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Gabrielle Lynch / Peter Von Doepp (Hrsg.): Handbook of Democratization in Africa

03.11.2020
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Autorenprofil
Dr. Danny Schindler
London, Routledge 2019

Handbuch der Demokratisierung Afrikas. Demokratie und Entwicklung

Der von Gabrielle Lynch und Peter VonDoepp herausgegebene Sammelband vereint Aufsätze zu einem Kernthema der Politikwissenschaft, ausgerichtet auf einen akademisch leider immer noch nicht angemessen beforschten Bereich: die Demokratisierung politischer Systeme auf dem afrikanischen Kontinent. Das Buch besticht dabei zunächst durch seine Breite: Neben der Einleitung finden sich 32 inhaltliche Beiträge, die in sechs thematischen Sektionen organisiert sind.

Übergreifend lässt sich festhalten, dass alle Kapitel einen lehrreichen Überblick über das jeweilige Thema bieten, indem sie grundlegende Erkenntnisse ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse referieren und zugleich anhand der aufgeführten Literatur Hinweise für die weiterführende Lektüre enthalten. Bemerkbar macht sich insofern auch, dass etliche Beiträge von den führenden Größen auf ihrem Gebiet verfasst worden sind. Die Namen reichen von Nic Cheesman über Peter M. Lewis, Staffan I. Lindberg, Robert Mattes, Andreas Mehler, Alexander Stroh bis Nicolas van de Walle. Dass es sich meist um eine Darstellung des Forschungsstands und keine „neu“ durchgeführten Studien handelt (eine Ausnahme stellt etwa der Beitrag von Rachel Sigman und Staffan I. Lindberg dar), liegt im Design des Buches begründet, das eben ein Handbuch darstellt. Mit Blick auf die methodischen Herangehensweisen werden sowohl vergleichende Studien mit großer und kleiner Fallzahl verwendet als auch Fallstudien-Daten zu einzelnen Ländern herangezogen.

Eine Einzelrezension kann der vielfältigen und reichhaltigen Zusammenstellung des Sammelbandes gewiss nicht vollständig gerecht werden. Sie kann aber eine Gesamtschau bieten, in der auf ausgewählte Einzelbeiträge detaillierter eingegangen wird. Bereits im Einleitungskapitel machen die Herausgeber*innen deutlich, dass die lange Zeit dominierende abstrakte Fragestellung, ob der wissenschaftliche Blick auf Afrika Anlass für mehr Optimismus oder mehr Pessimismus biete, heute von Fragen der Komplexität, Diversität und Differenzierung verdrängt wurde. Das Wort „komplex“ taucht allein in der Einleitung 17 Mal auf. Richtigerweise wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass es einer größeren Anzahl an Studien aus Afrika beziehungsweise von dort tätigen Wissenschaftler*innen bedarf. Und dies nicht nur, weil der bessere Datenzugang dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zuträglich ist. Auch dem Verdacht und den Folgen eines westlichen Forschungsbias könnte dann wirksamer begegnet werden.

Die erste Sektion „The politics and paths of regime development” umfasst fünf Einzelbeiträge. Rachel Sigman und Staffan I. Lindberg beleuchten zunächst das weit verbreitete, viel beforschte und in seinen Wirkungen immer noch politikprägende Phänomen des Neopatrimonalismus. Die Basis ihrer Analyse ist ein multidimensionaler Index mit drei weiter ausdifferenzierten Hauptdimensionen (Klientelismus, machtvolle Präsidenten, Regime-Korruption), für die empirische Daten aus dem Varieties of Democracy-Project (V-Dem) herangezogen werden. Anhand dieser Daten, die grafisch übersichtlich auch in Abbildungen aufbereitet werden, kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Afrika nicht mehr als andere Weltregionen mit Entwicklungsländern von neopatrimonialistischen Tendenzen betroffen und hier im Zeitverlauf auch keine Zunahme zu konstatieren ist. Zudem existiert auch innerhalb des Kontinents eine große Variationsbreite, etwa zwischen Südafrika und Botswana auf der einen und den stärker betroffenen Ländern Burundi und Eritrea auf der anderen Seite. Besonders aufschlussreich ist der letzte Teil ihrer Studie, in dem der Einfluss neopatrimonialistischer Strukturen auf die demokratische Stabilität (democracic survival) im Rahmen multivariater Analysen überprüft wird. Demnach ist zwar ein negativer Demokratie-Effekt erkennbar, der aber vor allem auf dem zweiten Hauptindikator (Präsidentialismus) beruht, während Klientelismus und Regimekorruption keinen konsistenten negativen Einfluss mit sich bringen. Das überrascht. In der Summe halten die Autoren fest, dass das Phänomen des Neopatrimonialismus nicht als eindeutiges Hindernis für eine demokratische Entwicklung betrachtet werden kann, seine Auswirkungen vielmehr von weiteren Einflussfaktoren abhängen.

