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Kishore Mahbubani: Has the West lost it? A provocation

23.05.2019
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
London, Penguin Books 2018

Hat der Westen verloren? Eine Provokation

Provokant ist es, in der Tat. Kishore Mahbubanis Buch ist eine intellektuelle Herausforderung an den Westen und zugleich ein Zeichen für ein wiedererstarktes Selbstbewusstsein politischer Eliten in Asien. In dem knapp einhundert Seiten langen Essay analysiert Singapurs ehemaliger UN-Botschafter aus der Perspektive eines asiatischen Beobachters die Krise des Westens und deren Folgen für die Welt insgesamt.

Zusammengefasst argumentiert der Autor, heute Professor für Politikwissenschaft an der Lee Kuan Yew School of Public Policy in Singapur, folgendermaßen: Der Westen habe sich strategisch überdehnt und die Welt werde multipolarer (gemeint ist: asiatischer). Das ‚siegreiche‘ Ende des Kalten Krieges habe den Westen überheblich werden lassen; anstatt sich um die zahlreichen eigenen Probleme zu kümmern, verrenne er sich in drei strategischen Fehlern.

  • Fehler Nummer eins: Der Umgang mit dem Islam. Der Westen würde diese Religion per se unterschätzen und die (von ihm selbst gezüchtete) Wurzel für Terrorismus nicht erkennen: einen jahrhundertelangen, geringschätzigen Umgang mit der Religion Mohammeds (44 f.).

  • Fehler Nummer zwei: Die Abkanzelung Russlands. Das sowieso schon verunsicherte Riesenreich sei nach dem Sturz des Kommunismus durch den Westen zusätzlich gedemütigt worden (47 f.), etwa durch seine verbale Herabstufung zur ‚Regionalmacht‘ (Barack Obama).

  • Fehler Nummer drei: Die Vernachlässigung Chinas und Afrikas. Amerika habe immer noch nicht begriffen, dass China seine strategische Priorität sei. Europa verstehe nicht, dass es sich auf Afrika konzentrieren sollte.

Von einer Abwendung vom Multilateralismus (Brexit, Trump) hält Mahbubani nichts, eher schwebt ihm eine moderne Interpretation der Welt des 19. Jahrhunderts vor – statt der Pax Americana eine Welt mit vielen Kraftzentren. Wer dabei „holder of the balance“ sein soll, bleibt sein Geheimnis. Offen ausgesprochen wird aber die Forderung, westliche Außenpolitik müsse minimalistischer, machiavellistischer und multipolarer werden. Vor allem müssten weltweite Demokratisierungsversuche ein Ende finden.

Damit sind wir beim Kern seiner Kritik am Westen. Denn die Ursache für die außenpolitischen Fehlentwicklungen und den Niedergang des Westens erkennt Mahbubani in der moralischen Überhöhung der westlichen Demokratie. Der Westen, so argumentiert er, irre in seinem Glauben, Demokratie sei die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum. Aber dieses Argument ist am Ende eine Chimäre, die bei der richtigen Gegenfrage sofort auch wieder verschwindet: Wer behauptet denn heute noch, dass ein linear-kausaler Zusammenhang zwischen Demokratie und Wirtschaftswachstum besteht? Die Geschichte der Demokratie im Westen ist doch das beste Beispiel dafür, dass der Zusammenhang so einfach nicht stimmt, ebenso die Fälle Japan, Taiwan oder Südkorea. Die Entwicklung von Demokratie und wirtschaftlichem Aufstieg gingen Schritt für Schritt entlang des Weges – auf manchmal verworrenen Pfaden und nicht selten mit Rückschlägen.

Heute bräuchten sich entwickelnde Länder, so Mahbubani, nicht Moral und Mitbestimmung, sondern Entwicklung. Diese gebe es nicht ohne politische Stabilität. Eine aufgeklärte, an der Entwicklung des Landes orientierte Regierung könne da viel besser sein als ein demokratisches System mit Regierungswechseln. Mahbubani spricht zur Untermauerung seiner Annahmen davon, dass in zahlreichen Ländern Asiens die bisherigen Diktaturen durch „accountable leader“ ersetzt worden seien. Die politischen Systeme Asiens seien zwar nicht perfekt, doch – Angriff ist die beste Verteidigung – dasselbe gelte für die westlichen Systeme. Deren hochgelobte demokratische Prozesse hätten nicht zu harmonischen Gesellschaften, sondern zu einer tiefen Polarisierung und „virtuellen Bürgerkriegen“ geführt (14 f.) Kurzum: Responsivität einer Regierung sei für die Welt grosso modo zunächst viel wichtiger als Demokratie. Wie Responsivität aber auf Dauer ohne demokratischen Druck erhalten werden kann, dazu schweigt er. Die westliche Lernerfahrung, dass Responsivität durch Verantwortlichkeit entsteht und diese langfristig ein Ergebnis von Demokratie ist, blendet er aus.

Glücklicherweise würden mehr und mehr Länder den asiatischen Beispielen folgen und eine zunehmend reiche Erde verspreche den Anbruch eines neuen Utopias, die ein im Pessimismus versinkender Westen gar nicht wahrnehme. Westliche Intellektuelle, so kritisiert Mahbubani, glaubten, die Welt befinde sich an der Schwelle eines dunklen Zeitalters: „This ignorance about the extraordinary progress made by billions on our planet is aggravated by the global supremecy of Western media, which dominate global news and infect the world with prevailing Western pessimism.“ (29)

Den Beleg für Mahbubanis These vom fast realisierten Utopia kann man auf einen Kernaspekt verdichten: das Wachstum der globalen Mittelschicht. Während vor einhundert Jahren die meisten Menschen noch in bitterer Armut lebten, zählen heute viel mehr Menschen zur Mittelschicht mit recht sicheren Lebensbedingungen. In der Tat: Dies wird im Westen oftmals unterschätzt. Ob Utopia aber die richtige Wortwahl darstellt? Knapp 800 Millionen Menschen auf der Welt hungern auch im Jahr 2019 noch und zwei Milliarden Menschen leiden an Mangelernährung. Auch wenn mancher es kaum glauben mag, heute sterben immer noch mehr Menschen an Hunger als an Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen. Da klingt Utopia nicht ganz zu Unrecht wie Spott in den Ohren.

Wie schon in seinem Buch „Die Rückkehr Asiens“ (2008) legt Mahbubani an vielen Stellen den Finger in die richtigen Wunden und fordert westliche Selbstgewissheiten heraus, ohne aber eine wirkliche Lösung anbieten zu können.

 

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Rezension

Die kurze Zeitspanne von etwa Mitte 2015 bis Ende 2017 steht im Mittelpunkt dieses Buches von Heinrich August Winkler. Damit rücken jüngere Ereignisse und Entwicklungen, die die krisenförmige Lage der westlichen Welt unterstreichen, in den Fokus seiner Beobachtungen. Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass Winkler, nah am Zeitgeschehen, sein Buchprojekt stetig erweitern musste, um eben jenen westlichen krisenhaften Zustand erfassen zu können, schreibt Rezensent Axel Gablik. Die Krisen, von denen der Autor schreibt, haben auch 2019 nichts von ihrer Schärfe verloren und Winklers Urteile seien weiterhin von Bestand.


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