gerichte an der Rechtsentwicklung nachvollzogen wird“ (514). Diese Feststellung trifft Glatzmeier zu Recht und ihr ist (fast) nichts hinzuzufügen – außer: Eine breitere Forschung zur Macht von Verfassungsgerichtsbarkeit setzt allerdings auch die in Studiengängen der Politikwissenschaft viel zu selten vermittelten sicheren Kenntnisse des Verfassungsrechts und staatsrechtlicher Theorien voraus. Denn das Bundesverfassungsgericht etwa nimmt gerade als „maßstabsetzende Gewalt“ (Oliver Lepsius) politischen Einfluss im Sinne einer „Deutungsmacht“ (Hans Vorländer). Und umgekehrt müssten sich die Rechtswissenschaften endlich vom Mythos des unpolitischen Rechts lösen, der laufend von Juristen*innen bis hinauf zum Verfassungsgericht selbst reproduziert wird, und gegen den schon der „reine“ Rechtspositivist und Demokrat Hans Kelsen in seiner Kontroverse mit Carl Schmitt um den „Hüter der Verfassung“ angekämpft hatte.

 

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