Der quantitativ angelegten Studie von Sigman und Lindberg folgt ein eher konzeptioneller Beitrag von Nic Cheeseman. Dem Titel „Pathways to democracy“ folgend unterscheidet er mögliche Transitionspfade und deren Auswirkungen. Vereinfacht gesagt: Dort, wo der ökonomische Niedergang nach den globalen geopolitischen Umbrüchen 1990 besonders groß war sowie kraftvolle zivilgesellschaftliche und oppositionelle Akteure existierten, führte der Druck zu Reformprozessen „von unten“, durch die die Amtsinhaber ersetzt und politische Strukturen neugestaltet wurden – mit einer demokratieförderlichen Wirkung insgesamt. Umgekehrt gilt: Eine ökonomisch weniger drastische Situation und eine schwache beziehungsweise fragmentierte Opposition zogen ein Minimum an Reformen „von oben“ nach sich, die keine vergleichbaren Voraussetzungen für eine nachhaltige demokratische Entwicklung schufen. Zwischen diesen beiden Varianten existiert das Gros an Fällen, in denen weder die regierende Elite noch prodemokratische Kräfte die Oberhand hatten. Hier war dann von Bedeutung, wie diese Pattsituation aufgelöst wurde: durch innenpolitischen oder außenpolitischen Druck, der zu Wahlen führte, durch vielleicht sogar extern (seitens der internationalen Gemeinschaft) gemanagte Wahlen, oder durch einen zwischen Regierung und Opposition verhandelten Kompromiss. Cheeseman unterzieht die Annahmen zur Reform „von unten“ und „von oben“ einem neuerlichen Empirietest und sieht sie auch anhand der näher dargelegten Einzelbeispiele weitgehend bestätigt. Dies bezeugt auch den heuristischen Wert des historischen Institutionalismus, dessen prominentestes Konzept, das der Pfadabhängigkeit, auch hier zum Tragen kommt: Die unterschiedlichen Prozesse der Legalisierung politischer Opposition in den 1990er-Jahren können demnach als prägende Weichenstellung (critical juncture) betrachtet werden. Zugleich verweist Cheeseman aber auch darauf, dass posttransitorische Schocks politischer oder wirtschaftlicher Natur und insbesondere das Wechselverhältnis informeller und formaler Normen wichtige Einflussfaktoren jenseits des aufgezeigten Modells sind.

Überaus gewinnbringend ist auch die Lektüre des Beitrags „Post-conflict democratization and power-sharing” von Andreas Mehler, der aufzeigt, dass Arrangements der Machtteilung nachteilige und in dieser Hinsicht sogar friedensgefährdende Effekte mit sich bringen können. Komplettiert wird die erste Sektion durch Beiträge von Tessa Devereaux Evans und Nicolas van de Walle zum Verhältnis von Demokratisierung und Entwicklungshilfe sowie von Cyril Obi zum Einfluss der in einem Land vorkommenden natürlichen Ressourcen.

