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Kersten Lahl / Johannes Varwick: Sicherheitspolitik verstehen. Handlungsfelder, Kontroversen und Lösungsansätze

30.04.2019
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
Frankfurt a. M., Wochenschau Verlag 2019

Sicherheitspolitische Entscheidungen sind immer risikobehaftet, denn für diese gibt es weder naturgesetzliche Regeln noch eine alternativlose Logik. In der modernen Welt ist alles im Wandel und dies trifft auch auf die Sicherheitspolitik zu. Deren Akteure sehen sich mit einem zunehmend komplexer werdenden Umfeld und vielschichtigen neuen Konfliktpotenzialen konfrontiert.

Vor diesem Hintergrund diskutieren Kersten Lahl und Johannes Varwick die Schwächen und Stärken der Sicherheitspolitik, gehen auf konzeptionelle Grundlagen ein und erörtern künftige Handlungsstrategien.

Eingangs erwähnen die Autoren den enormen Einsatz an Kräften und Mitteln, am Beispiel Afghanistans, an dem sich die Grenzen sicherheitspolitischer Anstrengungen deutlich zeigen: Seit Beginn des Afghanistankrieges 2001 bis Mitte 2017 haben „3.400 ISAF- und OEF-Soldaten im Einsatz ihr Leben gelassen“ (29). Nach Meinung von Lahl und Varwick sei die These begründet, dass sich dennoch ein „durchgreifender Fortschritt am Hindukusch auf Dauer nicht realisieren“ (30) lasse.

Anschließend widmet sich die Autoren den veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen. So seien klassische zwischenstaatliche Kriege zu Randerscheinungen geworden. Zwischen 1917 und 1945 waren weniger als sechs Prozent der weltweit geführten Kriege zwischenstaatlich. Dies bedeute nicht, dass es keine zwischenstaatlichen Kriege gegeben habe oder in Zukunft geben werde. Die Autoren berichten, dass laut SIPRI im Jahr 2016 „von den 49 offenen Konflikten zwei zwischen Staaten (Indien-Pakistan und Eritrea-Äthiopien)“ (45) ausgetragen wurden. Es gebe einen neuen Kriegstypus, der „sowohl öffentliche als auch regionale und lokale Kriegsparteien als Akteure umfasst“ (44). Dieser Kriegstypus verbinde Momente des klassischen Krieges, des Bürgerkrieges, des organisierten Verbrechens und der planmäßig durchgeführten Verletzung der Menschenrechte.

Auch die Konfliktursachen seien vielfältiger geworden. Dazu gehörten Unabhängigkeitsbestrebungen von ethnischen Gruppen, ideologischer und religiöser Extremismus und Terrorismus sowie klassische Macht- und Regionalkonflikte. Außerdem können die Verknappung lebenswichtiger Ressourcen, soziale Ungleichheit und eine neue Form der globalen Apartheid politische terroristische Gewalt verursachen. Hinzugekommen seien Probleme wie hybride und Cyber-Kriegsführung. Für wahrscheinlich erachten die Wissenschaftler, dass „Kriege um den Zugriff auf begrenzte Rohstoffe“ (79) entstehen.

Eine Welt mit mehreren Polen sei entstanden, die chaotische Verhältnisse hervorgebracht habe. Dem Westen und den USA in ihrer Führungsrolle schreiben die Autoren ein Versagen zu. Sie seien nicht in der Lage, eine „neue globale Ordnungspolitik zur Bewältigung immer drängenderer Probleme“ (51) zu entwickeln. In der internationalen Sicherheitspolitik gebe es kein Machtvakuum, sondern lediglich „Machthohlräume“ (52), die von anderen gefüllt werden. Russland habe einen solchen Machthohlraum genutzt, um seinen Einfluss in Syrien zu stärken.

Die Autoren sprechen von einer wachsenden intellektuellen Erkenntnis, dass den zunehmend vernetzten globalen Problemen „nur mit einem staatenübergreifenden Ansatz“ (54) begegnet werden könne. Da kein internationales System existiere, das durch eine Machtordnung gekennzeichnet sei, müssten allgemein verbindliche Verhaltensregeln aufgestellt werden. Eine Supranationalisierung des Völkerrechts sei zwar „normativ wünschenswert“ (58), gehe aber an der politischen Realität vorbei. Eine zentrale Aussage des Werkes ist, dass zwischen der „[i]Innere[n] und äußere[n] Sicherheit [...] nicht mehr trennscharf“ (63) unterschieden werden könne.