Die zweite Sektion („Institutional dynamics“) richtet das Augenmerk gezielt auf institutionelle Strukturen und institutionalisierte Akteure. Mit der Bedeutung föderaler Strukturen und ihren Folgen beschäftigt sich beispielsweise der Auftaktbeitrag von Mai Hassan. Die Autorin arbeitet klar heraus, dass die „Versprechen der Dezentralisierung“ oft unerfüllt bleiben. Den Zielen, ethnische Spannungen zu mindern und Demokratisierung durch eine näher an den Menschen angesiedelte Politik zu bewirken, stehen oft Führungsakteure entgegen, die Dezentralisierungsreformen halbherzig um- oder danach zur Re-Zentralisierung ihrer Macht auf anderen Wegen ansetzen. Gerade in ethnisch gespaltenen Staaten, in Afrika ein verbreitetes Phänomen, können damit auch eine stärkere Ethnisierung der Politik und die Beförderung von Sezessionsbestrebungen einhergehen. Die aktuelle Entwicklung in Äthiopien kommt einem hier zwangsläufig in den Sinn.

Den wachsenden Beitrag formaler Regeln für Demokratisierungsprozesse stellt Boniface Dulani in seinem Beitrag zum Kampf um präsidentielle Amtszeitbeschränkungen heraus. Thematisch breiter untersucht Landry Signé die Stellung der Exekutive im Spiel horizontaler Gewaltenteilung gegenüber Parlament und Judikative. Dies geschieht fallstudienartig anhand der Länder Benin, Ghana, Liberia und Malawi. An dieser Stelle finden sich auch Beispiele für die mangelnde Wirksamkeit formaler Normen, wenn etwa das beninische Parlament die in der eigenen Geschäftsordnung kodifizierten Rechte nicht nutzt. In einem besonders informativen Beitrag setzt sich Ken Ochieng’ Opalo gezielt mit der Institutionalisierung der Parlamente auseinander. Er zeigt, welche Bedeutung die jeweiligen kolonialen Erfahrungen mit parlamentarischen Körperschaften (die zunächst der Repräsentation europäischer Zuwanderer sowie von Handelsinteressen dienten) sowie die postkoloniale Entwicklung (die durch überstarke Exekutiven gekennzeichnet ist) auf den institutionellen Status haben. So hängt das Alter der kolonialen Parlamente beispielsweise positiv mit dem postkolonialen Demokratielevel und negativ mit der Wahrscheinlichkeit militärischer Coups zusammen – vermutlich, weil langjährige Erfahrungen eine relativ stabile institutionelle Umgebung für Eliten-Verhandlungen schufen. Ohne ein Augenmerk auf jene evolutionären Prozesse kann die heutige Situation nicht vollständig verstanden werden. Auch die parlamentarischen Veränderungsprozesse seit der Legalisierung von Mehrparteiensystemen Anfang der 1990er-Jahre werden nachgezeichnet und ein positiver Zusammenhang zwischen der (heutigen) Parlamentsmacht und der Dauer kolonialer Parlamentserfahrungen aufgedeckt.

Mit Blick auf die Judikative zeigt auch Rachel Ellett, dass „historische Fußabdrücke“ weiterwirken und formal gestärkte Gerichte ihre tradierte Rolle als untergeordnete Institutionen erst überwinden müssen, Strukturen allein also nicht automatisch eine Demokratisierung bewirken. In den weiteren Beiträgen thematisiert werden die Rolle des Militärs (Kristen A. Harkness) und der mit der Wahlvorbereitung und -durchführung betrauten Organisationen (Mamoudou Gazibo).

Die dritte Sektion ist mit dem Titel „Political mobilization and voting dynamics“ überschrieben. Sie versammelt Beiträge, die thematisch stärker miteinander verbunden sind und gut zusammen gelesen werden können. Die Studie von James D. Long zu den Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens kommt hier etwa zu dem Schluss, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie und Performanzfragen beziehungsweise Policy-Positionen sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern interagieren (etwa, weil Letztere durch eine „ethnische Linse“ gesehen werden). Ambivalenzen treten auch insofern auf, als politische Akteure gemischte, das heißt inkonsistente Signale aussenden, sei es durch die bewusste Rekrutierung deskriptiv repräsentativer Kandidat*innen oder schlicht durch die eigenen (angeheirateten) Familienbeziehungen. Es folgt ein Kapitel von Jorge Gallego und Leonard Wantchekon zum Thema Klientelismus, in dem unter anderem für eine differenzierte Betrachtung seiner verschiedenen Formen und weniger Fokussierung auf das Phänomen des Stimmenkaufs bei Wahlen plädiert wird. Anschlussfähig ist hier auch der Beitrag von Eric Kramon zu Wahlkampagnen beziehungsweise Kampagnenstrategien, der unter anderem auf Unterschiede in der Ansprache von Wähler*nnen zwischen Oppositions- und Regierungsparteien verweist. Er legt überdies dar, dass in den meisten afrikanischen Ländern mindestens ein Drittel der Bevölkerung elektorale Gewalt befürchtet. Letztere wird von Dorina A. Bekoe und Stephanie M. Burchard als eigenständiges Thema beleuchtet. Die Autor*innen warten unter anderem mit den nicht sonderlich überraschenden Befunden auf, dass Gewalt vor Wahlen eher auftritt als danach und häufiger von der Seite der Amtsinhaber ausgeht.

Auf die Bedeutung oppositioneller Wahlbündnisse, die zwischen 2012 und 2018 beispielsweise bei jeder zweiten Parlamentswahl antraten, geht Nicole Beardsworth, ein. Diese steigern die Chancen auf einen Regierungswechsel deutlich; aber auch im genannten Zeitraum trat ein solcher nur in einem Vierteil der relevanten Fälle ein. Von Samuel Huntingtons Test eines „zweifachen Regierungswechsels“ als Anzeichen einer konsolidierten Demokratie sind viele Staaten insofern noch weit entfernt. Die Autorin weist auf etliche gegensätzliche Forschungsbefunde hin, etwa zum Einfluss des Wahlsystems oder der ethnischen Fragmentierung des Parteiensystems.

In dem wohl lesenswertesten Beitrag in Sektion 3 beleuchtet Alexander Stroh die Rolle von Parteien und Parteiensystemen im (ausbleibenden) Demokratisierungsprozess. Bemängelt wird unter anderem, dass in der Parteienforschung „ethnische Narrative“ eine (zu) große Rolle spielen, während Ideologie und inhaltliche Politikpositionen eher vernachlässigt werden. Mit Blick auf Parteiensysteme wird unter anderem dargelegt, dass auch von deren relativer Flexibilität eine demokratieförderliche Wirkung ausgehen kann, wie etwa das Beispiel Benins zeigt. Die Instabilität eines Parteiensystems kann demokratische Dynamiken widerspiegeln und auch vor einer zementieren („überinstitutionalisierten“) Spaltung entlang ethnischer Linien hüten. Inwiefern der Institutionalisierungsgrad des Parteiensystems und der Demokratisierungsgrad eines Regimes zusammenhängen, bedarf jedenfalls weiterer Erforschung, die auch auf der Basis kontextualisierender (Längsschnitt-)Studien zu einzelnen Ländern erfolgen sollte.

In der vierten Sektion „The politics of identity“ wird zunächst die historische und aktuelle Rolle christlicher Kirchen (Amy S. Patterson) und die komplexe, vielfacettige Rolle des Islams (Brandon Kendhammer) behandelt. Anschließend zeigen Martha C. Johnson and Melanie L. Phillips die Hindernisse für eine bessere deskriptive Repräsentation von Frauen in politischen Ämtern auf, zu denen geschlechtsstereotypische Einstellungen ebenso gehören wie Bildungs- und Einkommensunterschiede.