Besonders zukunftsorientiert ist die Darlegung des Konzepts „responsibility to protect“ (75), der internationalen Schutzverpflichtung, die beim Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen zum Zuge kommen könne und zudem einen rechtlich moralischen Normenwandel vom Interventionsverbot zum Konzept der menschlichen Sicherheit begründe.

Die Völkergemeinschaft werde handlungsfähig, wenn beispielsweise im Fall von zerfallenden Staaten eine neue internationale Verantwortung zutage trete und nicht nur auf Reaktion, sondern auch auf Prävention und Wiederaufbau gesetzt werde. Von fragilen Staaten werden weiterhin Gefahren für die Völkergemeinschaft ausgehen können. Lahl und Varwick schlagen in Fällen fragiler Staaten, die von Zusammenbrüchen bedroht sind, drei Handlungsoptionen vor: einen direkten Ansatz einer humanitären Intervention, einen indirekten Ansatz, der beispielsweise eine materielle Unterstützung der „good guys“ (76) mit Geld und Waffen vorsehe sowie als dritte Option eine Verweigerungshaltung, die sich durch Nichtstun auszeichne. Die letzte Option könnte risikoreiche Folgen zeitigen, wie die Ausbreitung des Terrorismus und unkontrollierte Fluchtbewegungen. Nach Ansicht der Autoren setze sich gegenwärtig die Haltung durch, dass man bereit sei, „Diktaturen als das kleinere Übel zähneknirschend akzeptieren zu müssen“ (77).

Der Zusammenhang zwischen Migration und Sicherheitspolitik wird deutlich herausgearbeitet, dabei wird auf die klassischen Begriffe wie Push-Faktoren, Motive für die Flucht aus dem Herkunftsland, und Pull-Faktoren, Anreize die ein Zielland bietet, eingegangen. Sowohl Integrationsversuche als auch Migrationsabwehr, beispielsweise mithilfe der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX, werden als sich gegenseitig nicht ausschließende Strategien zur Lösung der Migration, deren Druck auf Europa zunehmen werde, betrachtet.

Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass es zwar vielversprechende Ansätze zur Bekämpfung von Armut und damit einer globalen Ungleichheit gebe, aber „sie greifen offenbar nicht überall“ (96). Armut schüre Konflikte, die wiederum Verteilungskämpfe, Bürgerkriege, Organisierte Kriminalität und Terrorismus sowie Wanderungsbewegungen fördern, um einige der aufgeführten Punkte zu nennen, die Probleme für die Sicherheitspolitik darstellen.

Der Cyberraum erweise sich als eine weitere Bedrohung. Die Kommunikationssysteme seien „das zentrale Nervensystem der Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ (106). Die Realität des Cyberraums habe faktisch auch die Thesen Carl von Clausewitz‘ widerlegt, denn im Cyberraum besitze nicht der Verteidiger, sondern der Angreifer entscheidende Vorteile gegenüber den anderen. Die Autoren gehen auf verschiedene Optionen einer Cyberabschreckung ein: Androhung von Strafe, Sicherheit durch Resilienz, internationale Verflechtung und Bindung sowie internationale Normensetzung. Aber diese verschiedenen Maßnahmen würden als Einzelstrategie keinen präventiven Schutz garantieren. Daher sei ein „Mix“ (111) aus den genannten Ansätzen nötig, damit der Abschreckungseffekt zur Geltung komme.

Es existierten heute vielfältige und komplexe Risiken, die einen sicherheitspolitischen Handlungsbedarf für Deutschland hervorrufen, betonen die Wissenschaftler. Die Treiber für Gefahren und Unsicherheit haben in den letzten Jahren an Brisanz gewonnen und die Interdependenz wächst: „Es zeigt sich zudem immer deutlicher die Interdependenz in einer ‚globalisierten Welt‘, in der es keine abgeschotteten ‚Komfortzonen‘ und keine Felder mehr gibt, in denen die ‚Probleme der anderen‘ weitgehend ignoriert werden können.“ (191) Die sicherheitspolitischen Experten empfehlen, dass der Kern der internationalen sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands vor allem auf seine stabilisierende Funktion in Europa limitiert bleiben sollte.

 

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