Dominika Koter zeichnet sich verantwortlich für das Folgekapitel „Ethnic Politics“. Die Salienz ethnischer Politik ergibt sich demnach aus einem Mangel an anderen politischen Mobilisierungsstrategien (insbesondere aus geografischen beziehungsweise infrastrukturellen Gründen in relativ wenig erschlossenen ländlichen Regionen). Hier berührt sich der Beitrag mit Strohs Plädoyer, die Rolle ideologischer und programmatischer Debatten näher zu untersuchen. In einem Kontext knapper Informationen erfolgt ethnisches Wahlverhalten nicht nur aus expressiven, sondern auch aus instrumentellen Gründen, weil man sich politische Vorteile für die eigene Gruppe erhofft. Der Anspruch auf Bevorteilung und die Sorge vor Übervorteilung werden dabei auch von politischen Akteuren selbst erzeugt, die beispielsweise die politische Konkurrenz mit entsprechenden Zuschreibungen zu delegitimieren versuchen. Die ethnische Karte kann jedenfalls als kostengünstige elektorale Strategie gezogen werden. Auch die Rolle kolonialer Erfahrungen bei der Politisierung ethnischer Identitäten darf dabei natürlich nicht unerwähnt bleiben, die aber im Zusammenspiel mit institutionellen Faktoren, etwa dem Wahlsystem, zum Tragen kommt. Abschließend geht die Autorin auch auf innerkontinentale Variationen im Ausmaß ethnischer Mobilisierung ein. Diese lassen sich unter anderem mit der demografischen Struktur begründen: In vielen Ländern stellt keine Gruppe die Mehrheit, sodass auch andere Bevölkerungsteile angesprochen werden müssen. Multiethnische Koalitionen müssen seitens der führenden (Oppositions-)Politiker auch angestrebt werden, um einen besseren Zugang zu finanziellen Ressourcen etwa für den Wahlkampf zu erreichen. Spannend bleibt laut Koter die weitere Entwicklung angesichts rapiden gesellschaftlichen Wandels in etlichen afrikanischen Staaten. Eine fortschreitende Urbanisierung könnte die Bedeutung ethnischer Politikmuster beispielsweise verringern.

Anschlussfähig an diesen Ausblick ist auch das Abschlusskapitel der Sektion zu generationellen Dynamiken und der politischen Rolle der Jugend (Ransford Edward Van Gyampo). Es fördert unter anderem zutage, dass die Verbindungen von Studentenorganisationen zu politischen Parteien demokratisches Engagement befördern, Jugendliche aber auch als konfliktverschärfende Agenten auftreten beziehungsweise instrumentalisiert werden können.

In der Sektion 5 „Social forces from below” ist der Beitrag zu öffentlicher Meinung und demokratischer Legitimation (Robert Mattes) besonders erhellend. Danach wird die Demokratie als Herrschaftsstruktur im Allgemeinen klar unterstützt, wobei allerdings auch große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern existieren. Wichtiger ist aber, dass die Nachfrage nach Demokratie im Urteil der Bevölkerungen nicht mit dem Angebot übereinstimmt. Im Detail verweist der Autor unter anderem darauf, dass Länder mit einem größeren Anteil „unzufriedener Demokraten“ mit größerer Wahrscheinlichkeit einem demokratischen Rückbau (democratic backsliding) ausgesetzt sind. Die Demokratisierung eines Staates hängt gewiss von weit mehr ab als Bevölkerungseinstellungen; zu vernachlässigen sind diese aber eben auch nicht. Neben einem eigenen Kapitel zur Zivilgesellschaft (Peter VonDoepp) und zum Einfluss digitaler Medien (Wisdom J. Tettey) wird auch den Auswirkungen von Urbanisierungstrends (Danielle Resnick) nachgegangen. Überaus lohnenswert ist die Lektüre des Kapitels „Popular protest and accountability“ (Lisa Mueller). Auf die Frage, ob Bevölkerungsproteste eine Ersatzfunktion für mangelnde oder unzulänglich genutzte institutionelle Kontrollmechanismen sein können, gibt die Autorin eine vorsichtig optimistische Antwort. Auch wenn das Gros der Protestierenden nicht in erster Linie vom Demokratiegedanken angetrieben wird, so fordert es doch faktisch demokratische Verantwortlichkeit ein. Empirisch ist seit 2011 ein starker Anstieg solcher, zum Teil gewaltsamer Mobilisierungen zu erkennen, der wohl auch im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Kommunikationstechnologien steht und zudem durch eine stärkere Beteiligung armer Bevölkerungsschichten geprägt ist.

In der sechsten und letzten Sektion zu den „consequences of democracy“ werden einerseits Themen aufgeführt, die bislang in der breiten wissenschaftlichen Debatte – zu Unrecht – keine Hauptrolle spielten. Dies gilt für die Kapitel zu sexuellen Minderheitenrechten (Kuukuwa Andam und Marc Epprecht) und zu Fragen der Staatsbürgerschaft (Sara Rich Dorman). Andererseits kommen mit den Ursachen, Formen und Folgen von Korruption (Dominic Burbidge und Mark Philp) und dem Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Entwicklung (Peter M. Lewis) zwei eher „altbekannte“ Themen zur notwendigen Aufmerksamkeit. Im letztgenannten Kapitel geht der Autor zunächst der wirtschaftlichen Entwicklung bis zum politischen Strukturwan-del der 1990er-Jahre nach. Dabei gingen die autoritäre Regierung und die schlechte wirtschaftliche Entwicklung eines Landes Hand in Hand, was die umgreifenden Proteste der notleidenden Bevölkerungen in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts mit verursachte. Die folgenden Dekaden relativer Demokratisierung schufen theoretisch und empirisch bessere Voraussetzungen für wirtschaftliche Prosperität (allein aufgrund des offeneren Informationsflusses als Basis sowohl für wirtschaftliche Entscheidungen als auch Wählerentscheidungen). Die Auswirkungen der strukturellen Anpassungsprogramme im Zeichen des „Washington Consensus“ waren bekanntermaßen nicht nur theoretisch umstritten, sondern auch in ihren Aus-wirkungen ambivalent. Liberalisierungen waren eben oftmals kein Heilmittel ange-sichts der vielerorts vorherrschenden schwachen Staatlichkeit. Von der ungleichen Verteilung der Früchte wirtschaftlichen Aufschwungs, den es ja durchaus in deutlichem Umfang gab, ganz zu schweigen. Die Kausalbeziehungen von Wirtschaftsentwicklung und Demokratisierung nachzuzeichnen, ist kein leichtes Unterfangen. Lewis‘ Aufarbeitung des Forschungsstandes im Lichte der Entwicklung Afrikas bietet aber einen guten Überblick, auch zur Komplexität der Materie. Zu Letzterer gehört etwa, dass makroökonomische Kenngrößen allein nicht immer aussagekräftig sind. Der im Grundsätzlichen eher als bestätigt angesehene positive Zusammenhang von Demokratie und Entwicklung wird nicht zuletzt durch illiberale Entwicklungsmodelle à la China verkompliziert. Unabhängig davon stehen die institutionellen Grundlagen wirt-schaftlichen Wohlergehens, etwa delegationstheoretisch unabhängige Finanzeinrichtungen oder Mindestgarantien für Eigentumsrechte, dabei aber außer Frage, wie auch Lewis betont.

In der Gesamtschau wird deutlich, dass einige Beiträge thematische Wiederholungen enthalten, die in einem Handbuch zu einer hochkomplexen Materie aber nicht zu vermeiden und bei einer Einzellektüre der Kapitel sogar wünschenswert sind. Vermisst werden hingegen Beiträge zur Rolle Chinas beziehungsweise zum autokratiefördernden Potenzial chinesischer Außenpolitik sowie zu verschiedenen Formen regionaler Integration in Afrika, die beispielsweise in einem älteren Sammelband zum Thema (Routledge Handbook of African Politics, hrsg. von Nic Cheeseman, David M. Anderson und Andrea Scheibler, London 2013) noch enthalten waren und mittlerweile sogar noch an Bedeutung gewonnen haben dürften. Gewünscht hätte man sich ferner eine Zusammenbindung der Artikel im Rahmen eines übergreifenden Schlusskapitels (wenngleich sie andeutungsweise im ersten Kapitel erfolgt). Auch wenn dies eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe darstellt, mit der zudem die Gefahr zu großer Vereinfachung einhergeht (wie die Herausgeber*innen im Einleitungskapitel zu Recht betonen), hätte eine solche Synthese geholfen, die letztlich doch sehr großen Zusammenhänge der Einzelthemen nochmal aufzuwerfen. Das schmälert den Wert des Buches aber nur geringfügig, das sich durch seine Dichte und Differenziertheit auszeichnet und dadurch auch als gutes Einführungswerk für an den konkreten Themenstellungen Interessierte taugt.

Nach der Lektüre verbleiben drei übergreifende Kernbefunde, die als solche aber nicht überraschen. Erstens bestätigt sich einmal mehr, dass der afrikanische Kontinent vor allem durch eines geprägt ist: Diversität. Zweitens durchzieht den gesamten Sammelband die Erkenntnis, dass es eine Sache ist, ein diktatorisches Regime zu beseitigen, eine andere aber, ein demokratisches System zu errichten und dauerhaft zu erhalten (das gilt umso mehr in einer Zeit, in der auch „westliche“ Modelldemokratien nicht immer als robust erscheinen). Gesamtwerk und Einzelbeiträge machen insofern auch die zum ersten Mal mit einer Materie befassten Leser*innen skeptisch gegenüber allerlei politischen Simplifikationen. Drittens bietet das Buch viele Anregungen und Impulse für die künftige Forschung. Legt man es beiseite, könnte man mit einem abgewandelten Brecht-Zitat sagen, „Vorhang zu und viele Fragen offen“. Das ist keinesfalls als Kritik zu verstehen. Den Forschungsstand präzise aufzuzeigen und daraus neue Untersuchungsfragen abzuleiten ist von nicht zu unterschätzendem Wert für die Wissenschaft. Insofern kann der Sammelband auch als überzeugende Rechtfertigung für vielfältige neue Forschungsprogramme dienen.

 

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Routledge Handbook of Democratization in Africa

London, Routledge 2019

Digirama

Nic Cheeseman
«Im Durchschnitt sind Demokratien deutlich erfolgreicher als Autokratien»
Neue Zürcher Zeitung, 30.November 2019

 

Johannes Dieterich
Wo die Demokratie in Afrika an ihre Grenzen stößt
Der Standard, 17. Februar 2019

 

Elena Gadjanova
Afrikas Demokratien im Niedergang
Max-Planck-Gesellschaft, 4. September 2018

 

Studie des Institute for Security Studies: Die Zukunft der Demokratie in Afrika
Hanns-Seidel-Stiftung, 16. März 2017


Aus der Annotierten Bibliografie


Hieronymus Geist

Togo zwischen Diktatur und Demokratie. Ein neuer Weg für den prekären Prozess der Demokratisierung in Afrika

Berlin: Lit 2009 (Kulturelle Identität und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaft 13); V, 178 S.; brosch., 24,90 €; ISBN 978-3-643-10135-8
Diss. Münster. – Am Beispiel Togos erörtert der Autor die Perspektiven einer Demokratie für Afrika. Er stellt zunächst die Geschichte des kleinen westafrikanischen Landes von der Missionierung und Kolonialisierung über den Kampf für Unabhängigkeit und die jahrzehntelange totalitäre Herrschaft Eyadémas bis zu den Auseinandersetzungen um die Einführung eines Mehrparteiensystems, der Präsidentschaftswahl von 1998 und dem Tod Eyadémas im Jahr 2005 dar. Deutlich wird, wie Eyadéma seine Herrscha...weiterlesen

 

Rainer Tetzlaff / Cord Jakobeit

Das nachkoloniale Afrika. Politik - Wirtschaft - Gesellschaft

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005 (Grundwissen Politik 35); 304 S.; brosch., 29,90 €; ISBN 3-8100-4095-9
Das Lehrbuch bietet einen gründlichen und hervorragend strukturierten Einstieg in die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen des modernen Afrikas. Ausgehend von einer kurzen Übersicht über die wichtigste Literatur und einem längeren, thematisch und begrifflich einführenden Kapitel beschäftigen sich die Autoren mit den historischen und geografischen Ursachen der mangelhaften Entwicklung in afrikanischen Staaten sowie mit sozialen Strukturen und Phänomenen (Rolle der Ge...weiterlesen

 

Dirk Berg-Schlosser / Norbert Kersting (Hrsg.)

Armut und Demokratie. Politische Partizipation und Interessenorganisierung der städtischen Armen in Afrika und Lateinamerika

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2000 (Studien zur Demokratieforschung 4); 331 S.; ISBN 3-593-36632-0
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